Normenkette
AufenthG § 62
Verfahrensgang
LG Wuppertal (Entscheidung vom 17.04.2020; Aktenzeichen 9 T 41/20) |
AG Solingen (Entscheidung vom 13.02.2020; Aktenzeichen 8 XIV (B) 5/20) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss der 9. Zivilkammer des Landgerichts Wuppertal vom 17. April 2020 aufgehoben.
Es wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Solingen vom 13. Februar 2020 den Betroffenen im Zeitraum vom 13. Februar 2020 bis zum 17. März 2020 in seinen Rechten verletzt hat.
Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden der Stadt Solingen auferlegt.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.
Gründe
Rz. 1
I. Der Betroffene ist türkischer Staatsangehöriger und verfügt über einen am 6. April 2009 ausgestellten Nüfus (türkischen Personalausweis). Er wurde in Deutschland geboren und zog im Alter von zwölf Jahren mit seinen Eltern wieder in die Türkei. 1996 kehrte er nach Deutschland zurück, um hier ein Studium aufzunehmen. Er heiratete später eine Deutsche, von der er seit 2008 geschieden ist. Sein Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis wurde mit Bescheid vom 30. April 2007 durch die zuständige Ausländerbehörde abgelehnt. Eine verwaltungsgerichtliche Klage hiergegen blieb ohne Erfolg. Einen weiteren Antrag des Betroffenen, ihm aus humanitären Gründen Aufenthalt in Deutschland zu gestatten, lehnte die beteiligte Behörde mit Ordnungsverfügung vom 14. November 2011 ab. Sie forderte ihn in dieser Verfügung auf, das Bundesgebiet bis zum 31. Januar 2012 zu verlassen, und drohte ihm für den Fall, dass er innerhalb dieser Frist das Bundesgebiet nicht verlassen haben sollte, die Abschiebung in die Türkei an. Gegen diese dem Betroffenen am gleichen Tage zu Händen seiner damaligen Verfahrensbevollmächtigten im ausländerrechtlichen Verfahren zugestellte Verfügung erhob der Betroffene Klage zum Verwaltungsgericht, die er mit Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten vom 14. August 2012 zurücknahm. Das Verwaltungsgericht stellte daraufhin mit Beschluss vom 15. August 2012 das Verfahren ein. Ohne Erfolg blieben eine Untätigkeitsklage des Betroffenen wegen Nichtbescheidung eines weiteren Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen vom 15. August 2012 und ein Antrag, der beteiligten Behörde im Wege der einstweiligen Anordnung zu untersagen, aufenthaltsbeendende Maßnahmen zu ergreifen. Der Betroffene wurde am 8. November 2012 von Amts wegen nach unbekannt abgemeldet und war seitdem für die beteiligte Behörde nicht mehr greifbar. Am Abend des 7. Februar 2020 wurde er bei einer Verkehrskontrolle von der Polizei festgenommen. Er gab den Polizeibeamten gegenüber an, er habe keinen festen Wohnsitz und nächtige immer an verschiedenen Stellen, wozu er keine näheren Angaben machen wolle. Er habe aber eine Eisdiele in Köln. Am 8. Februar 2020 ordnete das zuständige Amtsgericht gegen den Betroffenen im Wege der einstweiligen Anordnung Haft zur Sicherung seiner Abschiebung bis zum 14. Februar 2020 an.
Rz. 2
Am 13. Februar 2020 hat das Amtsgericht im Hauptsacheverfahren auf Antrag der beteiligten Behörde gegen den Betroffenen Haft zur Sicherung seiner Abschiebung in die Türkei bis zum 12. Mai 2020 angeordnet. Ein Versuch der beteiligten Behörde, den Betroffenen am 25. Februar 2020 auf dem Luftweg von Düsseldorf nach Istanbul abzuschieben, scheiterte nach einem Vermerk des beteiligten Polizeibeamten daran, dass der Betroffene bei der körperlichen Durchsuchung äußerte, er habe viele Probleme in der Türkei und werde auf keinen Fall fliegen, zumal er einen Erstantrag auf Asyl stellen wolle. Am 28. Februar 2020 leitete die beteiligte Behörde das Verfahren zur Ausstellung eines Passersatzpapiers ein. Am 17. März 2020 veranlasste sie die Entlassung des Betroffenen aus der Sicherungshaft, weil und nachdem das türkische Generalkonsulat die für den Folgetag geplante Vorführung des Betroffenen storniert und der Zentralstelle für Flugabschiebungen in Bielefeld mitgeteilt hatte, dass zur Zeit nicht absehbar sei, wann Rückführungen auf dem Luftweg in die Türkei wieder möglich seien. Die - mit dem Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der vollzogenen Haft fortgesetzte - Beschwerde des Betroffenen hat das Landgericht zurückgewiesen. Dagegen wendet sich dieser mit der Rechtsbeschwerde, deren Zurückweisung die beteiligte Behörde beantragt.
