Leitsatz (amtlich)
Eine erneute Parteianhörung durch das Berufungsgericht kann dann erforderlich werden, wenn sich das erstinstanzliche Gericht - etwa aufgrund von Zeugenaussagen - von dem Gegenteil dessen überzeugt hat, was eine Partei in einer persönlichen Anhörung erklärt hat, und in den Urteilsgründen von der Würdigung dieser Parteierklärung ganz abgesehen hat.
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1; ZPO § 286 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches OLG (Entscheidung vom 30.11.2021; Aktenzeichen 4 U 149/20) |
LG Kiel (Entscheidung vom 09.10.2020; Aktenzeichen 8 O 330/16) |
Tenor
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten zu 2 wird der Beschluss des 4. Zivilsenats des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts vom 30. November 2021 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die Berufung der Beklagten zu 2 gegen das Urteil des Landgerichts Kiel vom 9. Oktober 2020 zurückgewiesen worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten zu 1 gegen den vorbezeichneten Beschluss wird zurückgewiesen.
Streitwert: 120.000 €
Gründe
I.
Rz. 1
Der Kläger nimmt die Beklagten wegen behaupteter Fehler bei seiner Geburt in Anspruch. Der Beklagte zu 1 war als ärztlicher Geburtshelfer, die Beklagte zu 2 als Beleghebamme in die Geburt des Klägers eingebunden.
Rz. 2
Am Tag der Geburt nahm der Beklagte zu 1 eine Vakuumextraktion mit einer sogenannten KIWI-Glocke vor. Danach war die Schulter des Klägers im mütterlichen Becken verkeilt. Daraufhin wurde das McRoberts-Manöver durchgeführt. Die weiteren Einzelheiten des mangelhaft dokumentierten Geburtsvorgangs des Klägers sind zwischen den Parteien streitig.
Rz. 3
Bei dem Kläger wurde in der Folge eine "schwerste komplette kindliche Plexusparese rechts mit Abrissen der Wurzeln C5 bis C7 und in situ Ausrissen C8 und Th1" festgestellt.
Rz. 4
Das Landgericht hat die Beklagten gesamtschuldnerisch zur Zahlung von Schmerzensgeld in Höhe von 70.000 € verurteilt und ihre Einstandspflicht für materielle Schäden festgestellt. Die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen.
Rz. 5
Dagegen wenden sich die Beklagten mit ihren Nichtzulassungsbeschwerden.
II.
Rz. 6
Die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten zu 2 hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Beschlusses und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht, soweit ihre Berufung zurückgewiesen worden ist. Die angefochtene Entscheidung beruht auf einer Verletzung des Anspruchs der Beklagten zu 2 auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG.
Rz. 7
1. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung hinsichtlich der Beklagten zu 2 ausgeführt, diese habe grob fehlerhaft gehandelt, weil sie, als der Kopf des Klägers bereits geboren worden, seine Schulter aber noch im mütterlichen Becken fixiert gewesen sei, ein Kristellermanöver durchgeführt habe. Die diesbezügliche Überzeugungsbildung des Landgerichts sei nicht zu beanstanden. Dieses sei der Darstellung der Eltern des Klägers und der Aussage der Zeugin K. (Großmutter des Klägers) gefolgt. Zweifel an der Vollständigkeit und Richtigkeit der landgerichtlichen Feststellungen ergäben sich nicht daraus, dass der Beklagte zu 1 im Rahmen seiner Anhörung vor dem Landgericht bekundet habe, dass kein Kristellern stattgefunden habe, denn diese Aussage sei widerlegt durch die Aussagen der Eltern des Klägers und der Zeugin K.
Rz. 8
2. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten zu 2 rügt mit Erfolg, dass das Berufungsgericht den Beklagten zu 1 nicht erneut dazu angehört hat, ob seitens der Beklagten zu 2 zu dem vom Berufungsgericht angenommenen Zeitpunkt ein Kristellermanöver erfolgt ist, und dass es dadurch den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt hat.
