Verfahrensgang
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Münster vom 18. Dezember 2002 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit schwerem sexuellen Mißbrauch eines Kindes in drei Fällen, sexueller Nötigung in Tateinheit mit sexuellem Mißbrauch eines Kindes in sechs Fällen und wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes in acht Fällen unter Einbeziehung einer Freiheitsstrafe aus einer früheren Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 14 Jahren verurteilt. Ferner hat es die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung angeordnet.
Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und sachlichen Rechts. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge Erfolg; auf die Verfahrensrügen kommt es deshalb nicht an.
Der Angeklagte hat die ihm zur Last gelegten Taten zum Nachteil der Nebenklägerin, seiner am 2. Februar 1988 geborenen Stieftochter, bestritten und sich dahin eingelassen, seine Stieftochter habe die Vorwürfe entweder selbst erfunden oder sei von ihrer Mutter dazu gebracht worden, „diese Lügengeschichten gegen ihn zu verbreiten, um ihn endgültig aus dem Haushalt zu entfernen”. Die Nebenklägerin hatte, nachdem im Kinderheim ein etwa gleichaltriges Mädchen von einem sexuellen Mißbrauch erzählt hatte, am 24. März 2000 zunächst einer Betreuerin und danach ihrer zuständigen Betreuerin, der Zeugin Claudia R. „über den gehabten sexuellen Mißbrauch seitens des Angeklagten” berichtet (UA 31/37). Sie wurde am 12. April 2000 polizeilich vernommen und im Mai 2001 durch die Diplompsychologin und Fachpsychologin für Rechtspsychologie L. exploriert. Das Landgericht hat die Verurteilung des Angeklagten im wesentlichen auf die Aussage der Nebenklägerin gestützt. Es ist den nach seiner Auffassung glaubhaften Angaben gefolgt, „welche die Nebenklägerin in der Hauptverhandlung gemacht sowie denen, die sie, durch die Sachverständige L. wiedergegeben, bei ihr in der Sachexploration gemacht hat” (UA 39). Die dieser Wertung zugrundeliegende Beweiswürdigung begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken:
Zwar beschränkt sich, da die Beweiswürdigung Sache des Tatrichters ist, die revisionsgerichtliche Nachprüfung darauf, ob dem Tatrichter Rechtsfehler unterlaufen sind. Eine rechtsfehlerfreie Beweiswürdigung setzt aber – je nach den Besonderheiten des Einzelfalles – auch voraus, daß sich die Urteilsgründe mit widersprüchlichen, ungenauen oder aus sonstigen Gründen nicht ohne weiteres glaubhaften Zeugenaussagen in einer für das Revisionsgericht überprüfbaren Weise auseinandersetzen (vgl. BGH StV 1992, 555 m.w.N.). Demgemäß müssen die Urteilsgründe dann, wenn Aussage gegen Aussage steht und die Entscheidung – wie hier – allein davon abhängt, wem das Gericht Glauben schenkt, erkennen lassen, daß der Tatrichter alle Umstände, die die Entscheidung beeinflussen können, in seine Überlegungen einbezogen (st. Rspr., vgl. BGHSt 44, 153, 158, 159; BGH NStZ 2002, 494 jew. m.w.N.) und auch in einer „Gesamtschau” gewürdigt hat (BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 14). Diesen Anforderungen genügt das Urteil nicht.
Nach Auffassung des sachverständig beratenen Landgerichts spricht für die Glaubhaftigkeit der Aussage der Nebenklägerin die Konstanz ihrer Angaben. Die Nebenklägerin habe „ihre umfangreichen, komplexen, einen Zeitraum von mehreren Jahren betreffenden und vielgestaltigen Angaben bezüglich des Randgeschehens und der Tathandlungen sowohl bei der Exploration der Sachverständigen L., wie von dieser in der Hauptverhandlung eingehend berichtet, sowie auch in der Hauptverhandlung im Kern im wesentlichen übereinstimmend und ohne relevante Widersprüche vorgetragen” (UA 37). Ob diese Wertung auf einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung beruht, entzieht sich jedoch der revisionsgerichtlichen Überprüfung. Hierfür hätte es einer substantiierten Darlegung insbesondere der zwischen den Angaben der Nebenklägerin in der Hauptverhandlung und bei der Exploration durch die Sachverständige bestehenden, in den Urteilsgründen nicht näher bezeichneten „Unterschiede” (UA 39) bedurft. Da das Landgericht – auch insoweit der Einschätzung der Sachverständigen folgend – hinsichtlich der Angaben der Nebenklägerin bei ihr, bei der Vernehmungsbeamtin und in der Hauptverhandlung aufgetretenen „Inkonstanzen” (UA 39) zu der Auffassung gelangt ist, „daß diese nicht ein solches Gewicht haben, die Glaubhaftigkeit der Angaben der Zeugin in Zweifel zu ziehen” (UA 40), hätte es ferner der Mitteilung auch der Angaben der Nebenklägerin bei ihrer polizeilichen Vernehmung bedurft, um dem Senat die Überprüfung dieser Wertung zu ermöglichen.
Durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnen auch die Erwägungen des Landgerichts, mit denen es den erheblich von den getroffenen Feststellungen abweichenden Angaben der Nebenklägerin in dem Gespräch mit ihrer Betreuerin R., „welche nicht mehr von der Nebenklägerin in der Hauptverhandlung wahrgehalten worden sind”, im Anschluß an die Ausführungen der Sachverständigen L. und des psychiatrischen Sachverständigen „keine entscheidende Relevanz für die Verwertung in der Hauptverhandlung” beigemessen hat (UA 38). Nach den Bekundungen der als Zeugin vernommenen Betreuerin hat die Nebenklägerin ihr gegenüber u.a. angegeben, „daß in jedem Fall der sexuellen Übergriffe des Angeklagten ein Messer neben ihr gelegen habe”, daß der Angeklagte „auch den Geschlechtsverkehr mit ihr ausgeübt habe”, daß sie in der Silvesternacht nach dem Einführen des Gliedes in ihre Scheide geblutet habe, Strapse und Schlüpfer habe anziehen, dem Angeklagten ein Kondom von seinem Penis habe abziehen müssen und daß „auch der zweijährige Bruder bei dem sexuellen Mißbrauch” habe zusehen müssen. Daß das Landgericht der Auffassung der Sachverständigen L. gefolgt ist, die Aussage der als Zeugin vernommenen Betreuerin dürfe „nicht in vollem Umfang Verwertung finden, da die Zeugin für die Exploration eines minderjährigen geschädigten Kindes nicht ausreichend geschult worden sei”, begegnet schon für sich Bedenken. Unabhängig davon machte dies jedenfalls eine Erörterung der Frage nicht entbehrlich, aus welchen Gründen die Nebenklägerin ihre nach den Bekundungen der Betreuerin ihr gegenüber gemachten Angaben „nicht mehr … wahrgehalten” hat. Dabei hätten auch die mit Ausnahme der Bekundung der Nebenklägerin, daß der Angeklagte „sich vor ihr befriedigt und sie gezwungen habe, Strapse anzuziehen” (UA 40), im einzelnen nicht näher mitgeteilten Angaben der Nebenklägerin bei ihrer polizeilichen Vernehmung in die Gesamtwürdigung einbezogen werden müssen.
Soweit das Landgericht die Angaben der Nebenklägerin bei ihrer Exploration durch die Sachverständige durch deren Vernehmung als Zeugin in die Hauptverhandlung eingeführt hat, nachdem die Nebenklägerin nach eingehender Befragung durch die Kammer zur Sache im Zeitpunkt der laufenden Befragung durch die Verteidigung von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht und die Verwertung ihrer Angaben bei der Exploration und bei der polizeilichen Vernehmung ausdrücklich gestattet hatte (zur Zulässigkeit der Verwertung vgl. BGHSt 45, 203), beanstandet die Revision zu Recht, daß sich den Urteilsgründen nicht entnehmen läßt, ob das Landgericht bei der Würdigung dieser Angaben bedacht hat, daß der Beweiswert der Aussage wegen der erheblich eingeschränkten Möglichkeiten zur Überprüfung der Glaubhaftigkeit der Aussage wesentlich geringer ist als bei einer unmittelbaren Aussage der Zeugin (vgl. BGH aaO S. 208). Das Landgericht hat lediglich ausgeführt, die Nebenklägerin habe von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht, weil sie zu diesem Zeitpunkt „offensichtlich außerstande war, weitere Fragen damals oder zu einem späteren Zeitpunkt zur Sache psychisch zu verkraften” (UA 39). Ob es bei der Würdigung der durch die Vernehmung der Sachverständigen eingeführten Angaben der Nebenklägerin bedacht hat, daß diese sich nach der hier gegebenen Verfahrenslage mit der Ausübung ihres Zeugnisverweigerungsrechts vor allem auch den Nachfragen der Verteidigung, insbesondere Fragen zu den durch die Einführung ihrer früheren Angaben gegenüber ihrer Betreuerin und bei ihrer polizeilichen Vernehmung aufgetretenen „Inkonstanzen” entzogen hat, ergibt sich aus den Urteilsgründen nicht.
Unterschriften
Die Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof Dr. Tepperwien ist urlaubsbedingt verhindert zu unterschreiben. Maatz, Maatz, Athing, Ernemann, Sost-Scheible
Fundstellen
Haufe-Index 2559046 |
StV 2003, 604 |