Verfahrensgang

LG Paderborn (Entscheidung vom 10.09.2020; Aktenzeichen 5 T 195/20)

AG Paderborn (Entscheidung vom 21.08.2020; Aktenzeichen 11 XIV (B) 117/20)

 

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Paderborn vom 21. August 2020 und der Beschluss der 5. Zivilkammer des Landgerichts Paderborn vom 10. September 2020 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.

Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden der Landeshauptstadt Potsdam auferlegt.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

 

Gründe

Rz. 1

I. Der Betroffene, ein russischer Staatsangehöriger, reiste 2002 unerlaubt in das Bundesgebiet ein. Seinen unter Angabe falscher Personalien gestellten Asylantrag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) mit - zwischenzeitlich - bestandskräftigem Bescheid vom 25. Februar 2003 als offensichtlich unbegründet ab und forderte ihn unter Androhung der Abschiebung auf, das Bundesgebiet zu verlassen. Mit Bescheid vom 15. Oktober 2015 erließ die Ausländerbehörde Potsdam gegen den Betroffenen eine Ausweisungsverfügung. Dagegen erhob der Betroffene, nachdem er am 15. Oktober 2015 festgenommen worden war und anschließend eine Haftstrafe verbüßte, am 21. Januar 2019 Klage. Einen weiteren Asylantrag lehnte das Bundesamt mit Bescheid vom 22. Januar 2020 wiederum als offensichtlich unbegründet ab, wobei ihm abermals die Abschiebung angedroht wurde, falls er das Bundesgebiet nicht innerhalb von 30 Tagen verlassen haben sollte. Dagegen legte der Betroffene Klage zum Verwaltungsgericht Berlin ein, das seinen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung mit Beschluss vom 4. März 2020 zurückwies. Mit Beschluss vom 20. August 2020 stellte das Verwaltungsgericht Berlin unter Abänderung seines Beschlusses vom 4. März 2020 fest, dass die Klage gegen den Bescheid des Bundesamts vom 22. Januar 2020 aufschiebende Wirkung hat.

Rz. 2

Nachdem das Amtsgericht zuvor Abschiebungshaft bis zum 24. August 2020 angeordnet hatte und eine für den 24. August 2020 geplante Abschiebung an der fehlenden Genehmigung der russischen Behörden gescheitert war, hat es mit Beschluss vom 21. August 2020 auf Antrag der beteiligten Behörde die Haft bis zum 24. September 2020 verlängert.

Rz. 3

Ebenfalls am 21. August 2020 hat die beteiligte Behörde in Ergänzung ihres Bescheids vom 15. Oktober 2015 dem Betroffenen die Abschiebung in die Russische Föderation angedroht. Mit Bescheid vom 24. August 2020 hat auch das Bundesamt unter Neufassung von Ziff. 5 des Bescheids vom 22. Januar 2020 eine weitere Abschiebungsandrohung erlassen und eine Frist zur freiwilligen Ausreise von einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung mit der Maßgabe gesetzt, dass die Vollziehung ausgesetzt wird bis zum Ablauf der einwöchigen Klagefrist und - bei fristgerechter Stellung eines Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage - bis zur Bekanntgabe einer ablehnenden Entscheidung über den Eilantrag.

Rz. 4

Mit Beschluss vom 10. September 2020 hat das Landgericht die gegen die Haftanordnung des Amtsgerichts vom 21. August 2020 gerichtete Beschwerde zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde begehrt der Betroffene nach Ablauf des Haftzeitraums die Feststellung, dass die Beschlüsse des Amts- und des Landgerichts ihn in seinen Rechten verletzt haben.

Rz. 5

II. Die zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet.

Rz. 6

1. Das Beschwerdegericht hat angenommen, die Verlängerung der Haft sei rechtmäßig. Der Betroffene sei vollziehbar ausreisepflichtig. Der Bescheid des Bundesamts vom 24. August 2020 enthalte nunmehr eine vollziehbare Abschiebungsandrohung. Gegen diese Androhung habe der Betroffene nach Kenntnis des Gerichts auch kein Rechtsmittel eingelegt. Die Klagefrist sei mittlerweile abgelaufen. Überdies habe die beteiligte Behörde bereits am 21. August 2020 eine für sofort vollziehbar erklärte Abschiebungsandrohung ohne Gewährung einer Ausreisefrist erlassen. Es sei nicht erforderlich, dass die Haftandrohung vor der Haftentscheidung vorliege. Es genüge vielmehr, wenn deren Erlass während der Haftzeit zu erwarten sei.

Rz. 7

2. Diese Erwägungen halten der rechtlichen Überprüfung nicht stand. Es fehlte bereits an einer vollziehbaren Ausreisepflicht des Betroffenen.

Rz. 8

a) Eine solche ergab sich nicht aus dem Bescheid des Bundesamts vom 22. Januar 2020, weil die Abschiebungsandrohung, wie das Verwaltungsgericht Berlin mit Beschluss vom 20. August 2020 festgestellt hat, nicht sofort vollziehbar war.

