Verfahrensgang
LG Berlin (Urteil vom 13.09.2005) |
Tenor
Dem Angeklagten wird auf seine Kosten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Begründung der Revision gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 13. September 2005 gewährt.
Auf die Revision des Angeklagten wird das genannte Urteil nach § 349 Abs. 4 StPO mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schwerer räuberischer Erpressung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten führt mit der Sachrüge zur umfassenden Aufhebung des Urteils.
1. Dem Angeklagten liegt zur Last, am 18. Januar 2003 gegen 1.45 Uhr in der Gegend des Berliner Alexanderplatzes einen auf dem Heimweg befindlichen 18-jährigen Schüler auf menschenleerer Straße mit einer Pistole von ungeklärter Beschaffenheit bedroht und zur Übergabe seiner Geldbörse mit 10 EUR und Papieren, eines Mobiltelefons und eines mit Zigaretten, einer Flasche Wein und einem Taschenrechner gefüllten Rucksacks gezwungen zu haben; den Hausschlüssel habe er dem Geschädigten zurückgegeben und ihm einen Teil der Papiere einige Tage später mit der Post zurückgesandt.
2. Die Überführung des die Tat bestreitenden Angeklagten beruht allein auf der Identifizierung seiner Person als Täter und einer ihm gehörenden braunen Lederjacke als der vom Täter getragenen Oberbekleidung durch den Geschädigten. Dieser hatte den unmaskierten Täter anlässlich der Tat längere Zeit bei ausreichenden Lichtverhältnissen beobachten können. Zwei Tage nach der Tat hatte er bei Einsicht in die polizeiliche Lichtbildkartei aus 700 bis 800 Bildern, zusammengestellt nach seiner Täterbeschreibung (170 bis 175 cm Größe, 25 bis 30 Jahre, deutsche Nationalität), ein Lichtbild des Angeklagten herausgesucht, das „massive Ähnlichkeit mit dem Täter” aufwies. Auf der Grundlage dieser Lichtbildidentifizierung erfolgte eine Wohnungsdurchsuchung beim Angeklagten, bei der weder ein Beutestück noch eine Pistole, jedoch eine braune Lederjacke des Angeklagten sichergestellt wurde; der Geschädigte hatte angegeben, dass der Täter eine solche getragen habe. Im Anschluss an die Wohnungsdurchsuchung wurde – aus unerfindlichen, im Urteil nicht abgehandelten Gründen – weder eine Wahlgegenüberstellung des Angeklagten mit dem Geschädigten durchgeführt noch eine Wahlvorlage der sichergestellten Jacke mit anderen ähnlichen Bekleidungsstücken durchgeführt. Vielmehr wurden dem Geschädigten – nunmehr drei Monate nach der Tat – zwei anlässlich der Wohnungsdurchsuchung gefertigte Polaroidfotos zur Identifizierung vorgelegt, die den Angeklagten, der die sichergestellte braune Lederjacke trägt, zeigen; ferner wurde ihm die Jacke vorgelegt. Der bewusst vorsichtig formulierende Geschädigte erkannte jeweils „zu 90 %” den Angeklagten als Täter wieder, ferner die Jacke als Bekleidungsstück des Täters unter Hinweis auf bestimmte markante Merkmale.
Eine Wahlgegenüberstellung des Angeklagten mit dem Geschädigten unterblieb auch bis zur – aus ungeklärten, vom Landgericht nicht abgehandelten Gründen – erst mehr als zwei Jahre später erfolgten Anklageerhebung. Gleichfalls erfolgte keine Untersuchung des frankierten Briefumschlags, in welchem dem Geschädigten seine geraubten Papiere rückübersandt worden waren; eine erst vom Landgericht auf Antrag der Verteidigung in Unterbrechung der Hauptverhandlung veranlasste Untersuchung genetischen Materials auf den Briefmarken ergab keine Identität mit der DNA des Angeklagten. Auch das Landgericht, das noch vor Anklagezustellung die Verhaftung des Angeklagten beschloss, veranlasste keine Wahlgegenüberstellung. In der Hauptverhandlung erkannte der Geschädigte den Angeklagten dann „spontan als Täter wieder”.
3. Die Beweiswürdigung, mit der sich das Landgericht von der Täterschaft des Angeklagten überzeugt hat, hält sachlichrechtlicher Prüfung nicht stand. Zwar hat das Landgericht die insbesondere mit der Beurteilung der Zuverlässigkeit der Wiedererkennungsleistungen des Geschädigten verbundenen Probleme nicht etwa grundlegend verkannt, sie teilweise auch ausführlich abgehandelt. Gleichwohl bleibt seine Gesamtwürdigung lückenhaft. Dies folgt aus der besonderen Schwierigkeit der konkreten Beweislage, die zudem durch aus dem Urteil ersichtliche gravierende Ermittlungsdefizite gekennzeichnet ist und darüber hinaus noch durch erheblichen Zeitablauf seit Begehung der Tat, zu dessen Ursache das Urteil schweigt, verstärkt wird.