Rz. 3
II. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
Rz. 4
1. Das Beschwerdegericht hält die Haftanordnung für rechtmäßig. Ihr liege ein zulässiger Haftantrag zugrunde. Dieser enthalte insbesondere ausreichende Darlegungen zur vollziehbaren Ausreisepflicht des Betroffenen und zur erforderlichen Dauer der Haft. Die Haftanordnung sei auch in der Sache nicht zu beanstanden. Die vollziehbare Ausreisepflicht des Betroffenen ergebe sich aus der Ordnungsverfügung der beteiligten Behörde vom 14. November 2011. Diese sei den seinerzeitigen Verfahrensbevollmächtigten des Betroffenen zugestellt worden und nach Rücknahme der verwaltungsgerichtlichen Klage bestandskräftig. Der Einwand des Betroffenen, die Verfügung sei verjährt und ihm stehe ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu, sei im Haftanordnungsverfahren nicht zu prüfen; das sei Sache der Verwaltungsgerichte. Die Voraussetzungen für eine Rückführung des Betroffenen im Wege der Abschiebung hätten vorgelegen. Dieser habe nicht aufgrund seines Personalausweises zurückgeführt werden können, sondern ein Passersatzpapier benötigt. Er sei seit November 2012 unbekannten Aufenthalts und habe nicht mehr bei der Ausländerbehörde vorgesprochen. Der Haftgrund der Fluchtgefahr aufgrund fehlenden Aufenthaltsorts nach § 62 Abs. 3 Nr. 1, Abs. 3b Nr. 7 AufenthG sei gegeben. Der Betroffene sei nach Auslaufen seines Aufenthaltsrechts vollziehbar ausreisepflichtig geworden. Anders als bei dem konkreten Anhaltspunkt für Fluchtgefahr aufgrund nicht angezeigten Aufenthaltswechsels nach § 62 Abs. 3a Nr. 3 AufenthG sei ein vorheriger Hinweis über die Konsequenzen weder vorgesehen noch geboten.
Rz. 5
2. Diese Erwägungen halten einer rechtlichen Prüfung nicht stand. Die Haftanordnung des Amtsgerichts ist schon deshalb rechtswidrig, weil es an einem zulässigen Haftantrag fehlte. Das ist auf den zulässigen Antrag des Betroffenen nach § 62 FamFG festzustellen.
Rz. 6
a) Das Vorliegen eines zulässigen Haftantrags ist eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung. Zulässig ist der Haftantrag der beteiligten Behörde nur, wenn er den gesetzlichen Anforderungen an die Begründung entspricht. Erforderlich sind Darlegungen zur zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Abschiebungs- oder Überstellungsvoraussetzungen, zur Erforderlichkeit der Haft, zur Durchführbarkeit der Abschiebung oder Überstellung und zur notwendigen Haftdauer (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 5 FamFG). Zwar dürfen die Ausführungen zur Begründung des Haftantrags knapp gehalten sein, sie müssen aber die für die richterliche Prüfung des Falls wesentlichen Punkte ansprechen. Fehlt es daran, darf die beantragte Sicherungshaft nicht angeordnet werden (st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschluss vom 7. April 2020 - XIII ZB 53/19, InfAuslR 2020, 283 Rn. 7 mwN).
Rz. 7
b) Diesen Anforderungen wird der Haftantrag nicht gerecht.
