Entscheidungsstichwort (Thema)
Abweisendes Versäumnisurteil. Sachentscheidung nach nichtstreitiger Verhandlung. Verhandlungsgebühr
Leitsatz (redaktionell)
Ergeht nach einem Hinweis des Gerichts auf die Unschlüssigkeit einer Klage mangels Reaktion des Beklagten ein abweisendes „Versäumnisurteil”, steht dem Prozessbevollmächtigten des Klägers lediglich eine halbe Verhandlungsgebühr zu. Eine „Verhandlung” zwischen den Parteien hat nicht stattgefunden.
Normenkette
BRAGO § 33 Abs. 2; ZPO § 331 Abs. 2 Hs 2, Abs. 3
Verfahrensgang
Tenor
Die Rechtsbeschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des 27. Zivilsenats des KG Berlin v. 8.5.2003 wird auf ihre
Kosten zurückgewiesen.
Wert des Rechtsbeschwerdeverfahrens: 211,29 Euro
Gründe
I.
Die Klägerin hat die Beklagte vor dem LG auf Schadensersatz und Schmerzensgeld nach einem Verkehrsunfall in Anspruch genommen. Das LG hat das schriftliche Vorverfahren angeordnet und die Klägerin darauf hingewiesen, dass es die Klage für unschlüssig halte. Die Beklagte hat sich nicht gemeldet. Das LG hat die Klage ohne Termin zur mündlichen Verhandlung anzuberaumen mit einem als "Versäumnisurteil" bezeichneten Urt. v. 8.10.2001 abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin haben sich die Parteien vor dem KG nach Beweisaufnahme verglichen. Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Parteien nach diesem Vergleich je zur Hälfte.
Nach Beendigung des Rechtsstreits hat die Klägerin beantragt, im Rahmen der Kostenausgleichung für die erste Instanz eine 10/10 Verhandlungsgebühr ihres Prozessbevollmächtigten anzusetzen. Die Rechtspflegerin des LG hat mit Kostenfestsetzungsbeschluss v. 10.3.2003 lediglich eine 5/10 Verhandlungsgebühr nach § 33 Abs. 2 BRAGO zu Gunsten der Klägerin berücksichtigt, weil ein Versäumnisurteil ergangen sei (nichtstreitige Verhandlung). Gegen den ihren Prozessbevollmächtigten am 25.3.2003 zugestellten Beschluss hat die Klägerin am 2.4.2003 sofortige Beschwerde eingelegt, mit der sie den Ansatz einer 10/10 Verhandlungsgebühr weiterverfolgt hat. Das KG Berlin hat mit dem angefochtenen Beschluss die sofortige Beschwerde zurückgewiesen und die Rechtsbeschwerde zum BGH zugelassen.
Zur Begründung seiner Entscheidung hat es im Wesentlichen ausgeführt, nach § 33 Abs. 1 S. 1 BRAGO sei für eine nichtstreitige Verhandlung nur eine halbe Verhandlungsgebühr vorgesehen. Dass auf die nichtstreitige Verhandlung eine Sachentscheidung ergangen sei, sei unerheblich. Die Sachentscheidung sei gem. § 331 Abs. 2 Hs. 2, Abs. 3 ZPO ergangen, weil das Vorbringen der Klägerin ihren Antrag nicht gerechtfertigt habe. Ein Sachantrag der Beklagten sei insoweit nicht erforderlich gewesen. Die in § 33 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 bis 3 BRAGO genannten Ausnahmen seien abschließend und nicht analogiefähig; die Voraussetzungen dieser Ausnahmen seien nicht gegeben.
II.
Die Rechtsbeschwerde ist statthaft und zulässig (§§ 574 Abs. 1 Nr. 2, 575 ZPO). Sie hat in der Sache jedoch keinen Erfolg. Die sofortige Beschwerde war zulässig (§§ 567 Abs. 2, 569 Abs. 1, 104 Abs. 3 ZPO), aber unbegründet. Zur Kostenausgleichung kann die Klägerin keine volle Verhandlungsgebühr ihres erstinstanzlichen Prozessbevollmächtigten in Ansatz bringen, denn diesem steht eine Verhandlungsgebühr in dieser Höhe nicht zu.
