Leitsatz (amtlich)
Zum Vorliegen eines Produktfehlers bei einem gebrochenen Keramikinlay einer Hüftendoprothese.
Normenkette
ProdHaftG §§ 1, 3
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des 4. Zivilsenats des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 16. Februar 2022 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Revisionsverfahrens, einschließlich der Kosten der Streithelferinnen der Beklagten.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Rz. 1
Die Klägerin nimmt die Beklagte, eine Gesellschaft mit Sitz in Österreich, nach dem Bruch des Keramikinlays ihrer Hüfttotalendoprothese auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens in Anspruch.
Rz. 2
Der Klägerin wurde am 10. August 2007 in der Klinik der Streithelferin zu 1 der Beklagten eine von der Beklagten hergestellte Hüfttotalendoprothese implantiert. Die Pfanne dieser Prothese bestand aus einem Keramikinlay aus dem Material F. mit dem Durchmesser 36 mm. Das Inlay war bei der Streithelferin zu 2 der Beklagten produziert und bei der Beklagten bzw. in einem Zulieferbetrieb durch Mitarbeiter der Beklagten in eine Metallummantelung (sog. Hütchen) eingepresst worden. Die Prothese wurde am 25. Juli 2011 bei der Streithelferin zu 1 ausgewechselt, nachdem das Keramikinlay in dem Hütchen gebrochen war.
Rz. 3
Das Landgericht hat unter anderem nach Einholung eines Gutachtens des Sachverständigen B. und dessen Anhörung die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat nach Anhörung des Sachverständigen B. und Einholung eines Gutachtens des Sachverständigen K. und dessen Anhörung die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe
A.
Rz. 4
Das Berufungsgericht, dessen Urteil unter anderem in ZfPC 2022, 134 veröffentlicht ist, hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt:
Rz. 5
Der Klägerin stünden die geltend gemachten Schadensersatzansprüche aus § 1 Abs. 1, §§ 8, 9 ProdHaftG i.V.m. § 253 BGB nicht zu. Sie habe nicht bewiesen, dass die ihr am 10. August 2007 implantierte Hüfttotalendoprothese einen Produktfehler im Sinne des § 3 ProdHaftG aufgewiesen habe, der zum Bruch des Keramikinlays geführt habe. Die Klägerin könne sich auch nicht darauf stützen, dass ein sogenannter potentieller Serienfehler vorliege und es deshalb keines Beweises eines Fabrikations- oder Konstruktionsfehlers bedürfe. Zwar könne auf der Grundlage der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH, NJW 2015, 1163) bei bestimmten medizinischen Produkten ein Fehler im Sinne des § 3 Abs. 1 ProdHaftG bereits dann bejaht werden, wenn bei einer signifikanten Anzahl von Produkten derselben Produktgruppe oder Produktionsserie eine Fehlfunktion aufgetreten sei, ohne dass ein Fehler des konkreten Produkts nachgewiesen werden müsse. Im Streitfall stehe dies aber nicht fest. Zu betrachten seien nur die Bruchraten von Keramik/Keramik-Gleitpaarungen der Größe 36 mm, da ein Keramikinlay aus dem Material F. der Größe 36 mm gegenüber einem Inlay aus demselben Material kleinerer Größe relevante Unterschiede aufweise und daher einer anderen Produktgruppe zuzuordnen sei. Größere Pfannen- und Kugeldurchmesser als 28 mm hätten den Vorteil eines erweiterten Bewegungsausmaßes der Kugel in der Pfanne und gleichzeitig ein vermindertes Risiko einer Luxation (Ausrenken). Damit gehe einher, dass die Pfanne und das Keramikinlay dünnwandiger gestaltet werden müssten. Ein Operateur treffe die Entscheidung für eine Keramik/Keramik-Gleitpaarung der Größe 36 mm oder kleiner regelmäßig nach den physiologischen Voraussetzungen des Patienten. Es lasse sich nicht feststellen, dass die Bruchrate des von der Beklagten hergestellten Keramikinlays aus dem Material F. der Größe 36 mm signifikant von der Bruchrate von Keramikinlays anderer Hersteller aus dem Material F. der Größe 36 mm abweiche. Es fehle bereits an einer hinreichenden Datenbasis. Der Sachverständige K. habe ausgeführt, dass die Datenlage gänzlich unzureichend sei und bis zur Einführung einer Meldepflicht Meldungen an den jeweiligen Hersteller selten und uneinheitlich erfolgt seien. Selbst wenn man jedoch, der Klägerin und dem Sachverständigen K. folgend, die Bruchrate der von der Beklagten hergestellten Keramikinlays der Größe 36 mm aus dem Material F. (0,82 %) mit der Bruchrate von Inlays aus demselben Material aller Größen vergleiche (0,2 %), reiche dies nicht aus, um eine Haftung der Beklagten wegen eines potentiellen Fehlers begründen zu können. Im Übrigen sei die Situation des Benutzers einer Hüfttotalendoprothese nicht mit der des Benutzers eines Herzschrittmachers oder eines implantierbaren Cardioverten Defibrillators, wie sie der Entscheidung des Unionsgerichtshofs zugrunde liege, vergleichbar. Bei diesen Implantaten begründe bereits der Verdacht eines Produktfehlers die Notwendigkeit der Explantation. Allein, dass ein Bruch mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,82 % auftrete, lasse jedoch keinen präventiven operativen Austausch einer Hüftprothese erwarten.
