Leitsatz (amtlich)
›a) Der Versicherer ist dem künftigen Versicherungsnehmer nicht zur Vornahme einer Risikoprüfung verpflichtet. Es handelt sich um eine Obliegenheit, die eigenen Interessen wahrzunehmen.
b) Das Unterlassen einer ordnungsgemäßen Risikoprüfung, die nur bei Schließung des Vertrages vorgenommen werden kann, nimmt dem Versicherer die Rücktrittsberechtigung.
c) Ohne Aufklärung der Ursachen von Rückenschmerzen läßt sich in einer Berufsunfähigkeitsversicherung im allgemeinen eine ordnungsgemäße Risikoprüfung nicht durchführen.‹
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger unterhält seit 1987 bei der Beklagten eine Lebensversicherung mit eingeschlossener bis zum 1. Dezember 1995 laufender Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung. Seit der Berufungseinlegung beansprucht er noch für die Zeit vom 1. Februar 1989 bis 1. Dezember 1995 die im Fall einer mindestens 50%igen Berufsunfähigkeit zugesagte monatliche Rente von 4.000 DM Zug um Zug gegen Rückzahlung einer Beitragserstattung von 19.652,66 DM. Er beantragt eine zeitlich gestaffelte 4%ige Verzinsung der rückständigen Monatsbeträge. Ferner begehrt er die Feststellung, daß er für den genannten Zeitraum auch von Beitragszahlungen (23.592 DM jährlich) freigestellt sei.
Die Beklagte, die den Antrag des Klägers vom 15. Dezember 1986 uneingeschränkt annahm, hat unter dem 2. Januar 1990 den Rücktritt von der Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung erklärt und dazu geltend gemacht, bei der Erstellung des Formularantrages wie des großen ärztlichen Zeugnisses vom 11. Dezember 1986 habe der Kläger seine gesetzliche Anzeigeobliegenheit verletzt.
In der vom Kläger vorgelegten Antragskopie sind alle Gesundheitsfragen unbeantwortet geblieben, in der von der Beklagten vorgelegten Kopie sind alle Fragen verneint mit Ausnahme einer folgenlos gebliebenen Blinddarmoperation im Jugendalter. In beiden Kopien wird der Internist Dr. E. als der am besten über die Gesundheitsverhältnisse des Klägers informierte Arzt bezeichnet und wird Bezug genommen auf das ärztliche Zeugnis. Darüber, wie es zu den unterschiedlichen Eintragungen gekommen ist, streiten die Parteien.
In dem ärztlichen Zeugnis, das Dr. E. erstellt hat, sind eine Herabsetzung der Sehschärfe, Tonsillektomie (Mandelentfernung) und Appendektomie (Blinddarmentfernung) im Jugendalter und die Anfertigung eines EKGs vermerkt. Als Hausarzt ist Dr. E. angegeben. Als weiterer Arzt, der den Kläger in den letzten fünf Jahren "untersucht, beraten oder behandelt hat", ist Dr. B. genannt mit dem Zusatz "1986 Rückenschmerzen". Alle sonstigen Gesundheitsfragen sind verneint, u.a. die Frage nach Krankheiten, Störungen oder Beschwerden der Haut, Knochen oder Gelenke. Der ärztliche Untersuchungsbefund in dem Zeugnis enthält keine Krankheitsangaben außer der Behandlung eines "Thorakalsyndroms" im Jahre 1984. Die an den untersuchenden Arzt gerichtete Formularfrage "Halten Sie Skelett und Bewegungsapparat für gesund?", ist bejaht.
Als der Kläger der Beklagten im Februar 1989 anzeigte, er sei berufsunfähig geworden, wandte sich die Beklagte an den ihr im ärztlichen Zeugnis benannten Orthopäden Dr. B. Er teilte ihr mit, der Kläger sei seit 1986 wegen eines Wirbelsäulenleidens und einer Coxarthrose (Hüftgelenksarthrose) rechts behandelt worden und habe diese Erkrankungen seit Januar 1986 gekannt. Darauf ließ die Beklagte ein Gutachten erstellen. Danach soll der Kläger - läßt man die Coxarthrose außer Betracht, bei deren Berücksichtigung unstreitig eine über 50% liegende Berufsunfähigkeit vorliegt - lediglich zu 30% berufsunfähig sein, insbesondere wegen degenerativer Wirbelsäulenveränderungen.
