Verfahrensgang
Thüringer OLG (Entscheidung vom 25.05.2022; Aktenzeichen 2 U 676/21) |
LG Gera (Entscheidung vom 01.07.2021; Aktenzeichen 2 O 38/17) |
Tenor
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin wird das Urteil des 2. Zivilsenats des Thüringer Oberlandesgerichts in Jena vom 25. Mai 2022 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Streitwert der Nichtzulassungsbeschwerde wird auf 28.975,98 € festgesetzt.
Gründe
Rz. 1
I. Die Klägerin beauftragte den beklagten Umzugsunternehmer im November 2012 mit der Durchführung eines privaten Umzugs. Da der Grund für den Umzug entfiel, vereinbarten die Parteien eine Einlagerung der Hausratsgegenstände der Klägerin durch den Beklagten. Während eines Hochwassers am 3. und 4. Juni 2013 wurden sämtliche für die Klägerin eingelagerten Gegenstände überflutet. Mit Schreiben vom 16. August 2013 machte die Klägerin erstmals gegenüber dem Beklagten Ersatz des ihr dadurch entstandenen Schadens geltend.
Rz. 2
Der am 28. Juni 2014 eingereichte Antrag der Klägerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist vor dem Landgericht ohne Erfolg geblieben. Die dagegen erhobene sofortige Beschwerde hat das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 23. Juni 2015 mit der Begründung zurückgewiesen, dass der Schadensersatzanspruch entgegen der Ansicht des Landgerichts zwar nicht verjährt, ein Schaden aber nicht hinreichend dargelegt worden sei. Der am 2. Januar 2017 erhobenen Klage hat das Landgericht teilweise stattgegeben und der Klägerin einen Anspruch auf Schadensersatz wegen der Verletzung der Pflichten aus einem zwischen den Parteien zustande gekommenen Lagervertrag zugesprochen. Eine Verjährung nach § 439 HGB sei nicht eingetreten; insbesondere richte sich die Verjährung nicht nach transportrechtlichen Vorschriften. Auf die Berufung des Beklagten hat das Berufungsgericht das landgerichtliche Urteil abgeändert und die Klage abgewiesen.
Rz. 3
II. Das Berufungsgericht hat angenommen, ein etwaiger Anspruch der Klägerin auf Schadensersatz sei verjährt. Zwischen den Parteien sei ein Lagervertrag geschlossen worden. Der auf dieser Grundlage eingelagerte Hausrat der Klägerin sei durch die Überflutung teilweise zerstört worden, wofür der Lagerhalter grundsätzlich gemäß § 475 HGB einzustehen habe. Nach § 475a in Verbindung mit § 439 Abs. 1 Satz 1 HGB verjährten Schadensersatzansprüche gegen den Lagerhalter in einem Jahr. Die Verjährung beginne im Fall des teilweisen Verlusts gemäß § 439 Abs. 2 Satz 1 HGB in Verbindung mit § 187 Abs. 1 BGB mit dem Ablauf des Tages, an dem die Ablieferung stattgefunden habe. Maßgeblich sei der Zeitpunkt, zu dem der Beklagte die Obhut über das Gut mit ausdrücklicher oder stillschweigender Einwilligung der Klägerin aufgegeben und diese in die Lage versetzt habe, die tatsächliche Gewalt darüber auszuüben. Wann konkret die Rückgabe erfolgt sei, hätten die Parteien nicht vorgetragen. Mit Schriftsatz vom 16. August 2013 habe die Klägerin ihre Schadensersatzansprüche gegenüber dem Beklagten beziffert, so dass davon auszugehen sei, dass sie spätestens an diesem Tag in der Lage gewesen sei, die tatsächliche Gewalt über das Gut auszuüben. Verjährungsbeginn sei damit spätestens der Ablauf des 16. August 2013. Durch Einreichung des erstmaligen PKH-Antrags der Klägerin am 11. August 2014 sei die Verjährung gehemmt worden. Geendet habe die Hemmung gemäß § 204 Abs. 2 BGB sechs Monate nach Verkündung des Beschlusses des Oberlandesgerichts vom 23. Juni 2015, mit dem die sofortige Beschwerde der Klägerin gegen die Versagung der Prozesskostenhilfe zurückgewiesen worden sei. Da die Restverjährung danach nur noch 5 Tage betragen habe, sei der Schadensersatzanspruch bei Eingang der Klageschrift am 2. Januar 2017 bereits verjährt gewesen.
Rz. 4
Das Berufungsgericht hat die Revision nicht zugelassen. Hiergegen wendet sich die Beschwerde der Klägerin. Mit der angestrebten Revision möchte sie ihr Klagebegehren gegenüber dem Beklagten weiterverfolgen.
Rz. 5
III. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg. Sie führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt mit Recht, das Berufungsgericht habe das Verfahrensgrundrecht der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise verletzt.