Rz. 8
aa) Entgegen der Auffassung des Betroffenen genügen allerdings die Ausführungen der beteiligten Behörde zur Ausreisepflicht des Betroffenen den Anforderungen.
Rz. 9
(1)In einem Haftantrag ist nach § 417 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1, Satz 2 Nr. 5 FamFG darzulegen, aus welchen Gründen der Betroffene zweifelsfrei ausreisepflichtig ist. Dazu sind die Tatsachen vorzutragen, aus denen die beteiligte Behörde die Ausreisepflicht ableitet (BVerfG, InfAuslR 2012, 186 Rn. 23). Ergibt sich die Ausreisepflicht aus einem ausländerrechtlichen Bescheid, muss der Haftantrag eine Bezugnahme auf diesen Bescheid und Angaben zu seiner Vollziehbarkeit enthalten. Es genügt nicht, die Ausländerakte vorzulegen (BGH, Beschlüsse vom 29. April 2010 - V ZB 218/09, NVwZ 2010, 1508 Rn. 19 und vom 22. Juli 2010 - V ZB 28/10, NVwZ 2010, 1511 Rn. 12). Legt die beteiligte Behörde unter Vorlage einer Kopie des Bescheids dar, aus welchem Bescheid sie die Verlassenspflicht des Betroffenen ableitet und wann dieser vollziehbar geworden ist, bedarf es keiner näheren Darlegungen, soweit keine Anhaltspunkte für die Fehlerhaftigkeit der Angaben vorliegen (BGH, Beschluss vom 15. Dezember 2020 - XIII ZB 93/19, FGPrax 2021, 92 [Ls.] = juris Rn. 7).
Rz. 10
(2) Die danach erforderlichen Angaben enthält der Haftantrag der beteiligten Behörde. Diese leitet die Verlassenspflicht des Betroffenen aus ihrer Ordnungsverfügung vom 14. November 2011 ab und teilt mit, dass diese spätestens seit dem 12. Juni 2014 vollziehbar sei. Dem Haftantrag ist eine Kopie des Bescheids beigefügt, die am Ende auch das unterschriebene Empfangsbekenntnis der Verfahrensbevollmächtigten des Betroffenen enthält. Die Behörde führt ferner aus, dass der Betroffene erfolglos mehrere verwaltungsgerichtliche Verfahren durchgeführt hat; die einschlägigen verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen sind beigefügt.
Rz. 11
bb) Nicht ausreichend sind aber die Angaben der beteiligten Behörde zur Durchführbarkeit der Abschiebung und zur erforderlichen Dauer der Haft.
Rz. 12
(1) Dazu enthält der Haftantrag folgende Ausführungen:
„Sowohl die Ausstellung eines Passersatz-Papieres, auch in Fällen ohne Sachbeweise, als auch die Abschiebung sind innerhalb von 3 Monaten möglich.
Nach den Hinweisen der für die Passersatz-Beschaffung zuständigen zentralen Ausländerbehörden gestaltet sich das Verfahren wie folgt:
[...]
Dass eine Passersatzbeschaffung innerhalb von ungefähr 2 Monaten möglich ist (auch dann, wenn keine Dokumente über die Identität vorliegen) und damit die Abschiebung innerhalb von 3 Monaten durchgeführt werden kann, wird bewiesen durch eine Anzahl von diesbezüglich dokumentierten Fällen in der o. g. bundesweiten Fallsammlung der Clearingstellen für Passbeschaffung.
Die dort verzeichneten Fälle sind laut BGH (Beschluss vom 10.6.2010 - V ZB 205/09 - Rn. 10) geeignet, den Nachweis zu führen, dass der Haftausschlussgrund gemäß § 62 Abs. 3 S. 4 AufenthG nicht gegeben ist.
Die beantragte Haftdauer von drei Monaten ist daher erforderlich und angemessen.“
Rz. 13
(2) Diese Ausführungen der beteiligten Behörde sind vor dem Hintergrund, dass die Haft auf die kürzest mögliche Dauer zu beschränken ist, unzureichend (§ 62 Abs. 1 Satz 2 AufenthG).
