Verfahrensgang
LG Göttingen (Urteil vom 26.04.2005) |
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Göttingen vom 26. April 2005 nach § 349 Abs. 4 StPO mit den jeweils zugehörigen Feststellungen aufgehoben
- im Strafausspruch, soweit der Angeklagte wegen Vergewaltigung verurteilt wurde,
- im Ausspruch über die Gesamtstrafe.
Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung (Einzelstrafe: drei Jahre und sechs Monate Freiheitsstrafe) und sexuellen Missbrauchs von Kindern in fünf Fällen (viermal ein Jahr und einmal ein Jahr und sechs Monate Freiheitsstrafe) unter Freisprechung im Übrigen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg. Während die Schuldsprüche und die für die Fälle des sexuellen Missbrauchs festgesetzten Einzelstrafen sachlichrechtlicher Nachprüfung standhalten, begegnet die für die Vergewaltigung (Fall II 2 der Urteilsgründe) ausgesprochene Strafe durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Das Landgericht hat insoweit die Voraussetzungen des § 21 StGB nicht rechtsfehlerfrei ausgeschlossen.
1. Nach den Feststellungen trank der Angeklagte im Laufe des 2. Januar 2005 (Zeitpunkt der Tat: 3. Januar 2005 zwischen 2.00 und 3.00 Uhr morgens) eine Flasche Wodka. Am Abend und in der Nacht zum 3. Januar nahm der Angeklagte bis 1.30 Uhr Longdrinks zu sich. Die genaue Menge der konsumierten Getränke konnte das Gericht nicht feststellen, obwohl die Zeugin M, die mitgetrunken hatte, bekundet hat, dass der Angeklagte „nicht mehr als sonst” getrunken habe. Ob und gegebenenfalls welche Angaben zur Trinkmenge der Angeklagte oder das Tatopfer gemacht haben, teilt das Urteil nicht mit. Im Wesentlichen aufgrund der weiteren Aussage der genannten Zeugin, wonach der Angeklagte keine Ausfallerscheinungen gezeigt habe, ist die sachverständig beratene Strafkammer zu der Auffassung gelangt, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit weder ausgeschlossen noch erheblich vermindert gewesen sei. Auch wenn der Angeklagte an diesem Abend beträchtlich alkoholisiert gewesen sein sollte, könnten wegen seiner Alkoholtoleranz und im Hinblick auf die Bekundungen der Zeugin die Voraussetzungen des § 21 StGB ausgeschlossen werden.
Demgegenüber hat das Landgericht in einem der Fälle des sexuellen Missbrauchs, bei dem der Angeklagte ebenfalls alkoholisiert war, die Voraussetzungen des § 21 StGB angenommen, obwohl auch in diesem Fall weder das Opfer noch später die Entnahmeärztin nennenswerte alkoholbedingte Ausfallerscheinungen bemerkt haben (Fall II 3 der Urteilsgründe). Im Unterschied zu Fall II 2 konnte hier aber die Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit mit etwa 3 ‰ errechnet werden. Die Strafkammer führt in diesem Zusammenhang aus, dass allein wegen der Höhe der ermittelten Blutalkoholkonzentration in diesem Fall eine erhebliche Einschränkung der Steuerungsfähigkeit nicht ausgeschlossen werden könne.
2. Die unterschiedliche Behandlung lässt besorgen, dass der Tatrichter nicht bedacht hat, dass auch in Fällen, in denen keine Blutprobe entnommen worden ist, dem Gericht die Aufgabe obliegt, sich aufgrund aller Erkenntnismöglichkeiten im Rahmen freier Beweiswürdigung eine Überzeugung von der vom Angeklagten vor der Tat genossenen Alkoholmenge zu verschaffen. Auf dieser Grundlage ist eine Tatzeit-Blutalkoholkonzentration zu errechnen, die bei der Beurteilung des möglichen Wegfalls des Einsichts- oder Steuerungsvermögens zur Tatzeit in die erforderliche Gesamtwürdigung einzubeziehen ist (vgl. BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 22, 23; BGH StV 1993, 519). Denn für die Beantwortung der Frage, ob die Voraussetzungen des § 21 StGB gegeben sind, kommt es sowohl auf die Höhe der Blutalkoholkonzentration als auch auf die psychodiagnostischen Kriterien an (vgl. BGHSt 43, 66), wobei das Fehlen von Ausfallerscheinungen einer erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit nicht unbedingt entgegensteht (vgl. Tröndle/Fischer, StGB 53. Aufl. § 20 Rdn. 24 m.w.N.). Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass die Feststellung, der Angeklagte habe keine Ausfallerscheinungen gezeigt, allein auf den wenig aussagekräftigen Angaben einer zur fraglichen Zeit selbst angetrunkenen Zeugin beruht, wonach der Angeklagte „nicht hackedickevoll” gewesen sei und noch klar habe reden können.
Der Strafausspruch kann aus diesen Gründen keinen Bestand haben. Der Schuldspruch wird von dem Rechtsfehler nicht berührt. Es ist auszuschließen, dass der neue Tatrichter zu Feststellungen gelangt, die zur Anwendung von § 20 StGB führen. Der Wegfall der Einsatzstrafe zieht die Aufhebung der Gesamtstrafe nach sich. Bei Bildung einer neuen Gesamtstrafe wird zu Gunsten des Angeklagten mehr als bisher zu bedenken sein, dass vier der fünf Missbrauchstaten mehr als zwölf Jahre zurückliegen und die fünfte Tat die Erheblichkeitsschwelle des § 184 f Nr. 1 StGB nur knapp überschreitet.
Unterschriften
Basdorf, Häger, Gerhardt, Brause, Schaal
Fundstellen
Haufe-Index 2555455 |
NStZ-RR 2006, 72 |
SVR 2006, 270 |
BA 2006, 311 |