Klage und Berufung des Klägers sind erfolglos geblieben. Mit der Revision verfolgt er seine Anträge weiter.
Entscheidungsgründe
Das Rechtsmittel hat Erfolg. Der Kläger kann die noch verlangten Leistungen beanspruchen, da die Beklagte nicht rechtswirksam von der Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung zurückgetreten ist und die bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit des Klägers bei Einbeziehung der Coxarthrose unstreitig ist.
I. 1. Die Revision wendet sich nicht dagegen, daß das Berufungsgericht aufgrund der Beweisaufnahme die Überzeugung gewonnen hat, der Kläger habe schon vor der Erstellung des ärztlichen Zeugnisses gewußt, daß er u.a. an einer Hüftgelenksarthrose rechts litt. Auf das ärztliche Zeugnis hat das Berufungsgericht zu Recht abgestellt, denn in beiden Antragskopien wird darauf zur Beantwortung der gestellten Fragen verwiesen. Auch im übrigen ist sein Vorgehen in diesem Zusammenhang rechtsfehlerfrei.
Die Revision vertritt die Ansicht, in der im ärztlichen Zeugnis festgehaltenen Mitteilung, daß 1986 von Dr. B. Rückenschmerzen des Klägers behandelt worden seien, liege auch die Angabe der ebenfalls behandelten Coxarthrose. Das trifft nicht zu. Gefragt wurde der Kläger in dem formularmäßig ausgestalteten Zeugnis u. a. gezielt nach Krankheiten, Störungen oder Beschwerden der Knochen und Gelenke. Auch von einem Laien auf medizinischem Gebiet werden Rücken und Hüftgelenke nicht gleichgesetzt. Rückenschmerzen können zwar durch eine Hüftgelenkserkrankung hervorgerufen werden; sie beruhen aber häufig auf anderen Ursachen. Rückenschmerzen führen keinesfalls zu einer Hüftgelenksarthrose. Bei einer Hüftgelenkserkrankung handelt es sich damit nicht um eine zwangsläufige Begleiterscheinung von Rückenschmerzen. Deren Angabe umfaßt deshalb nicht auch die Mitteilung einer bestehenden Coxarthrose. Die Revision bringt vor, es sei zu einer unvollständigen Befragung des Klägers durch den das ärztliche Zeugnis ausfüllenden Arzt gekommen. Er habe nicht alle Unterfragen vorgelesen und der Kläger habe ihm vertraut. Dr. E. hat als Zeuge auch bekundet, er habe dem Kläger jeweils nur den Obersatz der vorgedruckten Fragen vorgelesen. Indessen besteht die Formularfrage, deren Falschbeantwortung dem Kläger anzulasten ist, überhaupt nur aus dem Satz: "Leiden oder litten Sie an Krankheiten, Störungen oder Beschwerden der Haut, der Knochen oder Gelenke?" ohne weitere erläuternde Zusätze.
2. Auch nicht zum Erfolg verhelfen kann der Revision das Argument, den Kläger treffe an der Nichtangabe der Coxarthrose jedenfalls kein Verschulden, weil Dr. E. gehalten gewesen sei, bei der Angabe der 1986 von Dr. B. behandelten Rückenschmerzen nachzufassen. Selbst wenn letzteres zutrifft, ändert das nichts daran, daß der Kläger für die wahrheitsgemäße und vollständige Angabe von Gesundheitsumständen verantwortlich war, die nur er, nicht dagegen der Arzt kannte. Adressat der Anzeigeobliegenheit gemäß den §§ 16ff. VVG ist stets der künftige Versicherungsnehmer. Unzulängliche mündliche Angaben gegenüber einer formularausfüllenden Person - sei sie Agent oder vom Versicherer beauftragter Arzt - gereichen ihm zum Verschulden. Er hat keinen berechtigenden Anlaß darauf zu vertrauen, daß er nicht alles angeben müsse, was er zu seinem erfragten Gesundheitszustand weiß, wenn die formularausfüllende Person über diesen nicht umfassend informiert ist.
II. 1. Die Revision ist weiter der Auffassung, das Berufungsgericht habe sich mit den nachstehenden Ausführungen in Widerspruch zu der Senatsrechtsprechung gesetzt:
Die Beklagte sei auch nicht deshalb gehindert gewesen, wirksam von der Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung zurückzutreten, weil sie nicht von sich aus vor Vertragsschluß bei den Ärzten des Klägers weitere Einzelheiten seines Gesundheitszustandes erfragt habe. Nur bei unvollständigen oder widersprüchlichen Angaben gebiete es die besondere Treuepflicht des Versicherers rückzufragen.