Rz. 6
Die Klägerin habe auch keinen Instruktionsfehler der Beklagten nachgewiesen. Ein ernstzunehmender Verdacht, dass ein über das generell bestehende Bruchrisiko hinausgehendes Risiko vorgelegen habe, weil das Keramikinlay der Größe 36 mm dünnwandiger hergestellt werden müsse, lasse sich für den Zeitpunkt des Inverkehrbringens der streitgegenständlichen Prothese nicht feststellen. Die abstrakte Erkenntnis, dass ein Keramikinlay umso eher breche, je dünnwandiger es sei, reiche nicht aus. Nach dem unwidersprochenen Vortrag der Beklagten hätten die Pfannen der Beklagten mit der Größe 36 mm die durchgeführten Bersttests bestanden. Bruchereignisse seien trotz Verwendung seit 2005 erstmals 2009 bekannt geworden.
Rz. 7
Ein Fabrikationsfehler liege nicht bereits deshalb vor, weil das Keramikinlay einen Abstand von 0,65 mm zum oberen Metallrand der Metallummantelung aufgewiesen habe. Dass dies Auswirkungen auf die Bruchsicherheit des Keramikinlays gehabt habe, habe der Sachverständige B. nicht feststellen können. Er habe auch nicht angenommen, dass das Inlay gebrochen sei, weil es verkantet in die Metallummantelung eingesunken oder mit zu hohem oder zu geringem Druck in das Hütchen eingepresst worden sei.
Rz. 8
Der Umstand, dass es überhaupt zu einem Bruch des Inlays gekommen sei, lasse noch keinen Rückschluss auf das Vorliegen eines Konstruktionsfehlers zu. Ein Konstruktionsfehler könne auch nicht darin gesehen werden, dass die Beklagte für das Inlay das Material F. und nicht das Material D. verwendet habe. Es sei zwar unstreitig, dass die Streithelferin der Beklagten zu 2 das Material D. bereits 2004 auf den Markt gebracht habe; angesichts der Dauer von Zulassungsverfahren für Medizinprodukte könne daraus aber nicht der Schluss gezogen werden, dass die Beklagte dieses Material bereits im Jahr 2007 für Hüfttotalendoprothesen hätte einsetzen können. Zudem habe sich nach den Feststellungen des Sachverständigen K. die Erwartung, dass das Material D. die Bruchgefahr bei Pfannen der Größe 36 mm vermindere, nicht erfüllt.
B.
Rz. 9
Die zulässige Revision der Klägerin hat keinen Erfolg.
Rz. 10
I. Entgegen der Auffassung der Beklagten in der mündlichen Revisionsverhandlung ist die Revision unbeschränkt zulässig. Eine Beschränkung der Zulassung der Revision zur Klärung der Rechtsfrage, ob die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zum potentiellen Fehler (EuGH, NJW 2015, 1163) auf den Streitfall anwendbar ist, wäre unzulässig (vgl. Senatsurteil vom 24. Mai 2022 - VI ZR 1215/20, VersR 2022, 1034 Rn. 14 mwN).
Rz. 11
II. Die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte, die auch unter der Geltung des § 545 Abs. 2 ZPO von Amts wegen in der Revisionsinstanz zu prüfen ist (vgl. Senatsurteil vom 9. August 2022 - VI ZR 1244/20, NJW 2022, 3072 Rn. 7 mwN), liegt vor.
Rz. 12
1. Da die Klage vor dem 10. Januar 2015 erhoben worden ist, ergibt sich die Zuständigkeit der deutschen Gerichte aus Art. 5 Nr. 3 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (im Folgenden: Brüssel I-VO). Nach Art. 66 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (im Folgenden: Brüssel Ia-VO) ist die Brüssel Ia-VO nur auf Verfahren anzuwenden, die am 10. Januar 2015 oder danach eingeleitet worden sind (vgl. BGH, Urteil vom 28. Januar 2016 - I ZR 60/14, NJW-RR 2016, 498 Rn. 15).
Rz. 13
2. Nach Art. 5 Nr. 3 Brüssel I-VO kann eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, in einem anderen Mitgliedstaat verklagt werden, wenn eine unerlaubte Handlung oder eine Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, oder wenn Ansprüche aus einer solchen Handlung den Gegenstand des Verfahrens bilden. Zuständig ist dann das Gericht des Ortes, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist oder einzutreten droht. Nach Art. 60 Abs. 1 Brüssel I-VO haben Gesellschaften und juristische Personen für die Anwendung dieser Verordnung ihren Wohnsitz an dem Ort, an dem sich ihr satzungsmäßiger Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung befindet.
Rz. 14
3. Der Begriff der unerlaubten Handlung in Art. 5 Nr. 3 Brüssel I-VO ist autonom auszulegen und zwar in der Hinsicht, dass er sich auf jede Klage bezieht, mit der eine Schadenshaftung des Beklagten geltend gemacht wird, die nicht an einen Vertrag im Sinne von Art. 5 Nr. 1 Buchst. a Brüssel I-VO anknüpft (vgl. EuGH, NJW 2015, 1581 Rn. 44). Hierunter fallen auch Ansprüche gegen den Hersteller eines Produkts aus Produkthaftung (vgl. EuGH, RIW 2014, 139 Rn. 18 ff.; Wagner in: Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl., Art. 7 EuGVVO Rn. 124).
