Leitsatz (amtlich)
a) Der Grundsatz, daß ein Verstoß gegen wertbezogene Normen per se sittenwidrig i.S. des § 1 UWG ist, ohne daß es der Feststellung weiterer Unlauterkeitsumstände bedarf, gilt nicht uneingeschränkt. Die besonderen Umstände des Einzelfalls (hier: eine allenfalls geringe Gefahr einer Beeinträchtigung der durch § 1 UWG geschützten Interessen aufgrund des Normverstoßes einerseits und ein Handeln in Wahrnehmung berechtigter Interessen andererseits) können Anlaß geben, auch bei derartigen Fallgestaltungen in eine – bei der Beurteilung eines Wettbewerbsverhaltens an sich regelmäßig gebotene – Prüfung des Gesamtverhaltens des Wettbewerbers nach seinem konkreten Anlaß, Zweck und Mittel, seinen Begleitumständen und Auswirkungen einzutreten.
b) Zur Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen es einem Hersteller von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln wettbewerbsrechtlich gestattet ist, sich gegenüber in der Öffentlichkeit erhobenen Angriffen Dritter, die nicht Wettbewerber sind (hier: massive Vorwürfe der Tierquälerei und Boykottaufruf seitens einer Tierschutzorganisation), im Wege einer – heilmittelwerberechtlich zu beanstandenden – Patienteninformation zur Wehr zu setzen.
Normenkette
UWG § 1; HWG §§ 4, 10 Abs. 1
Verfahrensgang
OLG Düsseldorf (Aktenzeichen 20 U 232/95) |
LG Düsseldorf (Aktenzeichen 34 O 55/95) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des 20. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 11. Juni 1996 aufgehoben.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil der 4. Kammer für Handelssachen des Landgerichts Düsseldorf vom 18. Oktober 1995 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten der Rechtsmittel.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Die Parteien sind pharmazeutische Unternehmen, die unter anderem Hormonpräparate gegen Beschwerden im Klimakterium herstellen und vertreiben.
Die Beklagte – Marktführerin in diesem Bereich – vertreibt die Arzneimittel „PR.” und „PR. C.”, bei denen das als Rohstoff benötigte Östrogen aus dem Harn trächtiger Stuten gewonnen wird. Wegen der Umstände, unter denen diese Pferde in den USA und Kanada gehalten werden, wurde der Beklagten von den Mitgliedern der Tierschutzorganisation P. () Deutschland e.V. Tierquälerei vorgeworfen. In einer aggressiven, publizistischen Kampagne, die in der Presse ein entsprechendes Echo fand, wurde zum Boykott der Produkte der Beklagten aufgerufen. Frauen, die unter Beschwerden im Klimakterium leiden, wurden aufgefordert, sich anstelle von „PR.” Arzneimittel auf pflanzlicher oder synthetischer Basis verschreiben zu lassen, wobei zum Teil das Produkt der Klägerin (mit-)genannt wurde. Die Beklagte wies sowohl gegenüber der P. Deutschland e.V. als auch gegenüber den Presseorganen die erhobenen Vorwürfe als falsch zurück. Von rechtlichen Schritten sah sie ab.
Mit einem Rundschreiben vom 24. Februar 1995 wandte sie sich an die niedergelassenen Ärzte und übersandte diesen Blocks von 50 auf Vorder- und Rückseite bedruckten Merkblättern und schrieb dazu, sie hoffe, daß diese helfen könnten, „verunsicherte Patientinnen über den wahren Sachverhalt aufzuklären”. Die Merkblätter waren wie folgt gestaltet:
Die Klägerin, deren Hormonpräparat aus einem synthetisch gewonnenen Rohstoff hergestellt wird, hat die Verwendung des Merkblattes als eine unzulässige Heilmittelwerbung beanstandet. Auf ihre Abmahnung verpflichtete sich die Beklagte strafbewehrt, in dem Fragenkatalog des Merkblattes auf die Frage: „Gibt es pflanzliche oder synthetische Hormonpräparate, die in der Zusammensetzung PR. entsprechen?” und die dazu gegebene Antwort zu verzichten.
Die Klägerin hat zuletzt beantragt,
Die Beklagte ist dem entgegengetreten. Die Verteilung des Merkblattes durch die Ärzte sei zur Abwehr der massiven Angriffe erforderlich und auch das geeignete Mittel gewesen. Sie habe mit dieser nicht für das von ihr vertriebene Arzneimittel geworben; es sei ihr nur darum gegangen, die durch die Medienkampagne verunsicherten Patientinnen zu beruhigen.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen.