Rz. 6
1. Das Gebot des rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Damit in engem Zusammenhang steht das ebenfalls aus Art. 103 Abs. 1 GG folgende Verbot von Überraschungsentscheidungen. Eine unzulässige Überraschungsentscheidung ist anzunehmen, wenn sich ein Gericht ohne vorherigen Hinweis auf einen Gesichtspunkt stützt, mit dem auch gewissenhafte und kundige Prozessbeteiligte nicht zu rechnen brauchten (st. Rspr.; vgl. BVerfG, FamRZ 2022, 1954 [juris Rn. 23] mwN; BGH, Beschluss vom 27. Oktober 2022 - I ZR 53/22, juris Rn. 16). Hiervon kann unter anderem dann auszugehen sein, wenn ein Gericht in einem früher zwischen den Parteien geführten Rechtsstreit eine bestimmte Rechtsauffassung vertreten hat und eine Partei in einem weiteren zwischen den Parteien geführten Rechtsstreit, für das Gericht erkennbar, davon ausgeht, dass das Gericht auch in diesem Verfahren keine abweichende Auffassung vertreten werde (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Dezember 2019 - II ZR 451/18, WM 2020, 277 [juris Rn. 7]).
Rz. 7
Ein danach erforderlicher Hinweis ist nach § 139 Abs. 4 Satz 1 ZPO so früh wie möglich zu erteilen, das heißt so rechtzeitig, dass darauf noch vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung reagiert werden kann. Erteilt das Gericht entgegen § 139 Abs. 4 Satz 1 ZPO den Hinweis erst in der mündlichen Verhandlung, muss es der betroffenen Partei genügend Gelegenheit zur Reaktion hierauf geben. Kann eine sofortige Äußerung nach den konkreten Umständen nicht erwartet werden, darf die mündliche Verhandlung nicht ohne weiteres geschlossen werden. Vielmehr muss das Gericht die mündliche Verhandlung dann vertagen, soweit dies im Einzelfall sachgerecht erscheint, ins schriftliche Verfahren übergehen oder, wenn von der betroffenen Partei nach § 139 Abs. 5 ZPO beantragt, einen Schriftsatznachlass gewähren. Die mündliche Verhandlung darf in dieser Situation auch dann nicht geschlossen werden, wenn die Partei einen Antrag nach § 139 Abs. 5 ZPO nicht stellt (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 18. September 2006 - II ZR 10/05, NJW-RR 2007, 412 [juris Rn. 4]; Urteil vom 27. September 2013 - V ZR 43/12, MDR 2014, 47 [juris Rn. 15]; Beschluss vom 12. Januar 2022 - XII ZR 26/21, ZInsO 2022, 963 [juris Rn. 10]). Diese Vorschrift soll der Partei eine Option eröffnen, aber nicht ihren Anspruch auf rechtliches Gehör verkürzen (BGH, MDR 2014, 47 [juris Rn. 15]).
Rz. 8
2. Nach diesen Maßstäben hat das Berufungsgericht Art. 103 Abs. 1 GG verletzt.
Rz. 9
a) Zur Begründung seiner Entscheidung über die Zurückweisung der Beschwerde gegen die Nichtbewilligung der von der Klägerin beantragten Prozesskostenhilfe hat das Berufungsgericht im Wesentlichen ausgeführt, der Schadensersatzanspruch sei zwar entgegen der Ansicht des Landgerichts nicht nach § 439 HGB verjährt, weil von einem Lagervertrag nach § 467 Abs. 2 HGB auszugehen sei; der Schaden sei aber nicht hinreichend substantiiert dargelegt und unter Beweis gestellt worden. In der Begründung der daraufhin erhobenen Klage hat die Klägerin hierauf Bezug genommen und gemeint, eine Anspruchsverjährung sei nach den zutreffenden Gründen des genannten Beschlusses ausgeschlossen. Damit hat sie verdeutlicht, dass sie davon ausging, die Frage der Verjährung würde im Hauptsacheverfahren nicht anders beurteilt werden als im vorangegangenen Prozesskostenhilfeverfahren. Das Berufungsgericht war daher gehalten, die Klägerin auf seine geänderte Rechtsauffassung hinzuweisen.
Rz. 10
b) Der vom Berufungsgericht (erstmals) in der mündlichen Verhandlung erteilte Hinweis war nach den zuvor dargelegten Grundsätzen nicht geeignet, der Klägerin in hinreichendem Maße rechtliches Gehör zur geänderten Beurteilung der Verjährungsproblematik einzuräumen. Ausweislich der Terminsniederschrift vom 4. Mai 2022 hat es ausgeführt, nach dem Klägervortrag sei von einem Lagervertrag auszugehen, bei dem eine einjährige Verjährungsfrist gelte; zwischen dem Ende der Hemmung durch das erstinstanzliche Verfahren und dem Eingang der neuen Klage liege eine Frist von fast genau einem Jahr. Unabhängig davon, ob das Berufungsgericht mit diesem Hinweis die maßgeblichen Erwägungen zur rechtlichen Beurteilung des zwischen den Parteien abgeschlossenen Vertrags, zum Beginn der angenommenen einjährigen Verjährungsfrist, zum Eingreifen von Hemmungstatbeständen und zum Ablauf der Verjährungsfrist hinreichend konkret dargelegt hat, war der Klägerin jedenfalls angesichts der Komplexität der mit der Beurteilung verbundenen rechtlichen und tatsächlichen Fragen eine sofortige Stellungnahme ersichtlich nicht möglich. Gleichwohl hat das Berufungsgericht die mündliche Verhandlung geschlossen und einen Verkündungstermin bestimmt. Diese Verfahrensweise findet im Prozessrecht keine Stütze.