Rz. 15
Der Ausdruck "Ort, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist" in Art. 5 Nr. 3 Brüssel I-VO ist nach ständiger Rechtsprechung des Unionsgerichtshofs so zu verstehen, dass er sowohl den Ort, an dem der Schaden eingetreten ist, als auch den Ort des diesem Schaden zu Grunde liegenden ursächlichen Geschehens meint. Der Hersteller kann vor dem Gericht eines dieser beiden Orte verklagt werden (vgl. EuGH, RIW 2014, 139 Rn. 23 mwN; Senatsurteil vom 17. März 2015 - VI ZR 11/14, NJW-RR 2015, 941 Rn. 14). Da der Schaden der Klägerin in Deutschland eingetreten ist, kann sie vor einem deutschen Gericht klagen.
Rz. 16
III. Der Klägerin steht der geltend gemachte Anspruch auf materiellen und immateriellen Schadensersatz weder nach §§ 1, 3, 8, 9 ProdHaftG noch nach § 823 Abs. 1 BGB zu.
Rz. 17
1. Auf den Streitfall ist deutsches Recht anwendbar.
Rz. 18
a) Die richtige Anwendung des deutschen internationalen Privatrechts ist in der Revisionsinstanz von Amts wegen zu prüfen (Senatsurteil vom 9. August 2022 - VI ZR 1244/20, NJW 2022, 3072 Rn. 15 mwN).
Rz. 19
b) Die Parteien haben in der mündlichen Verhandlung in der Revisionsinstanz eine ausdrückliche Rechtswahl zugunsten deutschen Rechts getroffen. Dabei kann offen bleiben, ob die Rechtswahl auf Art. 14 Abs. 1 Satz 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (im Folgenden: Rom II-VO) oder auf Art. 42 EGBGB beruht.
Rz. 20
aa) Die Rom II-VO ist nach ihrem Art. 31 nur auf schadensbegründende Ereignisse anzuwenden, die ab dem 11. Januar 2009 eingetreten sind (vgl. EuGH, NJW 2012, 441 Rn. 37). Im Fall der Produkthaftung sieht die weit überwiegende Ansicht als schadensbegründendes Ereignis das Inverkehrbringen des Produkts an (vgl. BeckOGK/Schulze/Fervers, Rom II-VO, Stand 01.08.2021, Art. 31 Rn. 15; MüKoBGB/Junker, 8. Aufl., Art. 31, Art. 32 Rom II-VO Rn. 6; BeckOK BGB/Spickhoff, VO (EG) 864/2007, Stand 01.05.2022, Art. 32 Rn. 4; HK-BGB/Dörner, Rom II-VO, 11. Aufl., Art. 32 Rn. 2; Grüneberg/Thorn, BGB, 82. Aufl., Art. 32 Rom II-VO Rn. 2; Engel in Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, 9. Aufl., Art. 31 Rom II-VO Rn. 3; Wurmnest, EuZW 2012, 933, 936; von Hein, ZEuP 2009, 6, 11). Der Klägerin wurde die Prothese am 10. August 2007 implantiert, das Inverkehrbringen des Produkts durch die Beklagte lag zeitlich davor. Sieht man hingegen die Rechtsgutsverletzung als schadensbegründendes Ereignis an (so Knöfel in Hüßtege/Mansel, BGB, 3. Aufl., Art. 32 Rom II-VO Rn. 10; wohl auch Leible/Lehmann, RIW 2007, 721, 724; offen Halfmeier, VuR 2014, 327, 329), ist Art. 14 Rom II-VO anzuwenden, da der Bruch des Inlays nach dem Vortrag der Klägerin erst im Jahr 2011 erfolgte.
Rz. 21
bb) Selbst wenn man mit der überwiegenden Ansicht Art. 14 Abs. 1 Satz 1 Buchst. a Rom II-VO im Streitfall nicht für anwendbar hält, ergibt sich die Möglichkeit der Rechtswahl aber aus Art. 42 EGBGB. Nach Art. 42 Satz 1 EGBGB können die Parteien - wie auch gemäß Art. 14 Abs. 1 Satz 1 Buchst. a Rom II-VO - nach Eintritt des Ereignisses, durch das ein außervertragliches Schuldverhältnis entstanden ist, das Recht wählen, dem es unterliegen soll. Ein letztmöglicher Zeitpunkt der Rechtswahl ergibt sich weder aus dem Wortlaut des Art. 42 EGBGB - auch nicht aus dem des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 Buchst. a Rom II-VO - noch aus Sinn und Zweck der Normen. Eine einvernehmliche Rechtswahl ist jedenfalls bis zum Ende der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz möglich (vgl. Senatsurteil vom 9. August 2022 - VI ZR 1244/20, NJW 2022, 3072 Rn. 19 mwN). Für diese Grenze spricht grundsätzlich, dass nach § 559 Abs. 1 Satz 1 ZPO nur dasjenige Parteivorbringen der Beurteilung des Revisionsgerichts unterliegt, das aus dem Tatbestand des Berufungsurteils oder dem Sitzungsprotokoll ersichtlich ist. Die tatsächliche Urteilsgrundlage wird durch das Ende der Berufungsverhandlung abgeschlossen. Neue Tatsachen dürfen im Revisionsverfahren grundsätzlich nicht berücksichtigt werden. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist § 559 Abs. 1 Satz 1 ZPO allerdings einschränkend dahin auszulegen, dass in bestimmtem Umfang auch Tatsachen, die sich erst während der Revisionsinstanz ereignen, in die Urteilsfindung einfließen können, soweit sie unstreitig sind und schützenswerte Belange der Gegenseite nicht entgegenstehen (Senatsurteil vom 9. August 2022 - VI ZR 1244/20, NJW 2022, 3072 Rn. 19 mwN). Der Gedanke der Konzentration der Revisionsinstanz auf die rechtliche Bewertung eines festgestellten Sachverhalts verliert nämlich an Gewicht, wenn die Berücksichtigung von neuen tatsächlichen Umständen keine nennenswerte Mehrarbeit verursacht und die Belange des Prozessgegners gewahrt bleiben. In einem solchen Fall ist durch die Zulassung neuen Vorbringens im Revisionsverfahren eine rasche und endgültige Streitbereinigung herbeizuführen (Senatsurteil vom 9. August 2022 - VI ZR 1244/20, NJW 2022, 3072 Rn. 19 mwN).