Das Berufungsgericht hat die Beklagte antragsgemäß verurteilt.
Mit der Revision beantragt die Beklagte, das klagabweisende Urteil wiederherzustellen. Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
I. Das Berufungsgericht hat dem Unterlassungsbegehren entsprochen, weil die Beklagte gegen § 1 UWG i.V. mit § 4 Abs. 1 HWG (Klageantrag zu b) und § 10 Abs. 1 HWG (Klageantrag zu a) verstoßen habe. Dazu hat es ausgeführt:
Bei den Aussagen in dem Informationsblatt der Beklagten handele es sich um eine Werbung für Arzneimittel im Sinne des Heilmittelwerbegesetzes, ohne daß die gemäß § 4 Abs. 1 HWG erforderlichen Angaben gemacht worden seien. Das Informationsblatt sei, wie sich aus der ausdrücklichen Benennung der beiden Präparate „PR.” sowie „PR. C.” und aus der Gesamterscheinung des Blattes ergebe, keine allgemeine Firmen-, sondern eine produktbezogene Absatzwerbung. Dem stehe nicht entgegen, daß mit dem Merkblatt kein Bedarf und kein Kaufanreiz geweckt werde. Es sei ausreichend, daß lediglich Absatzeinbußen verhindert werden sollten.
Die Werbung mittels des Informationsblattes verstoße auch gegen § 10 Abs. 1 HWG. Die Beklagte stelle den Ärzten das verschreibungspflichtige Arzneimittel betreffende Merkblatt zur Verfügung, damit diese es an ihre Patientinnen, mithin Endverbraucher, weitergeben. Durch die Verbreitung im Rahmen des Arztgesprächs werde das Merkblatt auch nicht zu einem Teil der ärztlichen Beratung, wie sich schon daraus ergebe, daß die Patientinnen am Ende des Blattes aufgefordert würden, sich wegen weiterer Fragen an die Beklagte zu wenden.
Die Verteilung des Merkblattes stelle auch keine ausnahmsweise zulässige Abwehrmaßnahme dar. Die Beklagte habe sich zwar gegenüber den Boykottaufrufen der Tierschützer, insbesondere wenn die Negativpropaganda so falsch sei, wie in der Informationsbroschüre dargestellt, in einer schwierigen Lage befunden. Ihre Verstöße gegen das Heilmittelwerbegesetz würden dadurch aber nicht gerechtfertigt. Abwehrmaßnahmen dürften allenfalls gegen den Angreifer selbst gerichtet sein, nicht aber gegen § 3 UWG verstoßen oder andere Interessen der Allgemeinheit verletzen. Die Grundentscheidung des Gesetzgebers, dem Pharmahersteller den Weg zum Endverbraucher verschreibungspflichtiger Arzneien zu versperren, dürfe nicht unter Berufung auf einen Abwehreinwand unterlaufen werden. Dies gelte um so mehr, als die Beklagte weder gegen die P. Deutschland e.V. noch gegen die Presseorgane vorgegangen sei, die die entsprechenden Behauptungen übernommen hätten. Anlaß für ein Abwehrverhalten bestehe aber nur dann, wenn der Betroffene sich gegen den wettbewerblichen Angriff durch Inanspruchnahme gerichtlicher Hilfe nicht ausreichend wehren könne. Durch ein gerichtliches Verbot hätte dem bereits eingetretenen Imageschaden und der noch fortdauernden Schadensentwicklung auch hinreichend begegnet werden können.
II. Die gegen diese Beurteilung gerichteten Angriffe der Revision haben Erfolg. Sie führen zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Wiederherstellung des die Klage abweisenden landgerichtlichen Urteils.
Entgegen der Annahme des Berufungsgerichts hat die Beklagte mit der Verteilung der Merkblätter an Ärzte zum Zwecke der Weitergabe an Patientinnen nicht gem. § 1 UWG i.V. mit §§ 4, 10 Abs. 1 HWG gegen die guten Sitten im Wettbewerb verstoßen.
1. Für die wettbewerbsrechtliche Beurteilung kann dahinstehen, ob vom Berufungsgericht bejahte Verstöße gegen das Pflichtangabengebot des § 4 HWG und das Verbot der Publikumswerbung für verschreibungspflichtige Arzneimittel nach § 10 Abs. 1 HWG bereits deshalb ausscheiden, weil – wie die Revision meint – das Verhalten der Beklagten nicht unter den Begriff der Werbung für Arzneimittel i.S. des § 1 Abs. 1 Nr. 1 HWG fällt. Selbst wenn heilmittelwerberechtliche Verstöße vorlägen, wären sie unter den hier gegebenen besonderen Umständen nicht als wettbewerbswidrig zu beanstanden.