Zunächst ergibt sich aus dem Urteil nicht, ob der Geschädigte bei der Anzeige über die benannten sehr allgemeinen Merkmale hinaus noch andere individuellere Merkmale des Erscheinungsbildes des Täters angegeben hatte. Hierin liegt ein für die Beurteilung zuverlässigen Wiedererkennens wesentlicher Umstand. Ebenso lässt sich dem Urteil nicht klar entnehmen, ob der Geschädigte bereits vor der Sachidentifizierung – abgesehen von der Angabe, dass der Täter eine „braune Lederjacke” getragen habe – irgendwelche Merkmale jener Jacke bezeichnet hatte oder ob er ihre markanten Merkmale erst im Nachhinein nach der suggestiv gestalteten Identifizierungsvorlage als Wiedererkennungsmerkmale benannt hat. Für den letztgenannten Fall hätte die hierin liegende Schwäche der Identifizierungsleistung der Erörterung bedurft. Auch stellt das Landgericht anders als ausdrücklich für die Beurteilung der Personenidentifizierung das Phänomen des „Waffenfokus” (vgl. Eisenberg, Beweisrecht der StPO 4. Aufl. Rdn. 1391; Bender/Nack, Tatsachenfeststellung vor Gericht II 2. Aufl. Rdn. 726) in seine Bewertung der Sachidentifizierung nicht ein; dabei kann die Konzentration des Geschädigten auf die Waffe, mit der er bedroht wurde, eine gleichzeitige zuverlässige Wahrnehmung von Einzelheiten der Täterbekleidung eher noch stärker beeinträchtigt haben als bezogen auf das persönliche Erscheinungsbild des Täters.
Zudem fehlt im Urteil fast jegliche Personenbeschreibung des Angeklagten. Sie wäre bei der gegebenen schmalen Beweisdecke für die Frage wesentlich gewesen, ob das Erscheinungsbild des Angeklagten etwa so unauffällig und wenig markant war beziehungsweise einem verbreiteten Typ ungefähr gleichaltriger Männer derart entsprach, dass eine größere Gefahr der Personenverwechselung bestand. Bei der ergänzenden Verwertung des wiederholten Wiedererkennens in der Hauptverhandlung hat das Landgericht die verstärkte Suggestibilität der Identifizierungssituation im Rahmen einer Konfrontation des Geschädigten allein mit dem Verdächtigten in der Rolle des Angeklagten nicht ausdrücklich erörtert.
Schließlich bleibt auch die Prüfung möglicher Entlastungsindizien lückenhaft, anhand derer das Landgericht im Ansatz zutreffend die Gesamtschau aus Personen- und Sachidentifizierung hinterfragt. Dass der insoweit durch Zeugen gestützte Angeklagte in der Tatnacht mit seiner damaligen Partnerin in der gemeinsamen Wohnung die beiden kleinen Kinder ihrer Schwester gehütet hat und dass die Freundin meinte, der Angeklagte sei in jener Nacht „nicht weg” gewesen, glaubt das Landgericht, verneint indes ein Alibi, da der Angeklagte sich von der tief schlafenden Frau unbemerkt hätte entfernen können. Diese Variante der Tatbegehung forderte jedoch eine zusätzliche, in die Gesamtwürdigung einzustellende Prüfung heraus, ob es plausibel – oder hingegen eher fernliegend – erscheint, dass sich der Angeklagte nachts heimlich bewaffnet in die Gegend des Alexanderplatzes begab, um dort einen augenscheinlich nicht ersichtlich begüterten jungen Passanten zu berauben. Das Urteil enthält hierzu nichts; ihm ist weder die Entfernung des Tatorts von der damaligen Wohnung des Angeklagten und seiner Freundin zu entnehmen, deren Adresse nicht benannt ist, noch enthält es nähere Feststellungen zu den konkreten wirtschaftlichen Verhältnissen des Angeklagten und seiner Freundin zur Tatzeit.
4. Der Senat verkennt nicht, dass die aufgezeigten Beweiswür-digungslücken – unterbliebene Beschreibung des Erscheinungsbildes des Angeklagten zur Tatzeit, fehlende Angaben zu anfänglichen Personen- und Sachbeschreibungen durch den Geschädigten, fehlende Erörterung weiterer Schwachpunkte bei der Personen- und Sachidentifizierung, mangelnde Feststellungen für eine Plausibilitätskontrolle – selbst in der Summierung im Rahmen der revisionsgerichtlichen Sachprüfung bei gravierenderen Belastungsbeweisen möglicherweise nicht als erheblich zu beurteilen gewesen wären. Hingegen müssen sie bei der gegebenen ungewöhnlich problematischen Beweissituation – auch vor dem Hintergrund gewichtiger Ermittlungsmängel – zur Aufhebung des Urteils und Anordnung neuer tatgerichtlicher Prüfung führen.
Vor der namentlich bei fortdauernder Untersuchungshaft besonders zügig anzuberaumenden neuen tatgerichtlichen Verhandlung kann sich ein Aufklärungsversuch empfehlen, ob das untersuchte DNA-Material des Rücksendebriefs etwa einer den Ermittlungsbehörden bekannten bestimmten dritten Person zuzurechnen ist.
Sollte die neue Verhandlung wiederum zur Verurteilung des Angeklagten führen, werden Erörterungen zu einer Verletzung des Verzögerungsverbots (Art. 6 Abs. 1 MRK), gegebenenfalls mit den vorgeschriebenen Konsequenzen einer numerisch bestimmten Strafreduzierung, die im angefochtenen Urteil bei einem unerklärten Abstand von über zwei Jahren zwischen der letzten urteilsrelevanten Ermittlungshandlung und der Anklageerhebung gleichfalls fehlerhaft unterblieben sind (vgl. BGHSt 49, 342), unerlässlich sein.
Unterschriften
Harms, Häger, Basdorf, Gerhardt, Raum
Fundstellen
Haufe-Index 2555579 |
NStZ-RR 2006, 212 |
NJW-Spezial 2006, 377 |
StV 2007, 342 |
StraFo 2006, 292 |