Rz. 22
So verhält es sich im Streitfall. Da der gesamte Rechtstreit - einschließlich der Revisionsinstanz - von beiden Parteien auf der Grundlage deutschen Rechts geführt wurde, verursacht die Rechtswahl keine Mehrarbeit und es sind auch keine schützenswerten Belange der Parteien erkennbar, die gegen die Berücksichtigung dieser neuen, unstreitigen Tatsache im Revisionsverfahren sprächen. Da die Rechtswahl alle anderen Anknüpfungen des Art. 5 Abs. 1 Rom II-VO bzw. des Art. 40 Abs. 1 EGBGB verdrängt, kommt es auf diese Regelungen nicht an.
Rz. 23
2. Das Berufungsgericht hat rechtsfehlerfrei angenommen, dass die Klägerin nicht nachgewiesen hat, dass das von der Beklagten hergestellte, der Klägerin im Jahr 2007 implantierte und im Jahr 2011 nach einem Bruch des Keramikinlays ausgetauschte Produkt im Sinne des § 3 Abs. 1 ProdHaftG fehlerhaft war.
Rz. 24
a) Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 ProdHaftG ist der Hersteller eines Produkts verpflichtet, demjenigen, dessen Körper oder Gesundheit durch den Fehler eines Produkts verletzt wird, den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen. Nach § 3 Abs. 1 ProdHaftG hat ein Produkt einen Fehler, wenn es nicht die Sicherheit bietet, die unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere seiner Darbietung, des Gebrauchs, mit dem billigerweise gerechnet werden kann, und des Zeitpunkts, in dem es in den Verkehr gebracht wurde, berechtigterweise erwartet werden kann. Die Sicherheit, die berechtigterweise erwartet werden kann, ist vor allem unter Berücksichtigung des Verwendungszwecks und der objektiven Merkmale und Eigenschaften des in Rede stehenden Produkts sowie der Besonderheiten der Benutzergruppe, für die es bestimmt ist, zu beurteilen (EuGH, NJW 2015, 1163 Rn. 38). Abzustellen ist also nicht auf die subjektive Sicherheitserwartung des jeweiligen Benutzers, sondern objektiv darauf, ob das Produkt diejenige Sicherheit bietet, die die in dem entsprechenden Bereich herrschende Verkehrsauffassung für erforderlich hält. Die nach § 3 Abs. 1 ProdHaftG maßgeblichen Sicherheitserwartungen beurteilen sich grundsätzlich nach denselben objektiven Maßstäben wie die Verkehrspflichten des Herstellers im Rahmen der deliktischen Haftung gemäß § 823 Abs. 1 BGB. Deshalb kann auch hier zwischen Fabrikations-, Konstruktions- und Instruktionsfehlern, die im Rahmen der deliktischen Produkthaftung der Kategorisierung der konkreten Verkehrspflichten dient, unterschieden werden (vgl. Senatsurteil vom 16. Juni 2009 - VI ZR 107/08, BGHZ 181, 253 Rn. 12 mwN). Für das Vorliegen eines Produktfehlers und den ursächlichen Zusammenhang zwischen Fehler und Schaden trägt nach § 1 Abs. 4 Satz 1 ProdHaftG der Geschädigte die Beweislast.
Rz. 25
b) Das Berufungsgericht hat das Vorliegen eines Fabrikationsfehlers ohne Rechtsfehler verneint. Entgegen der Auffassung der Revision hat das Berufungsgericht das Eingreifen eines Anscheinsbeweises im Streitfall nicht verkannt (im Folgenden unter aa)). Es ist auch rechtsfehlerfrei zu der Überzeugung gelangt, dass das Einsinken des Keramikinlays in die Metallummantelung keine Auswirkungen auf die Bruchsicherheit des Inlays hatte (im Folgenden unter bb)).