1. Nach der gesetzlichen Regelung der §§ 31 Abs. 1 Nr. 2, 33 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 BRAGO erhält der Anwalt für eine streitige Verhandlung eine volle (10/10), für eine nichtstreitige Verhandlung eine halbe (5/10), in der Berufung und Revision ausnahmsweise (§ 33 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 BRAGO) eine volle (10/10) Verhandlungsgebühr. "Verhandeln" ist nach einhelliger Ansicht in Rechtsprechung und Literatur eine Tätigkeit der Parteien, bei der sie vor dem Richter den Rechtsstreit mündlich vom entgegengesetzten Standpunkt aus erörtern und jede Partei diejenigen tatsächlichen Umstände, rechtlichen Ausführungen und Anträge vorbringt, durch die sie eine ihren Absichten entsprechende Entscheidung herbeiführen möchte (vgl. OLG Frankfurt v. 12.7.1983 - 12 W 137/83, MDR 1984, 63; von Eicken in: Gerold/Schmidt/von Eicken/Madert, Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte, 15. Aufl., § 31 Rz. 54). Dem "Verhandeln" gleichgestellt ist der Austausch von Schriftsätzen mit entgegengesetzten Standpunkten und Anträgen im schriftlichen Verfahren gem. § 128 ZPO oder im schriftlichen Vorverfahren gem. §§ 272 Abs. 2, 276 ZPO (vgl. § 35 BRAGO; Göttlich/Mümmler/Rehberg/Xanke, Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte, 20. Aufl., "Verhandlungsgebühr" Ziff. 9). Hiernach ist für die Entstehung einer Verhandlungsgebühr Voraussetzung, dass die (Sach-) Anträge beiderseits gestellt werden (§ 137 Abs. 1 ZPO). Soweit nur eine Partei einen Sachantrag stellt, ist keine streitige Verhandlung gegeben und die volle Verhandlungsgebühr nicht angefallen. In diesen Fällen ist aber - von den Ausnahmefällen des § 33 Abs. 1 S. 2 BRAGO abgesehen - eine halbe Verhandlungsgebühr entstanden, wenn die Parteien nicht widersprechende Erklärungen abgeben wie etwa beim Anerkenntnis des Klageanspruchs (§ 307 Abs. 1 ZPO, § 33 Abs. 1 S. 1 BRAGO). Erscheinen beide Parteien, stellt aber nur die eine ihren Antrag, die andere jedoch keinen oder keinen widersprechenden Antrag, ist keine streitige Verhandlung möglich; sofern es hier überhaupt zu einer "Verhandlung" der Parteien kommt, ist diese "nichtstreitig" und kann nur eine halbe Verhandlungsgebühr veranlassen (§ 33 Abs. 1 S. 1 ZPO). Erscheint dagegen nur eine Partei und stellt auch nur diese einen Sachantrag, fehlt es an einer "Verhandlung" der Parteien. In diesem Falle verdient der Anwalt jedoch die halbe Verhandlungsgebühr, wenn er den Erlass des Versäumnisurteils gegen die andere Partei beantragt (§ 33 Abs. 2 BRAGO).
2. Nach diesen Grundsätzen haben die Voraussetzungen für eine volle Verhandlungsgebühr im ersten Rechtszug nicht vorgelegen. Eine "Verhandlung" zwischen den Parteien hat nicht stattgefunden. Auch ein schriftliches Verfahren mit widersprechenden Schriftsätzen, das einer streitigen Verhandlung gleichzustellen wäre, war nicht gegeben, denn die Beklagte hatte sich im ersten Rechtszug nicht gemeldet und ihre Verteidigungsbereitschaft weder angekündigt noch betätigt.