Rz. 9
a) Gemäß § 398 Abs. 1 ZPO steht die wiederholte Vernehmung eines Zeugen im Ermessen des Berufungsgerichts. Diesem Ermessen sind aber Grenzen gesetzt. So muss das Berufungsgericht einen bereits in erster Instanz vernommenen Zeugen nochmals gemäß § 398 Abs. 1 ZPO vernehmen, wenn es dessen Aussage anders würdigen will als die Vorinstanz. Die nochmalige Vernehmung eines Zeugen kann allenfalls dann unterbleiben, wenn sich das Rechtsmittelgericht auf solche Umstände stützt, die weder die Urteilsfähigkeit, das Erinnerungsvermögen oder die Wahrheitsliebe des Zeugen noch die Vollständigkeit oder Widerspruchsfreiheit der Aussage betreffen (Senatsurteile vom 23. Juni 2020 - VI ZR 435/19, MDR 2020, 999 Rn. 18; vom 10. März 1998 - VI ZR 30/97, NJW 1998, 2222, 2223, juris Rn. 12; Senatsbeschluss vom 25. Juli 2017 - VI ZR 103/17, VersR 2018, 249 Rn. 9 mwN). Trägt das Berufungsgericht dem nicht Rechnung, liegt darin ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG (Senatsbeschlüsse vom 27. April 2021 - VI ZR 845/20, MDR 2021, 897 Rn. 8; vom 25. Juli 2017 - VI ZR 103/17, VersR 2018, 249 Rn. 9; BGH, Beschlüsse vom 28. Juli 2020 - II ZR 20/20, juris Rn. 11; vom 17. September 2013 - XI ZR 394/12, NZG 2013, 1436 Rn. 10; BVerfG, NJW 2011, 49 Rn. 11 ff.).
Rz. 10
Entsprechendes gilt, wenn die erste Instanz von der Würdigung der Aussagen der von ihr vernommenen Zeugen und der Erörterung der Glaubwürdigkeit der Zeugen ganz abgesehen hat (Senatsbeschluss vom 27. April 2021 - VI ZR 845/20, MDR 2021, 897 Rn. 9; vgl. Senatsurteil vom 7. Juli 1981 - VI ZR 48/80, NJW 1982, 108, 109, juris Rn. 7-10; BGH, Urteil vom 16. Dezember 1999 - III ZR 295/98, NJW-RR 2000, 432, 433, juris Rn. 23 mwN). In der Berufungsinstanz kann ein angetretener Zeugenbeweis durch die Verwertung der Niederschrift der erstinstanzlichen Zeugenvernehmung nur ersetzt werden, wenn der persönliche Eindruck, den der Zeuge bei seiner Vernehmung hinterließ oder bei einer erneuten Vernehmung hinterlassen würde, für die Würdigung seiner Aussage nicht entscheidend ist (vgl. Senatsurteil vom 13. Dezember 2005 - VI ZR 68/04, VersR 2006, 369 Rn. 28; BGH, Urteil vom 23. November 2017 - I ZR 51/16, VersR 2018, 1279 Rn. 29). Anderenfalls hat eine Wiederholung der Beweisaufnahme zu erfolgen (Senatsbeschluss vom 27. April 2021 - VI ZR 845/20, MDR 2021, 897 Rn. 9).
Rz. 11
Die genannten Grundsätze gelten entsprechend für die formlose Parteianhörung.
Rz. 12
So ist höchstrichterlich bereits entschieden, dass jedenfalls, soweit die Angaben der Parteien in die Beweiswürdigung des Erstgerichts nach § 286 Abs. 1 ZPO Eingang gefunden haben und dort in ihrer Glaubhaftigkeit bewertet wurden, das Berufungsgericht nicht ohne eigene Anhörung von dieser Würdigung abweichen kann (Senatsbeschluss vom 25. Juli 2017 - VI ZR 103/17, NJW 2018, 308 Rn. 10; BGH, Beschluss vom 28. Juli 2020 - II ZR 20/20, juris Rn. 11; BVerfG, NJW 2017, 3218 Rn. 58).