Rz. 26
aa) Die Frage, ob ein Anscheinsbeweis eingreift, unterliegt der Prüfung durch das Revisionsgericht (BGH, Urteile vom 18. Mai 2005 - VIII ZR 368/03, NJW 2005, 2395, 2397, juris Rn. 27; vom 5. Oktober 2004 - XI ZR 210/03, BGHZ 160, 308, 313, juris Rn. 22). Die Grundsätze über den Beweis des ersten Anscheins (zur Anwendbarkeit im Rahmen des § 1 Abs. 4 ProdHaftG: Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 11/5520, S. 13; MüKoBGB/Wagner, 8. Aufl., § 1 ProdHaftG Rn. 80; Katzenmeier/Voigt, ProdHaftG, 7. Aufl., § 1 Rn. 94; zur Vereinbarkeit nationaler Beweisregeln mit Art. 4 der Richtlinie 85/374/EWG des Rates vom 25. Juli 1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte vgl. EuGH, NJW 2017, 2739) sind nur bei typischen Geschehensabläufen anwendbar, das heißt in Fällen, in denen ein Sachverhalt feststeht, der nach der allgemeinen Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache oder auf einen bestimmten Ablauf als maßgeblich für den Eintritt eines bestimmten Erfolgs hinweist (Senatsurteil vom 1. Oktober 2013 - VI ZR 409/12, NJW-RR 2014, 270 Rn. 14; BGH, Urteil vom 18. Dezember 2019 - XII ZR 13/19, VersR 2020, 636 Rn. 32). Im Streitfall fehlt es an einem festgestellten typischen Geschehensablauf, der auf einen bestimmten Fehler im Sinne des § 3 Abs. 1 ProdHaftG als Ursache des Bruches hinweist. Etwas anderes ergibt sich - entgegen der Auffassung der Revision - auch nicht aus dem Gutachten des Sachverständigen K. Dieser hat ausgeführt, die höhere Ausfallrate von Keramikinlays der Beklagten aus dem Material F. der Größe 36 mm gegenüber gleichartigen Keramikinlays der Beklagten kleinerer Größen werde wahrscheinlich durch eine ungenügend kontrollierte bzw. reproduzierbare Fertigung und/oder eine für Medizinprodukte ungenügende Qualitätskontrolle hervorgerufen. Er hat weiter angeführt, die Ausfallrate sei zudem begünstigt durch eine dünne Pfannen- und Inlaywandstärke. Damit hat der Sachverständige K. jedoch nur mögliche Defizite im Herstellungsprozess der Beklagten als etwaige Ursachen des Bruchs aufgezeigt.
Rz. 27
bb) Revisionsrechtlich nicht zu beanstanden ist, dass das Berufungsgericht seine Überzeugung, dass kein für den Bruch des Inlays kausaler Fabrikationsfehler vorliegt, aufgrund des Gutachtens des Sachverständigen B. gewonnen hat. Auf dieser Grundlage hat das Berufungsgericht angenommen, dass es keine Auswirkungen auf die Bruchsicherheit des implantierten Keramikinlays hatte, dass das Inlay zum Zeitpunkt der Explantation um 0,65 mm in die Metallummantelung eingesunken war. Das Berufungsgericht war nicht gehalten, den Sachverständigen B. nochmals anzuhören oder ein weiteres Sachverständigengutachten einzuholen.
Rz. 28
Die Einholung eines weiteren Gutachtens steht im pflichtgemäßen Ermessen des Tatrichters (§ 412 Abs. 1 ZPO). Sie ist geboten, wenn die Sachkunde des bisherigen Gutachters zweifelhaft ist, das Gutachten von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht, es Widersprüche enthält oder der neue Sachverständige über Forschungsmittel verfügt, die denen des früheren Gutachters überlegen erscheinen (Senatsurteil vom 16. März 1999 - VI ZR 34/98, NJW 1999, 1778 f., juris Rn. 8 mwN). Unter Berücksichtigung des Vorbringens der Revision ist nicht erkennbar, dass das Berufungsgericht sein Ermessen in diesem Sinn fehlerhaft ausgeübt hätte. Das Berufungsgericht war auch nicht gehalten, den Sachverständigen B., den es bereits angehört hatte, nochmals anzuhören, § 411 Abs. 3 ZPO. Von einer näheren Begründung wird, auch hinsichtlich der in diesem Zusammenhang weiter erhobenen Verfahrensrügen, die der Senat geprüft hat und für nicht durchgreifend erachtet, abgesehen (§ 564 Satz 1 ZPO).
Rz. 29
c) Das Berufungsgericht hat zu Recht das Vorliegen eines Konstruktionsfehlers verneint. Die Revision wendet sich ohne Erfolg gegen dessen Bewertung, dass das Produkt dem gebotenen Sicherheitsstandard entsprochen habe. Das Berufungsgericht hat einen Konstruktionsfehler rechtsfehlerfrei weder darin gesehen, dass die Beklagte zur Herstellung des Keramikinlays das Material F. verwendete (im Folgenden unter bb) (1)), noch darin, dass das streitgegenständliche Produkt gegenüber Keramikinlays kleinerer Größen ein höheres Bruchrisiko aufweist (unter bb) (2)), und auch nicht darin, dass es überhaupt zu einem Bruch kam (unter bb) (3)).