a) Entgegen den Ausführungen der Rechtsbeschwerde kommt es nicht darauf an, dass das LG eine Sachentscheidung getroffen hat, als es die Klage mit einem als Versäumnisurteil bezeichneten Urteil abgewiesen hat. Dabei handelte es sich entgegen der Bezeichnung inhaltlich um ein Urteil, das nicht darauf beruhte, dass die Beklagte ihre Verteidigungsbereitschaft nicht angekündigt hatte (vgl. § 331 Abs. 3 ZPO); es war vielmehr entgegen seiner Bezeichnung ein sog. "unechtes Versäumnisurteil" (vgl. Zöller/Herget, ZPO, 23. Aufl., § 331 Rz. 15), das nur mit der Berufung, nicht mit dem Einspruch angreifbar war. Die Gebührentatbestände der §§ 31 Abs. 1 Nr. 2, 33 Abs. 1 S. 1 BRAGO stellen jedoch nicht auf die Bezeichnung der Entscheidung und - entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde - auch nicht auf den Inhalt der Entscheidung ab.
Die Verhandlungsgebühr soll das von dem allgemeinen Prozessbetrieb sich abhebende besondere Tätigwerden des Anwalts in der mündlichen Verhandlung abgelten (vgl. Riedel/Sußbauer-Keller, 8. Aufl., § 31 Rz. 43). Ohne mündliche Verhandlung oder eine gleichgestellte Tätigkeit im schriftlichen Verfahren, die hier nicht vorlagen, ist ein Grund für den Ansatz einer vollen Gebühr jedoch nicht vorhanden.
b) Die Rechtsbeschwerde kann sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, dass der Anwalt im Berufungs- oder Revisionsverfahren für den Antrag auf Erlass eines Versäumnisurteils nach § 33 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 BRAGO eine volle Verhandlungsgebühr erhalte, weil auf diesen Antrag eine Entscheidung in der Sache ergehen müsse. Das ist zwar bei Abweisung der Klage als unschlüssig auch im ersten Rechtszug Folge des § 331 Abs. 2 Hs. 2 ZPO. Der Gesetzgeber hat das jedoch nicht zum Anlass einer Ergänzung oder Änderung des § 33 Abs. 1 BRAGO genommen. Die gesetzliche Regelung, nach welcher der Anwalt auch bei nichtstreitiger Verhandlung nicht nur eine halbe, sondern ausnahmsweise eine volle Verhandlungsgebühr erhält (§ 33 Abs. 1 S. 2 BRAGO), ist als enumerative Aufzählung abschließend und als Ausnahmeregelung einer Analogie nicht zugänglich.
c) Auch eine Fiktion der klagebegründenden Tatsachen (§ 331 Abs. 1 S. 1 ZPO), aus der die Rechtsbeschwerde eine Fiktion des Gegenantrags der Beklagten für den ersten Rechtszug entnehmen möchte, kommt offensichtlich nicht in Betracht.
Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG, den die Rechtsbeschwerde beanstandet, ist nicht ersichtlich. Im ersten Rechtszug wird lediglich die Klage auf ihre Schlüssigkeit geprüft. Im Rechtsmittelverfahren wird dagegen die Schlüssigkeit des Rechtsmittels untersucht, gleichgültig welche Parteistellung der Rechtsmittelkläger im ersten Rechtszug hatte (vgl. § 539 Abs. 2 S. 2, 555 Abs. 1 ZPO). Ein Versäumnisurteil gegen den Beklagten beruht dann regelmäßig - abweichend von § 331 Abs. 2 ZPO - nicht auf der Säumnis, sondern berücksichtigt den gesamten nach §§ 559, 529 ZPO maßgeblichen Sach- und Streitstand (vgl. BGH BGHZ 37, 79 [81 ff.]) und die vom Rechtsmittelkläger rechtzeitig schriftlich vorgetragenen neuen Tatsachen, soweit sie berücksichtigungsfähig sind (vgl. Wenzel in MünchKomm/ZPO, Aktualisierungsbd., § 555 Rz. 16).
3. Nach allem ist die Rechtsbeschwerde mit der Kostenfolge des § 97 Abs. 1 ZPO zurückzuweisen.
Fundstellen
BGHR 2004, 134 |
JurBüro 2004, 136 |
DAR 2004, 118 |
AGS 2004, 110 |
RVG-B 2004, 18 |
RVGreport 2004, 71 |
NJOZ 2003, 3435 |