Allerdings ist ein Verstoß gegen Vorschriften, die – wie die des Heilmittelwerbegesetzes – dem Schutz der Gesundheit der Bevölkerung dienen, regelmäßig zugleich als Verstoß gegen § 1 UWG zu werten. Die Verletzung derartiger werthaltiger Normen, denen entweder eine dem Schutzzweck des UWG entsprechende sittlich-rechtliche Wertung zugrunde liegt oder die einen unmittelbaren Wettbewerbsbezug aufweisen, indiziert grundsätzlich die Unlauterkeit, ohne daß es der Feststellung weiterer Unlauterkeitsumstände bedarf (st. Rspr.; BGHZ 114, 354, 360 - Katovit; BGH, Urt. v. 2.5.1996 - I ZR 99/94, GRUR 1996, 806, 807 = WRP 1996, 1018 - HerzASS; Urt. v. 10.7.1997 - I ZR 51/95, WRP 1998, 181, 183 f. - Warentest für Arzneimittel). Der Grundsatz, daß Verstöße gegen wertbezogene Normen per se unlauter sind, gilt indessen nicht ausnahmslos. Die Beurteilung als unlauter beruht in derartigen Fällen weniger auf dem Gesetzesverstoß als solchem, sondern darauf, daß das durch die Norm verbotene Verhalten dem sittlich-rechtlichen Empfinden der Allgemeinheit widerspricht (Baumbach/Hefermehl, Wettbewerbsrecht, 20. Aufl., § 1 UWG Rdn. 611, 613). Es entspricht regelmäßig auch dem Schutzzweck des § 1 UWG, den Wettbewerb von solchen Wettbewerbshandlungen freizuhalten. Dies gilt auch dann, wenn die verletzte Norm selbst keinen unmittelbar wettbewerbsbezogenen Zweck verfolgt; denn es liegt auch in der Zielsetzung des § 1 UWG zu verhindern, daß die Lauterkeit des Wettbewerbs dadurch beeinträchtigt wird, daß Wettbewerb unter Mißachtung gewichtiger Interessen der Allgemeinheit betrieben wird (vgl. Baumbach/Hefermehl aaO § 1 UWG Rdn. 612). Das Verständnis der Sittenwidrigkeit im Sinne des § 1 UWG ist jedoch entscheidend am Schutzzweck dieser Vorschrift auszurichten. Dies erfordert es, Ausnahmen von dem Regelfall zuzulassen, daß sich die Sittenwidrigkeit einer Wettbewerbshandlung aus dem Schutzzweck der verletzten Norm ergeben kann, ohne daß weitere Momente hinzuzutreten brauchen. Die besonderen Umstände des Einzelfalls können Anlaß geben, auch bei derartigen Fallgestaltungen in eine – bei der Beurteilung eines Wettbewerbsverhaltens an sich regelmäßig gebotene – Prüfung des Gesamtverhaltens des Wettbewerbers nach seinem konkreten Anlaß, Zweck und Mittel, seinen Begleitumständen und Auswirkungen einzutreten (vgl. auch Beier/Schricker, GRUR 1993, 880, 883; Sack, WRP 1998, 683, 684). Vorliegend war – was das Berufungsgericht nicht hinreichend beachtet hat – eine solche Gesamtwürdigung geboten, die der Senat aufgrund des unstreitigen Sachverhalts selbst vornehmen kann.
2. Der Streitfall weist Besonderheiten auf, die es rechtfertigen, den Vorwurf der Sittenwidrigkeit trotz Verstoßes gegen HWG-Bestimmungen ausnahmsweise entfallen zu lassen: eine allenfalls geringfügige Gefahr einer Beeinträchtigung der durch § 1 UWG geschützten Interessen aufgrund einer nur marginalen Berührung der Schutzzwecke der in Rede stehenden HWG-Tatbestände einerseits und ein Handeln in Wahrnehmung berechtigter Interessen, deren Anerkennung vorliegend auch verfassungsrechtlich geboten ist, andererseits.