Rz. 30
aa) Ein Konstruktionsfehler liegt vor, wenn das Produkt schon seiner Konzeption nach unter dem gebotenen Sicherheitsstandard bleibt. Zur Gewährleistung der erforderlichen Produktsicherheit hat der Hersteller bereits im Rahmen der Konzeption und Planung des Produkts diejenigen Maßnahmen zu treffen, die zur Vermeidung einer Gefahr objektiv erforderlich und nach objektiven Maßstäben zumutbar sind (vgl. Senatsurteil vom 16. Juni 2009 - VI ZR 107/08, NJW 2009, 2952 Rn. 15 mwN). Erforderlich sind die Sicherungsmaßnahmen, die nach dem im Zeitpunkt des Inverkehrbringens des Produkts vorhandenen neuesten Stand der Wissenschaft und Technik konstruktiv möglich sind und als geeignet und genügend erscheinen, um Schäden zu verhindern. Die Möglichkeit der Gefahrvermeidung ist gegeben, wenn nach gesichertem Fachwissen der einschlägigen Fachkreise praktisch einsatzfähige Lösungen zur Verfügung stehen. Hiervon kann grundsätzlich erst dann ausgegangen werden, wenn eine sicherheitstechnisch überlegene Alternativkonstruktion zum Serieneinsatz reif ist (vgl. Senatsurteil vom 16. Juni 2009 - VI ZR 107/08, BGHZ 181, 253 Rn. 16 mwN).
Rz. 31
bb) Nach diesen Grundsätzen hat das Berufungsgericht einen Konstruktionsfehler rechtsfehlerfrei verneint.
Rz. 32
(1) Ohne Erfolg rügt die Revision, die Beklagte hätte bei der Produktion des der Klägerin im Jahr 2007 implantierten Keramikinlays das Material D. statt des Materials F. verwenden müssen. Denn nach den Feststellungen des Berufungsgerichts fehlt es am Nachweis, dass das Material D. mehr Sicherheit vor einem Bruch des Keramikinlays geboten hätte als das Material F. Auf der Grundlage der Ausführungen des Sachverständigen K. hat das Berufungsgericht angenommen, dass das Material D. retrospektiv betrachtet die Erwartungen an eine geringere Bruchrate nicht erfüllt hat. Dies greift die Revision nicht an. Ist jedoch davon auszugehen, dass bei Verwendung des Materials D. tatsächlich keine Verbesserung der Bruchrate eingetreten wäre, stellt dieses Material zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens des Produkts keine sicherheitstechnisch überlegene Alternative gegenüber dem Material F. dar (vgl. zur Maßgeblichkeit nachträglicher Erkenntnisse im Arzthaftungsrecht Senatsurteil vom 18. März 2003 - VI ZR 266/02, NJW 2003, 1862, 1863, juris Rn. 11).
Rz. 33
(2) Das Berufungsgericht ist ohne Rechtsfehler davon ausgegangen, dass die Beklagte das streitgegenständliche Keramikinlay der Größe 36 mm auch angesichts eines gegenüber Keramikinlays aus demselben Material kleinerer Größen höheren Bruchrisikos in den Verkehr bringen durfte.
Rz. 34
(a) Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts geht mit Keramikinlays der Größe 36 mm gegenüber Keramikinlays kleinerer Größen der Nachteil einher, dass die Pfanne und damit das Keramikinlay dünnwandiger gestaltet werden muss, wobei ein Keramikinlay umso eher brechen kann, je dünnwandiger es ist. Auf der Grundlage des Gutachtens des Sachverständigen K. hat das Berufungsgericht festgestellt, dass Keramikinlays der Größe 36 mm aus dem Material F. auch tatsächlich eine höhere Bruchrate aufweisen (0,82 %) als Keramikinlays aller Größen (0,2 %). Brüche von Inlays der Größe 36 mm aus dem Material F. sind nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts jedoch erst im Jahr 2009 bekannt geworden. Eine erhöhte Bruchrate des streitgegenständlichen Inlays gegenüber Inlays anderer Hersteller derselben Größe und aus demselben Material hat das Berufungsgericht allerdings nicht feststellen können; hierfür fehlt es nach den Ausführungen des Sachverständigen K., denen das Berufungsgericht gefolgt ist, an einer geeigneten Datenbasis.
Rz. 35
(b) Sind bestimmte mit der Produktnutzung einhergehende Risiken - hier ein höheres Bruchrisiko - nach dem maßgeblichen Stand von Wissenschaft und Technik nicht zu vermeiden, ist unter Abwägung von Art und Umfang der Risiken, der Wahrscheinlichkeit ihrer Verwirklichung und des mit dem Produkt verbundenen Nutzens zu prüfen, ob das gefahrträchtige Produkt überhaupt in den Verkehr gebracht werden darf (Senatsurteil vom 16. Juni 2009 - VI ZR 107/08, BGHZ 181, 253 Rn. 17 mwN). Bei der erforderlichen Abwägung hat das Berufungsgericht - entgegen der Ansicht der Revision - zu Recht nicht nur die höhere Bruchrate von Keramikinlays der Größe 36 mm aus dem Material F. im Vergleich zu der von Inlays aus demselben Material kleinerer Größen berücksichtigt. Es hat auch den mit dem Produkt verbundenen Nutzen in seine Bewertung einbezogen. Hierzu hat es aufgrund des Gutachtens des Sachverständigen B. festgestellt, dass mit der Verwendung größerer Pfannen- und Kugeldurchmesser als 28 mm insbesondere der Vorteil eines erweiterten Bewegungsausmaßes der Kugel in der Pfanne verbunden ist und gleichzeitig das Risiko einer Luxation (Ausrenken) vermindert wird. Das Berufungsgericht hat weiter festgestellt, dass der Operateur die Entscheidung, ob eine Gleitpaarung der Größe 36 mm oder kleiner geeignet ist, regelmäßig nach den physiologischen Voraussetzungen des Patienten trifft; er wägt ab, ob der Patient wegen seiner größeren Beweglichkeit den mit dem größeren Durchmesser der Gleitpaarung verbundenen Schutz vor einer Luxationsgefahr benötigt. Aufgrund dieser Umstände, einer gegenüber vergleichbaren Produkten anderer Hersteller nicht feststellbar erhöhten Bruchrate und erstmals im Jahr 2009 bekannt gewordener Brüche hat das Berufungsgericht ohne Rechtsfehler angenommen, dass das streitgegenständliche Inlay nicht schon seiner Konzeption nach unter dem bei seinem Inverkehrbringen gebotenen Sicherheitsstandard blieb. Soweit die Revision in diesem Zusammenhang Verfahrensrügen erhoben hat, hat der Senat diese geprüft und nicht für durchgreifend erachtet. Von einer näheren Begründung wird abgesehen (§ 564 Satz 1 ZPO).
