Entscheidungsstichwort (Thema)
Ausübung der Vormund zur Geltendmachung eines Pflichtteilsanspruchs
Leitsatz (amtlich)
Zu den Amtspflichten des Amtsvormundes bei der vertraglichen Anerkennung des Pflichtteilsanspruchs seines Mündels (hier: Schätzung des Verkehrswertes eines Nachlasses, der im wesentlichen aus einem landwirtschaftlichen Betrieb besteht)
Normenkette
GG Art. 34; BGB §§ 839, 1793 S. 1, § 1833
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 28. Januar 1982 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die am 8. Oktober 1955 geborene Klägerin war durch Tod ihres Vaters am 20. Dezember 1969 Vollwaise geworden. Zu ihrem Vormund wurde das Kreisjugendamt F. bestellt; der Kreisamtsrat T. übte die Vormundschaft aus.
Aufgrund des Todes ihres Vaters erlangte die Klägerin gegen ihre Stiefmutter als Alleinerbin einen Pflichtteilsanspruch in Höhe von 3/8 des väterlichen Nachlasses. Der Nachlaß bestand im wesentlichen aus der Hälfte des landwirtschaftlichen Betriebes, der der Stiefmutter und dem Erblasser gemeinsam gehört hatte und dessen Grundflächen (30, 3426 ha) im Bereich des geplanten Flughafens München II lagen.
Das Kreisjugendamt F. übernahm als Vormund der Klägerin die Geltendmachung des Pflichtteilsanspruchs. Die Erbin hatte bei einer Verhandlung vor dem Nachlaßgericht am 22. Januar 1971 den Wert des Betriebes zunächst mit 300.000 DM angegeben. Gegenüber dem Kreisjugendamt erklärte sie am 6. August 1971, daß der Wert 800.000 DM betrage. Diesen Wert machte das Kreisjugendamt zur Grundlage der Pflichtteilsberechnung. Anschließend widerrief jedoch die Erbin die höhere Wertangabe mit der Begründung, falsch beraten worden zu sein. Daraufhin wies das Vormundschaftsgericht das Kreisjugendamt an, die Höhe des Pflichtteils der Klägerin im Wege des Prozesses feststellen zu lassen. Nachdem ein vom Kreisjugendamt bestellter Sachverständiger den Gutachtensauftrag wegen Arbeitsüberlastung zurückgegeben hatte, beauftragte nunmehr die Erbin den Dipl.-Landwirt S., einen öffentlich bestellten und beeidigten Sachverständigen, mit der Schätzung. Dieser schätzte in seinem Gutachten vom 29. Februar 1972 den Verkehrswert für den 20. Dezember 1969 auf 384.418 DM.
In einer Verhandlung vor dem Rechtspfleger des Vormundschaftsgerichts F. am 30. März 1972, an der die Erbin und der Kreisamtsrat T. für den Amtsvormund teilnahmen, wurde, ausgehend von einem Wert des Anwesens von 384.418 DM, der Pflichtteil der Klägerin mit 36.678,90 DM berechnet. Der Amtsvormund und die Erbin erkannten diese Berechnung an. Am 15. Juni 1972 wurde die Verhandlung vormundschaftsgerichtlich genehmigt.
Die Erbin veräußerte das Anwesen im August 1975 für 3.746.472,04 DM.
Die Klägerin macht geltend, durch Verschulden ihres Amtsvormundes bei der Pflichtteilsberechnung sei der landwirtschaftliche Betrieb, der tatsächlich einen Verkehrswert von 3.626.472 DM gehabt habe, viel zu niedrig bewertet worden. Sie verlangt von dem beklagten Landkreis als Träger des Kreisjugendamtes Schadensersatz in Höhe von 100.000 DM als Teilbetrag ihres auf 623.071 DM berechneten Schadens. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hatte keinen Erfolg. Außerdem hat das Berufungsgericht auf Widerklage des Beklagten festgestellt, daß der Klägerin auch ein über 100.000 DM hinausgehender Anspruch nicht zustehe. Mit der Revision, deren Zurückweisung der Beklagte beantragt, verfolgt die Klägerin ihren Klageanspruch sowie ihren Antrag auf Abweisung der Widerklage weiter.
Entscheidungsgründe
I.
Die Revision führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
1.