a) Vorrangiges Ziel des Heilmittelwerbegesetzes ist es, das Publikum vor unrichtiger und/oder unsachlicher Beeinflussung gerade im heiklen Bereich der Heilmittelwerbung zu bewahren (BGHZ 114, 354, 358 - Katovit). Mit der Einbeziehung produktbezogener Werbung in den Geltungsbereich des Gesetzes soll der Gefahr entgegengewirkt werden, daß ein bestimmtes, in seinen Wirkungen und Nebenwirkungen vom Publikum nicht überschaubares Mittel ohne ärztliche Aufsicht oder Kontrolle durch den abgebenden Apotheker mißbräuchlich angewandt werden könnte oder daß es dem Werbeadressaten ermöglicht wird, auf die Abgabe bestimmter Arzneimittel zu drängen (vgl. BGH, Urt. v. 15.12.1994 - I ZR 154/92, GRUR 1995, 223, 224 = WRP 1995, 310 - Pharma-Hörfunkwerbung, m.w.N.). Diese Zielrichtung des Heilmittelwerbegesetzes wird im Streitfall, wenn überhaupt, nur marginal berührt.
aa) Dies gilt zunächst für das Verbot der Werbung für verschreibungspflichtige Arzneimittel außerhalb der Fachkreise nach § 10 Abs. 1 HWG (Klageantrag zu a). Zwar ist die namentliche Nennung eines solchen Arzneimittels in einem Patienten-Informationsblatt grundsätzlich als unzulässige Publikumswerbung i.S. dieser Bestimmung anzusehen, wenn damit – mag auch in erster Linie eine Werbung für das Herstellerunternehmen bezweckt sein – eine Absatzwerbung für das Arzneimittel verbunden ist (vgl. BGH, Urt. v. 17.2.1983 - I ZR 203/80, GRUR 1983, 393 = WRP 1983, 393 - Novodigal/temagin). Der Annahme einer Absatzwerbung steht nicht entgegen, daß nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen des Berufungsgerichts mit dem Merkblatt weder ein Bedarf noch ein Kaufanreiz geschaffen, sondern lediglich Absatzeinbußen verhindert werden sollen. Denn der Wettbewerb beschränkt sich nicht auf die Gewinnung neuer Abnehmer, er erstreckt sich vielmehr auch auf die Erhaltung des bisherigen Kundenstammes (vgl. BGH, Urt. v. 17.12.1969 - I ZR 152/67, GRUR 1970, 465, 467 - Prämixe).
Gleichwohl handelt es sich vorliegend nicht um eine typische Publikumswerbung, wie sie dem Verbot des § 10 Abs. 1 HWG zugrunde liegt. Die Beklagte hat das Informationsblatt, das sich auf eine reine Verteidigung gegenüber den massiven Vorwürfen einer Tierschutzorganisation beschränkt und mit dem einer Verunsicherung von Patientinnen entgegengewirkt und Umsatzeinbußen verhindert werden sollen, nicht direkt an Patientinnen verschickt, sondern jeweils durch Ärzte im Rahmen des Beratungsgesprächs übergeben lassen. Dadurch war gewährleistet, daß nur die Patientinnen Kenntnis vom Inhalt des Merkblatts erhielten, denen das Mittel bereits in der Vergangenheit verschrieben worden war oder denen es erstmals verschrieben worden ist. Der beratende Arzt hatte sich bereits entschieden und es ging allein darum, ob die Patientin das Mittel trotz der Kampagne der Tierschutzorganisation – weiterhin oder auch erstmals – verwenden wollte. Es ist auch mit dem Berufungsgericht davon auszugehen, daß ein Arzt ein solches Merkblatt erfahrungsgemäß nicht kommentarlos übergeben, sondern es – wozu es nach dem Anschreiben vom 24. Februar 1995 auch gedacht ist – im Beratungsgespräch erwähnen wird. Er wird dabei entweder auf entsprechende Fragen der Patientinnen, denen die Vorwürfe bekannt geworden sind, reagieren und das Merkblatt übergeben oder aber von sich aus – vorbeugend – darauf hinweisen, daß das Mittel wegen der Gewinnung der Östrogene derzeit in die Kritik geraten sei, allerdings – wie sich aus dem Merkblatt ergebe – zu Unrecht. Der Nennung der Präparate „PR.” bzw. „PR. C.” im Merkblatt kommt dabei keine besondere werbende Bedeutung zu, da die Patientinnen diese Präparate vor Erhalt des Merkblatts entweder aufgrund vorangegangener Verschreibungen oder aufgrund unmittelbar zuvor erfolgter Benennung durch den Arzt bereits kannten. Da das Merkblatt auch nach seiner Gesamtgestaltung nur für solche Patientinnen bestimmt ist, die über das Präparat, dessen Bezeichnung und die Gewinnung des Rohstoffs aus dem Urin trächtiger Stuten sowie die damit verbundenen Presseberichte – gegebenenfalls aufgrund des beratenden Arztgesprächs – informiert sind und die über die Vorgänge aus der Sicht der Beklagten aufgeklärt werden sollen, werden die Patientinnen in dem Merkblatt vorrangig eine Verteidigung der Beklagten gegen die erhobenen Vorwürfe sehen. Das Merkblatt beginnt mit der Aussage „K. PHARMA wird seitens einer Organisation … beschuldigt …” und unter der Blickfangüberschrift „Was ist wahr?” werden lediglich die einzelnen Vorwürfe und die Antworten der Beklagten gegenübergestellt. Auch die Stellungnahmen auf der Rückseite des Merkblatts beschäftigen sich nur mit den Vorwürfen der Tierschutzorganisation. Abgesehen von einer Frage, zu deren Unterlassung sich die Beklagte strafbewehrt verpflichtet hat, enthält das Merkblatt lediglich aus Sicht der Beklagten sachlich richtigstellende Informationen über die Stutenhaltung und die Uringewinnung, wobei es im vorliegenden Verfahren nicht darauf ankommt, ob diese sämtlich zutreffen.