Rz. 36
(3) Einen Konstruktionsfehler hat das Berufungsgericht zu Recht auch nicht schon deshalb angenommen, weil das Inlay überhaupt gebrochen ist. Nach den tatbestandlichen Feststellungen des Berufungsgerichts ist unstreitig, dass zum Zeitpunkt der Implantation der Hüftprothese bei der Klägerin im August 2007 bei Keramik/Keramik-Gleitpaarungen Brüche der Pfannen nicht gänzlich ausgeschlossen waren und es deshalb auch nicht den berechtigten Sicherheitserwartungen im Sinne des § 3 Abs. 1 ProdHaftG entsprach, dass Brüche des Keramikinlays niemals vorkommen würden.
Rz. 37
d) Auch einen Instruktionsfehler hat das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei verneint. Die Beklagte musste beim Inverkehrbringen des Produkts nicht vor einer erhöhten Bruchanfälligkeit des Produkts warnen.
Rz. 38
aa) Der Hersteller hat zur Gewährleistung der erforderlichen Produktsicherheit diejenigen Maßnahmen zu treffen, die nach den Gegebenheiten des konkreten Falles zur Vermeidung einer Gefahr objektiv erforderlich und nach objektiven Maßstäben zumutbar sind. Lassen sich mit der Verwendung eines Produkts verbundene Gefahren nach dem Stand von Wissenschaft und Technik durch konstruktive Maßnahmen nicht vermeiden oder sind konstruktive Gefahrvermeidungsmaßnahmen dem Hersteller nicht zumutbar und darf das Produkt trotz der von ihm ausgehenden Gefahren in den Verkehr gebracht werden, so ist der Hersteller grundsätzlich verpflichtet, die Verwender des Produkts vor denjenigen Gefahren zu warnen, die bei bestimmungsgemäßem Gebrauch oder naheliegendem Fehlgebrauch drohen und die nicht zum allgemeinen Gefahrenwissen des Benutzerkreises gehören. Denn den Verwendern des Produkts muss eine eigenverantwortliche Entscheidung darüber ermöglicht werden, ob sie sich in Anbetracht der mit dem Produkt verbundenen Vorteile den mit seiner Verwendung verbundenen Gefahren aussetzen wollen. Sie müssen darüber hinaus in die Lage versetzt werden, den Gefahren soweit wie möglich entgegenzuwirken (Senatsurteil vom 16. Juni 2009 - VI ZR 107/08, BGHZ 181, 253 Rn. 23 mwN). Inhalt und Umfang der Instruktionspflichten im Einzelfall werden wesentlich durch die Größe der Gefahr und das gefährdete Rechtsgut bestimmt. Je größer die Gefahren sind, desto höher sind die Anforderungen, die in dieser Hinsicht gestellt werden müssen. Ist durch ein Produkt die Gesundheit oder die körperliche Unversehrtheit von Menschen bedroht, ist schon dann eine Warnung auszusprechen, wenn aufgrund eines ernst zu nehmenden Verdachts zu befürchten ist, dass Gesundheitsschäden entstehen können (Senatsurteil vom 16. Juni 2009 - VI ZR 107/08, BGHZ 181, 253 Rn. 24 mwN).
Rz. 39
bb) Einen solchen ernst zu nehmenden Verdacht, der eine Instruktionspflicht auslöst, hat das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei verneint. Die Prothese wurde der Klägerin im August 2007 implantiert. Brüche von Keramikinlays aus dem Material F. der Größe 36 mm, die die Beklagte seit dem Jahr 2005 verwendete, wurden nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts erstmals im Jahr 2009 bekannt. Die abstrakte Erkenntnis, dass ein Keramikinlay umso eher brechen kann, je dünnwandiger es ist, und dass Inlays der Größe 36 mm dünnwandiger hergestellt werden als Inlays kleinerer Größen, hat das Berufungsgericht zu Recht nicht ausreichen lassen. Rechtsfehlerfrei hat es auch berücksichtigt, dass das Produkt der Beklagten die durchgeführten Bersttests bestanden hat.
Rz. 40
e) Die Klägerin kann ihren Anspruch auch nicht auf die Grundsätze der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 5. März 2015 (EuGH, NJW 2015, 1163) zu dem durch Fehler bei anderen Produkten derselben Gruppe oder Produktionsserie gefestigten Fehlerverdacht beim konkreten Produkt stützen. Es kann offen bleiben, ob ein Produktfehler nach diesen Grundsätzen zu bejahen wäre, denn er wäre für den geltend gemachten Schaden jedenfalls nicht kausal.