Rz. 14
Das gilt schon für die Angaben zu den Grundlagen der Rückführung türkischer Staatsangehöriger aus Deutschland in die Türkei. Einschlägig hierfür ist das Abkommen zwischen der Europäischen Union und der Republik Türkei über die Rückübernahme von Personen mit unbefugtem Aufenthalt vom 16. Dezember 2013 (ABl. EU 2014 Nr. L 134 S. 3 - fortan Abkommen). Nach dessen Art. 3 Abs. 1 setzt die Rückführung türkischer Staatsangehöriger, die in Deutschland nicht oder nicht mehr zum Aufenthalt befugt sind, ein Rücknahmeersuchen und den Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit der zurückzunehmenden Person voraus. Nach Art. 9 Abs. 1, Anhang 1 des Abkommens kann der Nachweis durch jedweden Personalausweis, nach Anhang 2 des Abkommens sogar mit einem abgelaufenen Personalausweis geführt werden. In dem Haftantrag wird zwar erwähnt, dass die Türkei das Abkommen nicht einhalte. Worin die Abweichung der Türkei von den Vorgaben des Abkommens besteht und welche Auswirkungen etwaige Abweichungen auf die Durchführbarkeit der Abschiebung und die Dauer der erforderlichen Haft haben, ergibt sich aus dem Haftantrag aber nicht.
Rz. 15
Danach fehlt es jedenfalls an ausreichenden Angaben zur erforderlichen Dauer der Haft. Die beteiligte Behörde hat zwar unter Hinweis auf die Fallsammlungen der Clearingstellen ausgeführt, die Passersatzbeschaffung sei innerhalb von zwei Monaten möglich. Die gebotenen und entscheidenden Angaben dazu, was konkret für den Betroffenen des vorliegenden Falls gilt, fehlen dagegen. Sie sind auch nicht entbehrlich. Es versteht sich nicht von selbst, dass auch hier mit einer Dauer von zwei Monaten zu rechnen ist. Denn der Betroffene verfügt über einen türkischen Personalausweis, der unabhängig davon, ob er noch gültig oder schon abgelaufen ist, nach dem Abkommen zum Nachweis der Staatsangehörigkeit ausreicht. Dem Haftantrag kann nicht entnommen werden, ob die beteiligte Behörde wegen einer Abweichung der türkischen Behörden hiervon oder aus anderen Gründen im Fall des Betroffenen die Ausstellung eines Passersatzpapiers für erforderlich hielt. Dem entspricht es, dass sie nach der Haftanordnung zunächst versucht hat, den Betroffenen unmittelbar durch Buchung eines Flugs und nur auf der Grundlage des Nüfus in die Türkei abzuschieben, und sich - mit der Aufforderung an den Betroffenen vom 28. Februar 2020, daran mitzuwirken - um die Beschaffung eines Reisedokuments erst bemüht hat, nachdem dies fehlgeschlagen war.
Rz. 16
c) Diese Defizite des Haftantrags sind nicht geheilt worden. Die an sich durch ergänzenden Vortrag der beteiligten Behörde mögliche Heilung solcher Defizite tritt nur nach erneuter persönlicher Anhörung des Betroffenen, nur für die Zukunft und auch erst mit der Entscheidung des Gerichts ein (BGH, Beschlüsse vom 12. Februar 2020 - XIII ZB 16/19, InfAuslR 2020, 241 Rn. 12, vom 24. Juni 2020 - XIII ZB 9/19, juris Rn. 10, und vom 15. Dezember 2020 - XIII ZB 55/19, juris Rn. 13 jeweils mwN). Diese Voraussetzungen liegen hier schon deshalb nicht vor, weil der Betroffene durch das Beschwerdegericht nicht erneut angehört worden ist und dieses nach Ablauf der Haftzeit entschieden hat.
Rz. 17
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 83 Abs. 2 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.
Meier-Beck |
|
Richterin Prof. Dr. Schmidt-Räntsch ist infolge Versetzung an eine oberste Bundesbehörde an der Unterschrift gehindert. |
|
Kirchhoff |
|
|
Meier-Beck |
|
|
|
Roloff |
|
Tolkmitt |
|
Fundstellen
Haufe-Index 15061363 |
NVwZ-RR 2022, 117 |
NVwZ-RR 2022, 6 |