Eine über diese Verteidigung hinausgehende werbliche Wirkung für die Präparate „PR.” bzw. „PR. C.” hat das Merkblatt ersichtlich nicht. Die im Merkblatt erörterte Tatsache, daß das Präparat aus Stutenurin gewonnen wird und daß dies zu einer Kampagne gegen die Beklagte geführt hat, erscheint nicht geeignet, Patientinnen zu veranlassen, gerade deshalb das Mittel erwerben zu wollen. Die Weitergabe des Informationsblattes durch Ärzte berührt daher den Schutzzweck des § 10 Abs. 1 HWG – wenn überhaupt – nur am Rande.
bb) Für das Verbot der Arzneimittelwerbung ohne Pflichtangaben gem. § 4 HWG (Klageantrag zu b) gilt nichts anderes. Auch der Normzweck dieser Regelung wird allenfalls geringfügig beeinträchtigt. Sinn und Zweck der Pflichtangaben ist es, den Verbraucher vollständig über bestimmte medizinisch-relevante Merkmale eines Arzneimittels, insbesondere über dessen Indikation und Wirkungsweise zu informieren und ihn dadurch in die Lage zu setzen, sich über das jeweilige Präparat vor einem Kaufentschluß ein sachbezogenes Bild zu machen, wenn die Werbung überhaupt Angaben in dieser Richtung enthält (st. Rspr.; vgl. BGH GRUR 1996, 806, 807 - HerzASS; BGHZ 114, 354, 356 f. - Katovit, m.w.N.). Dem angegriffenen Merkblatt sind keine relevanten Angaben zu entnehmen, die eine weitere Information zwingend geboten erscheinen lassen. Zwar findet sich einleitend der Hinweis auf die Gewinnung von Rohstoffen aus Stutenurin und an späterer Stelle der Begriff des Hormonlieferanten. Die Frage, welche Rohstoffe gewonnen werden, ist indessen nicht eigentlicher Gegenstand der Erörterungen. Der einleitende Hinweis dient lediglich dem notwendigen Verständnis der nachfolgenden Ausführungen, bei denen es um die Haltung der Stuten geht. Überdies ist der Umstand, daß die Hormone aus Stutenurin gewonnen werden, gerade Inhalt der in der Presse erörterten Kampagne und des Boykottaufrufs, so daß der Erwähnung keine wesentliche, eine weitere Information erfordernde Wirkung zukommt. Die nach § 4 Abs. 1 HWG geforderten Pflichtangaben stehen mit der eigentlichen Auseinandersetzung in keinem inneren Zusammenhang.
Besitzt die Erwähnung des verwendeten Rohstoffs im Merkblatt danach nur eine untergeordnete Bedeutung, so ist die vorliegende Fallgestaltung weitgehend mit derjenigen der Erinnerungswerbung vergleichbar, die nur vorliegt, wenn ausschließlich mit der Bezeichnung des Arzneimittels oder zusätzlich mit dem Namen oder der Marke des Unternehmens geworben wird (§ 4 Abs. 6 HWG). Dort beruht die Freistellung von den Pflichtangaben weitgehend auf der – auch hier eingreifenden – Erwägung, daß mit der Werbung nur Verbraucher angesprochen werden, denen das Mittel bereits bekannt ist und deren weitere Unterrichtung daher entbehrlich erscheint (BGH GRUR 1996, 806, 807 - HerzASS, m.w.N.).