Nach Ansicht des Berufungsgerichts ist im ärztlichen Zeugnis ein Widerspruch oder eine Unvollständigkeit nicht enthalten; ein Widerspruch lasse sich auch nicht daraus herleiten, daß die Frage nach Krankheiten, Störungen oder Beschwerden der Knochen und Gelenke verneint, jedoch eine Behandlung wegen Rückenschmerzen angegeben sei. Da der untersuchende Arzt Skelett und Bewegungsapparat für gesund befunden habe, habe die Beklagte guten Gewissens davon ausgehen können, daß es sich bei den angeblich nur 1986 behandelten Rückenschmerzen um eine harmlose und vorübergehende Angelegenheit gehandelt habe. Der Umstand, daß hier ein ärztliches Zeugnis erstellt worden sei, habe in entsprechendem Maße die Pflicht der Beklagten zur Herbeiführung einer Vervollständigung und Klärung der maßgeblichen Gesundheitsumstände herabgesetzt. Da Dr. E. zudem als Hausarzt angegeben gewesen sei, habe der Sachbearbeiter im Innendienst zu Recht annehmen können, der Arzt habe die Rückenschmerzen von 1986 abgeklärt.
2. a) Das Berufungsgericht befindet sich in Übereinstimmung mit der Senatsrechtsprechung, wenn es annimmt, der Versicherer könne nicht einerseits bei der Schließung des Vertrages die Klärung erkennbar widersprüchlicher oder unzulänglicher oder gar falscher Angaben seines künftigen Vertragspartners zurückstellen und sie andererseits nach Eintritt des Versicherungsfalles zum Anlaß für einen leistungsbefreienden Rücktritt nehmen.
b) Allerdings ist der Versicherer dem künftigen Versicherungsnehmer nicht zur Vornahme einer Risikoprüfung verpflichtet. Es handelt sich vielmehr um eine Obliegenheit des Versicherers, die eigenen Interessen wahrzunehmen.
Nur davon und nicht von einer Risikoprüfungspflicht hat der Senat in seiner Entscheidung vom 25. März 1992 - IV ZR 55/91 - VersR 1992, 603 - gesprochen, die teilweise auf heftigen Widerspruch (Dreher in JZ 1992, 925ff. und Lorenz in VersR 1993, 513ff.) gestoßen ist. Der Senat hat in der genannten Entscheidung mit Bedacht das Wort "gehalten" gewählt, um zum Ausdruck zu bringen, daß es bei der Risikoprüfung des Versicherers um die Wahrnehmung einer Obliegenheit geht. Er hat herausgestellt, daß die Risikoprüfung überhaupt nur bei Schließung des Vertrages (und nicht etwa erst nach Vertragsschluß) vorgenommen werden kann. Er hat weiter ausgesprochen, daß das Unterlassen der Risikoprüfung nicht nur, wie in den Entscheidungen in BGHZ 108, 326 und vom 28. November 1990 - IV ZR 219/89 - VersR 1991, 170 unter 3 a - allein angesprochen, zu einer Versäumung der Rücktrittsfrist führt, sondern dem Versicherer schon die Rücktrittsberechtigung nimmt. Dabei wurde betont, daß die Risikoprüfung auch nicht auf Teilausschnitte eines von dem Versicherer verwendeten umfassenden Fragenkataloges beschränkt werden und eine spätere Überprüfung des zunächst unberücksichtigt gelassenen Teils dem Versicherer die Rücktrittsmöglichkeiten der §§ 16ff. VVG offenhalten kann.
c) Die Annahme des Berufungsgerichts, die Beklagte habe bei Schließung des Vertrages ohne Gefährdung ihrer Rücktrittsberechtigung von einer Klärung, worum es sich bei den 1986 von Dr. B. behandelten Rückenschmerzen handelte, absehen können, hält einer Überprüfung nicht stand.