Rz. 41
aa) Der Entscheidung des Unionsgerichtshofs lagen Fälle zugrunde, in denen der Austausch von Herzschrittmachern und implantierbaren Cardioverten Defibrillatoren vorsorglich zur Beseitigung einer Lebensgefahr im Fall des - noch nicht eingetretenen - Ausfalls dieser Geräte erfolgte (vgl. Senatsurteile vom 30. Juli 2013 - VI ZR 284/12, VersR 2013, 1450; vom 30. Juli 2013 - VI ZR 327/12, VersR 2013, 1451). Der Unionsgerichtshof hat ausgeführt, dass bei medizinischen Geräten wie Herzschrittmachern und implantierbaren Cardioverten Defibrillatoren die Anforderungen an ihre Sicherheit, die die Patienten zu erwarten berechtigt seien, in Anbetracht ihrer Funktion und der Situation besonderer Verletzlichkeit der diese Geräte nutzenden Patienten besonders hoch seien. Bei Produkten wie diesen bestehe der potenzielle Mangel an Sicherheit, der die Haftung des Herstellers auslöse, in ihrem außergewöhnlichen Schadenspotential für die betroffene Person. Daher könnten im Fall der Feststellung eines potenziellen Fehlers solcher Produkte derselben Produktgruppe oder Produktionsserie alle Produkte dieser Gruppe oder Serie als fehlerhaft eingestuft werden, ohne dass ein tatsächlicher Fehler des konkreten Produkts nachgewiesen zu werden brauche (vgl. EuGH, NJW 2015, 1163 Rn. 39 ff.; Senatsurteile vom 9. Juni 2015 - VI ZR 327/12, NJW 2015, 2507 Rn. 23 f.; VI ZR 284/12, NJW 2015, 3096 Rn. 14 f.).
Rz. 42
bb) Nach dem Vortrag der Klägerin führte der Bruch des Keramikinlays zu einer Fehlfunktion ihrer Prothese. Die daraufhin erfolgte Austauschoperation diente der Beseitigung dieser Fehlfunktion und nicht der Beseitigung der Gefahr eines künftigen Ausfalls des Produkts. Soweit die Revision dennoch meint, es liege ein einem tatsächlichen Fehler gleichzustellender gefestigter Fehlerverdacht bei dem konkreten Produkt im Sinne der Rechtsprechung des Unionsgerichtshofs vor, macht sie einen Umstand geltend, der nicht kausal für die eingetretene Körperverletzung, also die Primärverletzung im Sinne des § 1 Abs. 1 ProdHaftG, war (zum Begriff der Primärverletzung vgl. Senatsurteil vom 26. Juli 2022 - VI ZR 58/21, NJW 2022, 3509 Rn. 14 mwN). Ein für die Primärverletzung nicht kausaler Produktfehler kann die Haftung der Beklagten jedoch nicht begründen (vgl. hierzu Kaufmann/Seehafer, MedR 2017, 369, 374; Handorn/Martin, MPR 2016, 76, 80). Auf die Frage, ob die Rechtsprechung des Unionsgerichtshofs zu Herzschrittmachern und implantierbaren Cardioverten Defibrillatoren auf Gefahren übertragbar ist, die von anderen implantierbaren Produkten wie Hüftendoprothesen ausgehen, kommt es im Streitfall daher nicht an (für die Übertragbarkeit KG, GesR 2016, 96, juris Rn. 13 ff. mit abl. Anmerkungen Handorn/Martin, MPR 2016, 76 und Goehl, GesR 2016, 419; LG Bonn, Urteil vom 25. Januar 2017 - 9 O 125/14, juris Rn. 23; LG Freiburg, MPR 2019, 150, 159 f. mit ablehnender Anmerkung Nawroth, MPR 2019, 164, 165; Heynemann, GuP 2021, 32, 35 f.; Staudinger/Oechsler (2021), ProdHaftG, § 3 Rn. 122; einschränkend Timke NJW 2015, 3060, 3063 f.; Moelle/Dockhorn, NJW 2015, 1163, 1165; Wagner, JZ 2016, 292, 302 f.; MüKoBGB/Wagner, 8. Aufl., § 3 ProdHaftG Rn. 56; Sedlmaier/Martin, RAW 2015, 106, 108; Kaufmann/Seehafer, MedR 2017, 369, 373; zweifelnd Koch, VersR 2015, 1467, 1471; Brüggemeier, ZEuP 2016, 502, 508; Burckhardt, BB 2015, 661, 662).
Rz. 43
cc) Ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union (Art. 267 Abs. 3 AEUV) zur Auslegung des Art. 6 Abs. 1 Richtlinie 85/374/EWG im Hinblick auf seine Rechtsprechung zum potentiellen Fehler bei Herzschrittmachern und implantierbaren Cardioverten Defibrillatoren bedarf es - entgegen der Auffassung der Revision - nicht.
Rz. 44
3. Nach den Ausführungen unter 2. kommt auch ein Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB nicht in Betracht.
Seiters |
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von Pentz |
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Klein |
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Allgayer |
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Linder |
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Fundstellen
Haufe-Index 15873832 |
BB 2023, 2241 |