b) Das Berufungsgericht hat der Beklagten zu Unrecht die Berufung auf eine Abwehrsituation versagt. Seine Annahme, daß kein zulässiges Abwehrverhalten vorliege, weil sich ein solches nur gegen den Angreifer, nicht aber gegen Dritte oder Allgemeininteressen richten dürfe, greift zu kurz. Es ist zwar zutreffend, daß eine Abwehr gegen ein wettbewerbswidriges Verhalten eines Dritten grundsätzlich nur solche Maßnahmen rechtfertigen kann, die gegen diesen Dritten gerichtet sind (vgl. BGH, Urt. v. 27.1.1983 - I ZR 179/80, GRUR 1983, 335, 336 - Trainingsgerät; BGHZ 111, 188, 191 - Anzeigenpreis I; Teplitzky, Wettbewerbsrechtliche Ansprüche, 7. Aufl., Kap. 18 Rdn. 8). Um einen solchen Abwehreinwand gegenüber dem Wettbewerbsverhalten eines Mitbewerbers geht es hier indessen nicht; denn die Tierschutzorganisation, von der die Angriffe ausgegangen sind, steht in keinem Wettbewerbsverhältnis zur Beklagten. Das Berufungsgericht hat verkannt, daß der Vorwurf der Sittenwidrigkeit auch dann entfallen kann, wenn eine Beurteilung des Gesamtverhaltens ergibt, daß der Wettbewerber in Wahrnehmung berechtigter Interessen gehandelt hat (vgl. BGH GRUR 1970, 465, 466 f. - Prämixe; Urt. v. 22.1.1971 - I ZR 76/69, GRUR 1971, 259, 260 = WRP 1971, 222 - W.A.Z.; BGHZ 50, 1, 4 f. - Presseinformation durch Wettbewerber; v. Gamm, Wettbewerbsrecht, 5. Aufl., Kap. 18. Rdn. 59). Dabei steht der Anerkennung einer zulässigen wettbewerbsrechtlichen Abwehrsituation nicht ohne weiteres entgegen, daß der Abwehrende – wie hier – Mittel anwendet, die an sich unlauter sind. Es geht stets nur um die Frage, ob ein an sich unzulässiges Wettbewerbsverhalten ausnahmsweise durch die Abwehrlage, den Abwehrzweck und die Notwendigkeit der Abwehrmaßnahmen eine andere wettbewerbsrechtliche Beurteilung erfahren und daher wettbewerbsrechtlich nicht beanstandet werden kann. Daraus ergibt sich, daß aufgrund dieser Sondersituation bei der Abwehr gegnerischen Verhaltens die Grenzen dessen, was als gegen die guten Sitten verstoßend anzusehen ist, anders und weiter zu ziehen sind als bei Wettbewerbsverhalten, bei denen eine Abwehr und Verteidigung nicht in Frage kommt (vgl. zum Vorstehenden BGH GRUR 1971, 259, 260 - W.A.Z.).
aa) Zu Recht hat das Berufungsgericht der Beklagten zugebilligt, daß sie sich in einer schwierigen Abwehrlage befunden hat. Sie sah sich massiven Angriffen einer Tierschutzorganisation ausgesetzt, die den Verdacht der Tierquälerei bei der Gewinnung des Hormons der von ihr hergestellten und vertriebenen verschreibungspflichtigen Präparate erhoben hatte; dabei wurde – teils unter bildlicher Heraushebung – auf die Leiden trächtiger Muttertiere und deren Fohlen hingewiesen. Unstreitig wurde in einer aggressiven publizistischen Kampagne, die in der Presse ein entsprechendes Echo fand, zum Boykott der Produkte der Beklagten aufgerufen. Die auf Hormonpräparate gegen Beschwerden im Klimakterium angewiesenen Frauen wurden aufgefordert, sich statt der Produkte der Beklagten Arzneimittel auf pflanzlicher oder synthetischer Basis verschreiben zu lassen.
Diese Kampagne ging weit über eine sachliche, kritische Berichterstattung, der sich die Beklagte als Pharmaunternehmen stellen müßte, hinaus. Ihre Auswirkungen liegen auf der Hand. Das Berufungsgericht hat selbst festgestellt, daß sich in einer Zeit, in der jede Tierschutzkampagne der größten öffentlichen Aufmerksamkeit sicher sein könne, kein Arzt dem Verdacht aussetzen werde, Medikamente zu verschreiben, die durch das Quälen von Tieren gewonnen würden. Neben dem erheblichen eigenen Interesse der Beklagten an einer Klarstellung mit dem Ziel, dem bereits eingetretenen Imageschaden und der noch fortschreitenden Schadensentwicklung zu begegnen, bestand auch ein ernsthaftes Interesse der Allgemeinheit, insbesondere der betroffenen und verunsicherten Patientinnen, so schnell und umfassend wie möglich über die Haltbarkeit der Vorwürfe der Tierschutzorganisation und die Hintergründe der Gewinnung der Präparate informiert zu werden (vgl. BGHZ 50, 1, 6 f. - Presseinformation durch Wettbewerber).