Rz. 13
Eine erneute Parteianhörung durch das Berufungsgericht kann aber auch dann erforderlich werden, wenn sich das erstinstanzliche Gericht - etwa aufgrund von Zeugenaussagen - von dem Gegenteil dessen überzeugt hat, was eine Partei in einer persönlichen Anhörung erklärt hat, und in den Urteilsgründen von der Würdigung dieser Parteierklärung ganz abgesehen hat. Denn auch Erklärungen der persönlich angehörten Partei sind als "Inhalt der Verhandlungen" gemäß § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO in die Beweiswürdigung einzubeziehen. Hat das erstinstanzliche Gericht dies verfahrensfehlerhaft unterlassen, ist dies durch das Berufungsgericht nachzuholen. Das setzt eine Wiederholung der persönlichen Anhörung der Partei voraus, wenn der persönliche Eindruck der Partei für die Beweiswürdigung entscheidend sein kann.
Rz. 14
b) Vorliegend hat sich das Landgericht bei seiner Beweiswürdigung zu der entscheidenden Frage, ob zum hier maßgeblichen Zeitpunkt seitens der Beklagten zu 2 ein Kristellern stattgefunden hat, nicht mit der Erklärung des Beklagten zu 1 in seiner persönlichen Anhörung befasst, dass dies nicht der Fall war. Aus den Urteilsgründen ist nicht ersichtlich, ob das Landgericht diese Erklärung, die es unerwähnt gelassen hat, überhaupt gesehen hat; jedenfalls hat es sie nicht gewürdigt. Einer ausdrücklichen Befassung mit dieser Äußerung in den Urteilsgründen hätte es vorliegend aber gemäß § 286 Abs. 1 Satz 2 ZPO insbesondere deshalb bedurft, weil die Erklärung des Beklagten zu 1, dass ein Kristellern nicht stattgefunden habe, nicht sein eigenes Verhalten betraf, sondern einen etwaigen Behandlungsfehler der Beklagten zu 2, und weil er als Fachmann über die Expertise verfügen dürfte, ein Kristellern von anderen Handgriffen zu unterscheiden. Die Beweiswürdigung des Landgerichts war demnach unvollständig. Das Berufungsgericht hat die Beweiswürdigung in der angegriffenen Entscheidung vervollständigt, indem es die Erklärung des Beklagten zu 1, es habe kein Kristellern stattgefunden, als durch die Aussage der Eltern des Klägers und der Zeugin K. widerlegt angesehen hat. Ohne die Wiederholung der Anhörung des Beklagten zu 1 durfte das Berufungsgericht diese Würdigung aber nicht vornehmen.
Rz. 15
Die Anhörung ist auch nicht etwa deshalb entbehrlich geworden, weil der Prozessbevollmächtigte des Beklagten zu 1 in der Berufungsinstanz dessen Vortrag schriftsätzlich dahingehend modifiziert hat, dass der Beklagte zu 1 das nach klägerischer Behauptung erfolgte Kristellern der Beklagten zu 2 nicht bemerkt habe. In der nachzuholenden Anhörung werden diesbezügliche Abweichungen im Vortrag des Beklagten zu 1 anzusprechen und anschließend bei der Überzeugungsbildung zu würdigen sein.
III.
Rz. 16
Die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten zu 1 wird zurückgewiesen, weil insoweit weder die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert (§ 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Von einer näheren Begründung wird gemäß § 544 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 ZPO abgesehen.
Seiters |
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Oehler |
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Müller |
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Klein |
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Böhm |
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Fundstellen
NJW 2023, 10 |
FA 2023, 25 |
MDR 2023, 216 |
MedR 2024, 241 |
ErbR 2023, 245 |
r+s 2023, 932 |