Rz. 9

b) Auch die Abschiebungsandrohung im Bescheid der beteiligten Behörde vom 21. August 2020 bot keine Grundlage für die Annahme, der Betroffene sei vollziehbar ausreisepflichtig. Zwar hat sie ihm darin die Abschiebung in die Russische Föderation angedroht. Dieser Bescheid ergänzte aber lediglich die frühere Verfügung vom 14. Oktober 2015, enthielt jedoch keine selbständige Ausweisungsentscheidung. Die Ausweisungsentscheidung aus dem Jahr 2015 konnte die Ausreisepflicht des Betroffenen im Zeitpunkt der Haftentscheidung nicht mehr begründen, weil das Bundesamt auf Antrag des Betroffenen ein weiteres Asylverfahren durchgeführt hatte und diesem daher der Aufenthalt im Bundesgebiet nach § 55 Abs. 1 AsylG gestattet war (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Januar 2019 - V ZB 159/17, juris Rn. 20).

Rz. 10

c) Das Beschwerdegericht konnte sich schließlich nicht auf den Änderungsbescheid des Bundesamts vom 24. August 2020 und die darin enthaltene Abschiebungsandrohung stützen.

Rz. 11

aa) Für den vor Bekanntgabe des Bescheids vom 24. August 2020 angeordneten Haftzeitraum konnte dieser Bescheid schon keine tragfähige Grundlage bilden, weil die Abschiebungsandrohung, die nach § 59 Abs. 1 AufenthG eine unabdingbare Vollstreckungsvoraussetzung bildet, nicht wie erforderlich (BGH, Beschlüsse vom 21. August 2019 - V ZB 60/17, InfAuslR 2020, 28 Rn. 9; vom 31. August 2021 - XIII ZB 97/19, NVwZ-RR 2022, 115 Rn. 11) im Zeitpunkt der Verlängerung der Sicherungshaft vorlag.

Rz. 12

bb) Aber auch für den darüber hinaus gehenden Zeitraum konnte sich das Beschwerdegericht auf den Bescheid des Bundesamts vom 24. August 2020 nicht stützen, ohne den Betroffenen zuvor dazu anzuhören.

Rz. 13

Das Beschwerdegericht kann von der nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG an sich vorgeschriebenen und vom Gesetzgeber wegen der Bedeutung des Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht für nicht begründungsbedürftig gehaltenen (erneuten persönlichen Anhörung des Betroffenen (vgl. § 420 FamFG) nach Satz 2 der genannten Vorschrift - auch bei der gebotenen Berücksichtigung von Art. 6 Abs. 1 EMRK - absehen, wenn eine persönliche Anhörung des Betroffenen in erster Instanz erfolgt ist und zusätzliche Erkenntnisse durch eine erneute Anhörung nicht zu erwarten sind (näher BGH, Beschluss vom 21. September 2021 - XIII ZB 140/19, juris Rn. 24). Ob es von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, steht im Ermessen des Beschwerdegerichts (BGH, Beschluss vom 29. Oktober 2015 - V ZB 67/15, InfAuslR 2016, 54 Rn. 4). Die erneute persönliche Anhörung des Betroffenen ist aber zwingend, wenn das Beschwerdevorbringen eine weitere Sachaufklärung erwarten lässt, sich nach Erlass der Haftanordnung neue tatsächliche Gesichtspunkte ergeben haben oder sich das Beschwerdegericht auf Tatsachen stützen will, zu denen der Betroffene noch nicht gehört worden ist (BGH, Beschluss vom 21. September 2021 - XIII ZB 140/19, juris Rn. 24, mwN). Eine solche neue Tatsache ist ebenso wie das Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 71 Abs. 5, 8 AsylG, § 51 Abs. 5 VwVfG (BGH, Beschlüsse vom 11. Oktober 2012 - V ZB 274/11, InfAuslR 2013, 77 Rn. 11; vom 21. September 2021 - XIII ZB 140/19, juris Rn. 24) auch die erstmalige Androhung der Abschiebung. Damit hat sich die Grundlage für die Haftanordnung nicht nur geändert. Mit der Abschiebungsandrohung vom 24. August 2020 sind vielmehr erstmals die Voraussetzungen für die Haftanordnung geschaffen worden.

Rz. 14

3. Der Senat kann in der Sache selbst entscheiden (§ 74 Abs. 6 Satz 1 FamFG). Eine Zurückverweisung der Sache an das Beschwerdegericht kommt nicht in Betracht, da die hier nach § 68 Abs. 3, § 420 Abs. 1 FamFG erforderliche Anhörung wegen der Ausreise des Betroffenen nicht mehr möglich ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 17. März 2016 - V ZB 39/15, juris Rn. 10; vom 25. August 2020 - XIII ZB 101/19, juris Rn. 31; vom 23. Februar 2021 - XIII ZB 80/19, juris Rn. 16).

Rz. 15

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1, § 83 Abs. 2 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.

Kirchhoff     

Roloff     

Tolkmitt

Picker     

Holzinger     

 

Fundstellen

Haufe-Index 15507853

ZAR 2023, 6

Asylmagazin 2023, 82

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