bb) Das beanstandete Verhalten der Beklagten diente auch ausschließlich Abwehrzwecken. Sowohl der Inhalt und die Ausgestaltung des Informationsblatts als auch die Art der Verbreitung an verunsicherte Patientinnen im Rahmen eines ärztlichen Beratungsgesprächs zeigen, daß es der Beklagten nur um die Verteidigung gegenüber den erhobenen Vorwürfen ging, ohne daß es darüber hinausgehende werbliche Elemente enthält (vgl. oben unter II. 2. a aa). Die Beklagte ist auch nicht von sich aus an die Öffentlichkeit getreten, sondern hat lediglich auf die massive Kampagne und den Boykottaufruf reagiert.
cc) Die von der Beklagten veranlaßte Verteilung des Informationsblatts über die die Patientinnen beratenden Ärzte stellt sich auch als ein nach Inhalt, Form und Begleitumständen gebotenes und notwendiges Mittel dar, um sich angemessen gegen die Angriffe der Tierschutzorganisation und deren Auswirkungen zur Wehr zu setzen (vgl. BGH GRUR 1970, 465, 466 - Prämixe).
Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts kann die Beklagte unter den hier gegebenen besonderen Umständen nicht darauf verwiesen werden, sie hätte unmittelbar gegen die Tierschutzorganisation und die Medien vorgehen müssen. Wenn auch die Erwirkung gerichtlicher Maßnahmen grundsätzlich der gebotene Weg zur Abwehr ist, so kann der Abwehrende jedenfalls dann nicht auf die Inanspruchnahme gerichtlicher Hilfe verwiesen werden, wenn dadurch dem Angriff nicht ausreichend gewehrt werden kann (vgl. BGH GRUR 1971, 259, 260 - W.A.Z.). Dies kann vorliegend angesichts der begrenzten Reichweite gerichtlicher Entscheidungen und der Notwendigkeit, den emotional besonders nachhaltig wirkenden Verdacht der Tierquälerei, die mit der Gewinnung des Hormons nach den in den Medien vorgetragenen Angriffen verbunden gewesen sein soll, nicht ausgeschlossen werden. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob ein Vorgehen im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes, das nur zur Unterlassung, aber nicht zu einem Widerruf führt, überhaupt ausreichend schnell und umfassend genug gewesen wäre, um Schaden von der Beklagten abzuwenden, nachdem die Vorwürfe und der Boykottaufruf bereits an einen unbestimmten Empfängerkreis gegangen waren (vgl. dazu Baumbach/Hefermehl aaO Einl. UWG Rdn. 361). Denn gerichtliche Entscheidungen wären – wenn überhaupt – nur im Falle öffentlicher Bekanntmachung geeignet, dem bereits eingetretenen Imageschaden und der noch fortdauernden Schadensentwicklung zu begegnen, wobei nicht einmal sichergestellt wäre, daß damit der verunsicherte Patientinnenkreis vollständig erreicht worden wäre. Mit einer öffentlichen Bekanntmachung wäre die Beklagte aber mit den Bezeichnungen ihrer Präparate und mit ihren Argumenten in weit größerem Maße in einer die Ziele des Heilmittelwerbegesetzes gefährdenden Weise an die Öffentlichkeit getreten als mit der Übersendung der Merkblätter an Ärzte zum Zwecke der Weitergabe an die Patientinnen, denen sie das Mittel – wiederholt oder auch erstmals – verschreiben wollten. Auch freiwillig abgedruckte presserechtliche Gegendarstellungen, in denen das Mittel PR. namentlich erwähnt worden wäre, hätten zu einem weit größeren Aufsehen in der Öffentlichkeit geführt.
Das Berufungsgericht verkennt bei seiner abweichenden Beurteilung die Bedeutung der Tatsache, daß die Bezeichnung der Präparate durch die aggressive publizistische Kampagne der Tierschutzorganisation, die in der Presse ein entsprechendes Echo fand, seinerzeit breiten Kreisen bekannt geworden ist. Eine sachgerechte Reaktion der Beklagten mit den von ihr für erforderlich gehaltenen Richtigstellungen konnte sich daher naturgemäß immer nur auf diese Produkte – zumal es sich um die einzigen aus Stutenurin gewonnenen und in Deutschland zugelassenen Präparate handelte – beziehen, und zwar unabhängig davon, ob sie namentlich genannt waren oder nicht.