Rz. 11
c) Der Gehörsverstoß ist auch entscheidungserheblich. Die Klägerin hat mit der Nichtzulassungsbeschwerde betont, das Berufungsgericht hätte sich mit dem Vorliegen der Voraussetzungen des § 439 Abs. 1 Satz 2 HGB, also dem Eingreifen der dreijährigen Verjährungsfrist bei Vorsatz oder einem dem Vorsatz nach § 435 HGB gleichstehenden Verschulden, befassen müssen. Seitens des Beklagten, der den entsprechenden Klagevortrag nicht bestritten habe, seien trotz der dargelegten Gefahrenwarnungen bis hin zur Ausrufung des Katastrophenalarms keinerlei Kontroll- oder Sicherungsmaßnahmen eingeleitet worden. Damit habe er elementarste Schutzvorkehrungen unterlassen. Da er seiner sekundären Darlegungslast nicht im gebotenen Umfang nachgekommen sei, spreche eine tatsächliche Vermutung für ein ihn in objektiver und subjektiver Hinsicht treffendes qualifiziertes Verschulden.
Rz. 12
3. Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Berufungsgericht bei Berücksichtigung des Vorbringens der Klägerin und gegebenenfalls Erhebung der dafür angebotenen Beweise zu einer anderen Beurteilung der Verjährungsfrage gekommen wäre, ist das Urteil aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Rz. 13
4. Sollte das Berufungsgericht im Rahmen der wiedereröffneten Berufungsinstanz an seiner Bewertung festhalten, wonach im Streitfall die einjährige Verjährungsfrist des § 439 Abs. 1 Satz 1 HGB maßgeblich ist, wird es den Parteien zur Wahrung ihres Gehörsrechts außerdem Gelegenheit geben müssen, zum Verjährungsbeginn weiter vorzutragen.
Rz. 14
Das Berufungsgericht hat erstmals im Berufungsurteil für den Verjährungsbeginn auf den Schriftsatz der Klägerin vom 16. August 2013 abgestellt, mit dem diese ihre Schadensersatzansprüche gegenüber dem Beklagten beziffert hatte, und ausgeführt, es sei davon auszugehen, dass sie spätestens an diesem Tag in der Lage gewesen sei, die tatsächliche Gewalt über das Gut auszuüben.
Rz. 15
Zwar hat das Berufungsgericht dabei zutreffend zugrunde gelegt, dass nach § 475a Satz 1 HGB auf die Verjährung von Ansprüchen aus einer Lagerung § 439 HGB Anwendung findet und die Verjährung gemäß § 439 Abs. 2 Satz 1 HGB mit Ablauf des Tages beginnt, an dem das Gut abgeliefert wurde (zur teilweisen Ablieferung vgl. MünchKomm.HGB/Eckardt, 5. Aufl., § 439 Rn. 15; Koller/Koller, Transportrecht, 10. Aufl., § 439 HGB Rn. 14). Es ist außerdem zu Recht davon ausgegangen, dass eine Ablieferung anzunehmen ist, wenn der Frachtführer den Gewahrsam über das beförderte Gut aufgibt und den Empfänger mit dessen Willen und Einverständnis in die Lage versetzt, die tatsächliche Sachherrschaft über das Gut auszuüben (zu Art. 17 Abs. 1 CMR vgl. BGH, Urteil vom 2. April 2009 - I ZR 16/07, TranspR 2009, 410 [juris Rn. 14]; zu § 425 Abs. 1 HGB vgl. Koller/Koller aaO § 425 HGB Rn. 24; zu § 407 Abs. 1 HGB vgl. MünchKomm.HGB/Thume aaO § 407 Rn. 40, jeweils mwN).
Rz. 16
Aus dem Berufungsurteil ergibt sich allerdings nicht, warum das Berufungsgericht gemeint hat, spätestens mit der Geltendmachung ihrer Schadensersatzansprüche sei die Klägerin in der Lage gewesen, die tatsächliche Gewalt über das Gut auszuüben. Den bisherigen Feststellungen lassen sich keine Anhaltspunkte entnehmen, die diese Annahme rechtfertigen könnten. Wie das Berufungsgericht selbst festgestellt hat, haben die Parteien bislang insbesondere nichts dazu vorgetragen, ob und gegebenenfalls wann das Gut an die Klägerin zurückgegeben wurde.
Koch |
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Schwonke |
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Feddersen |
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Pohl |
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Schmaltz |
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Fundstellen
TranspR 2024, 26 |
RdTW 2023, 481 |