Unstreitig hat Dr. E. nur ein EKG angefertigt und im übrigen den Kläger lediglich körperlich ohne Einsatz irgendwelcher Geräte, d.h. insbesondere ohne Fertigung von Röntgenaufnahmen, untersucht. Orthopädie war für ihn als Internisten auch nicht das einschlägige Fachgebiet. Unterlagen des die Rückenschmerzen behandelnden Dr. B. hatte er nicht beigezogen. Demnach bestand für den Innendienstsachbearbeiter der Beklagten kein Anlaß zu der Annahme, Dr. E. habe bereits sachgerecht abgeklärt, daß es sich bei den nicht von ihm behandelten Rückenschmerzen nur um eine vorübergehende Bagatellgesundheitsstörung gehandelt habe, die als Gefahrumstand keine Rolle spielen konnte. Zu dieser Annahme gab es auch deshalb keine Veranlassung, weil die Beklagte in dem ärztlichen Zeugnis über der von dem Arzt zu leistenden Unterschrift vermerkt hat: "Für die Risikobeurteilung sind noch andere Gesichtspunkte als das Ergebnis der Untersuchung maßgeblich. Deshalb ist es nicht gestattet, durch Mitteilungen über das Versicherungswagnis der Risikobeurteilung des Versicherungsunternehmens vorzugreifen." Es mußte auch einem das Zeugnis durchgehenden medizinischen Laien auffallen, daß zwar im Fragenteil das Bestehen von Krankheiten, Störungen oder Beschwerden bezüglich der Knochen und Gelenke verneint worden war und daß der Arzt Skelett und Bewegungsapparat des Klägers als gesund beurteilte, daß aber bei der Frage, welcher Arzt außer ihm den Kläger in den letzten fünf Jahren untersucht, beraten oder behandelt habe, nicht lediglich Dr. B. genannt wurde, sondern hier zusätzlich vermerkt war "Rückenschmerzen, 1986". Damit waren die schriftlich fixierten Angaben zumindest unklar, denn immerhin waren die Rückenschmerzen erst vor kurzem behandelt worden. Zudem können Rückenschmerzen Anzeichen für schwerwiegende Erkrankungen sein. Ohne Aufklärung ihrer Ursachen läßt sich damit im allgemeinen eine ordnungsgemäße Risikoprüfung nicht durchführen.
Es gereicht dem Versicherer jedenfalls zum Nachteil, wenn sein Innendienstsachbearbeiter kritiklos und damit ohne sachgerechte Risikoprüfung aus den ihm vorliegenden Angaben und Untersuchungsergebnissen den voreiligen Schluß zieht, weitere Aufklärung könne hier unterbleiben. Dieser Schluß ist jedenfalls dann unberechtigt, wenn sich aus dem ärztlichen Zeugnis kein genügender Anlaß für die Annahme ergibt, der untersuchende Arzt könnte bereits fachkundig abgeklärt haben, daß angegebene Rückenschmerzen tatsächlich nur von belanglosen Gesundheitsstörungen herrührten. Mit dem Unterlassen der hier gebotenen Rückfrage steht zugleich fest, daß es mangels ordnungsgemäßer Risikoprüfung eine Rücktrittsberechtigung der Beklagten nicht gibt.
III. Zwischen den Parteien ist unstreitig, daß bei Mitberücksichtigung der auf die Coxarthrose zurückzuführenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers bei ihm bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit eingetreten ist. Auch Umfang und Dauer der Leistungspflicht der Beklagten für den Fall bedingungsgemäßer Berufsunfähigkeit des Klägers sind nicht mehr im Streit, seitdem der Kläger mit Rücksicht auf seine verzögerte Anspruchsgeltendmachung seine Forderungen, § 1 Nr. 4 der Besonderen Bedingungen für die Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung (Bl. 67 GA) entsprechend, auf den Zeitraum vom 1. Februar 1989 bis 1. Dezember 1995 beschränkt hat. Danach war die Beklagte antragsgemäß (d.h. zur Zahlung nur Zug um Zug) zu verurteilen.
Sie hat auch die Kosten des Rechtsstreits zu tragen, mit Ausnahme des Anteils, der auf die Nichtanfechtung des landgerichtlichen Urteils (den Zeitraum vom 1. Juli 1988 bis 31. Januar 1989 betreffend) entfällt.
Fundstellen
Haufe-Index 2993297 |
NJW 1995, 401 |
BGHR BB-BUZ §§ 1 ff., Risikoprüfung 1 |
BGHR VVG § 16 Risikoprüfung 2 |
NJW-RR 1995, 860 |
VersR 1995, 80 |