Der von der Beklagten eingeschlagene Weg, ihre aufklärenden Informationen über die angeschriebenen Ärzte an die betroffenen Patientinnen, bei denen sich die Verunsicherung unmittelbar auswirken mußte, zu übermitteln, stellt nach alledem bei der gegebenen Sachlage eine angemessene und notwendige Maßnahme der Schadensbegrenzung dar, die auch im Blick auf die Zielsetzung des Heilmittelwerbegesetzes hinnehmbar erscheint.
c) Das vom Berufungsgericht ausgesprochene Verbot, das beanstandete Informationsblatt zu verteilen, begegnet auch durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken aus Art. 5 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 GG. Zwar sind Einschränkungen der Meinungs- und Berufsfreiheit durch Werbeverbote des Heilmittelwerbegesetzes grundsätzlich nicht zu beanstanden, da sie die Gesundheit der Bevölkerung und damit ein Gemeinschaftsgut von hohem Rang schützen, das selbst empfindliche Eingriffe in die Freiheitsrechte rechtfertigen kann (vgl. BVerfGE 17, 269, 276 zum Eingriff in die Berufsfreiheit). Indessen dürfen die Einschränkungen im Einzelfall nicht außer Verhältnis zu den damit angestrebten Zwecken stehen. Es ist anerkannt, daß die allgemeinen Gesetze im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG ihrerseits aus der Erkenntnis der wertsetzenden Bedeutung der Meinungsfreiheit ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht beschränkenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden müssen (BVerfGE 85, 248, 261 f.; BGHZ 50, 1, 5 - Presseinformation durch Wettbewerber). Einschränkungen der Berufsfreiheit sind im Einzelfall mit Art. 12 Abs. 1 GG nur vereinbar, wenn sie vernünftigen Zwecken des Gemeinwohls dienen und den Berufstätigen nicht übermäßig oder unzumutbar treffen (BVerfGE 85, 248, 261 f.; BGH, Urt. v. 8.3.1990 - I ZR 239/87, GRUR 1990, 1032, 1034 = WRP 1990, 688 - Krankengymnastik). Daher ist die Schwere des Eingriffs mit dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe abzuwägen (BVerfGE 77, 308, 322 m.w.N.).
Eine solche Abwägung ergibt, daß das begehrte Verbot auch aus verfassungsrechtlicher Sicht unzumutbar ist. Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, daß - wie vorstehend unter II. 2. a) ausgeführt – durch das beanstandete Verhalten der Beklagten der vorrangige Schutzzweck des Heilmittelwerbegesetzes, das Publikum vor unrichtiger und/oder unsachlicher Beeinflussung gerade im heiklen Bereich der Heilmittelwerbung zu bewahren (BGHZ 114, 354, 358 - Katovit), allenfalls geringfügig berührt wird, zumal nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen des Berufungsgerichts durch das Informationsblatt der Beklagten ohnehin kein zusätzlicher Bedarf oder Kaufanreiz geschaffen wird. Dieser – wenn überhaupt – nur marginalen Gefährdung des Schutzgutes der Gesundheit der Bevölkerung stehen erhebliche Interessen der Beklagten gegenüber. Wie oben unter II. 2. b) dargelegt, war die Beklagte einer aggressiven, in die Presse getragenen Kampagne ausgesetzt, die im Boykottaufruf gipfelte. Sie hatte ein berechtigtes eigenes Interesse, die verunsicherten Patientinnen, die ihrerseits auf eine Klarstellung angewiesen waren, aufzuklären und zu beruhigen. Die Verteilung von Informationsblättern durch Ärzte war nach Inhalt, Form und Begleitumständen zur Abwehr der massiven Angriffe geboten und notwendig (vgl. oben unter II. 2. b cc). Die nicht nennenswert berührten Schutzzwecke des Heilmittelwerbegesetzes können gegenüber dieser Interessenlage der Beklagten und der Patientinnen unter den hier gegebenen besonderen Umständen keinen Vorrang beanspruchen.
III. Danach war auf die Revision der Beklagten das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Landgerichts zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1, § 97 Abs. 1 ZPO.
Unterschriften
Erdmann, Mees, Starck, Bornkamm, Pokrant
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 03.12.1998 durch Walz Justizamtsinspektor als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle
Fundstellen
Haufe-Index 538508 |
BGHZ |
BGHZ, 134 |
NJW 1999, 2737 |
GRUR 1999, 1128 |
Nachschlagewerk BGH |
WM 1999, 1424 |
MDR 1999, 1080 |
MedR 1999, 418 |
WRP 1999, 643 |
NJWE-WettbR 1999, 255 |