Der beklagte Landkreis ist als Dienstherr des die Vormundschaft ausübenden Kreisamtsrats der Klägerin gegenüber schadensersatzpflichtig, wenn dieser ihr gegenüber eine schuldhafte Amtspflichtverletzung begangen hat; denn als Grundlage für eine Haftung des Amtsvormundes kommt neben § 1833 BGB in Verb. mit § 38 Abs. 1 JWG (vgl. BGHZ 22, 72, 73) auch § 839 BGB in Verb. mit Art. 34 GG in Betracht (vgl. BGHZ 9, 255, 256 f.; BGB-RGRK § 839 Rdn. 351).
Die den Amtsvormund bei der Ausübung der Vormundschaft treffenden Pflichten obliegen ihm auch gegenüber dem Mündel; denn die Vormundschaft soll in erster Linie dessen Interessen wahren. Hierzu gehört insbesondere die Pflicht, die Vermögensinteressen des Mündels zur Geltung zu bringen und demzufolge seine Ansprüche gegenüber Dritten voll durchzusetzen (§ 1793 Satz 1 BGB).
2.
Das Berufungsgericht hat einen Ersatzanspruch verneint, weil den die Vormundschaft ausübenden Kreisamtsrat kein Verschulden an der zu niedrigen Bewertung des Pflichtteils treffe. Hiergegen wendet sich die Revision zu Recht.
a)
Das Berufungsgericht geht im Ansatz zutreffend davon aus, daß der Amtsvormund auch für leichte Fahrlässigkeit haftet. Dabei ist darauf abzustellen, welcher Wissensstand und welche Sorgfalt für einen als Amtsvormund handelnden Kreisamtsrat und leitenden Beamten des Jugendamtes vorauszusetzen sind und billigerweise erwartet werden können. Ob das Vormundschaftsgericht sein Verhalten nachträglich genehmigt hat, spielt dafür grundsätzlich keine Rolle (vgl. BGH Urteil vom 15. Januar 1964 - IV ZR 106/63 = FamRZ 1964, 199).
b)
Die Feststellung des Berufungsgerichts, daß der Amtsvormund nicht fahrlässig gehandelt habe, ist jedoch durch Rechtsirrtum beeinflußt.
Zwar darf der die Amtsvormundschaft ausübende Beamte für die Bewertung von Grundvermögen grundsätzlich von dem Gutachten eines öffentlich bestellten und beeidigten Sachverständigen ausgehen. Er darf es jedoch nicht "blind hinnehmen", sondern muß es mit den von ihm auch als Nichtfachmann zu erwartenden Möglichkeiten kritisch überprüfen (vgl. RG JW 1910, 708). Dabei muß er insbesondere kontrollieren, ob Zweifel an der Objektivität des Gutachtens bestehen und ob es eine ausreichende Begründung enthält, die das gefundene Ergebnis plausibel erscheinen läßt. Im übrigen muß er anhand des von ihm zu erwartenden Kenntnisstandes überprüfen, ob das Ergebnis vertretbar erscheint. Bei einer solchen Überprüfung hätten sich im vorliegenden Fall dem Kreisamtsrat T. ernste Zweifel an der Richtigkeit und Verwertbarkeit des Gutachtens aufdrängen müssen.
3.
Wie das Berufungsgericht nicht verkennt, hat der Sachverständige S. den Wert des landwirtschaftlichen Betriebes nach dem Ertragswertverfahren ermittelt (Berufungsurteil S. 13; S. 3, 6 des Gutachtens). Eine solche Bewertung durfte der Amtsvormund nicht ungeprüft übernehmen.
a)
Der Erblasser und die Stiefmutter der Klägerin lebten in Gütergemeinschaft. Zum Nachlaß gehörte der gemeinschaftliche Anteil des Erblassers an dem Landgut (vgl. die Niederschrift vor dem Nachlaßgericht vom 22. Januar 1970, Bl. 13 der Vormundschaftsakten VII 178/70 AG Freising). Auf einen solchen Erbfall ist § 2312 BGB sinngemäß anzuwenden (MünchKomm/Frank § 2312 Rdn. 3 m.w.Nachw.). Nach Abs. 2 dieser Bestimmung kann der Erblasser, der nur einen - zum Kreis der pflichtteilsberechtigten Personen gehörenden - Erben hinterläßt, anordnen, daß der Berechnung des Pflichtteils der Ertragswert zugrunde gelegt werden soll. Eine solche Anordnung kann stillschweigend erfolgen, auch durch ergänzende Testamentsauslegung festgestellt werden (Senatsurteil vom 15. März 1965 - III ZR 108/63 = LM § 2325 BGB Nr. 5). Eine ausdrückliche Anordnung nach § 2312 Abs. 2 BGB ist hier im Erbvertrag nicht getroffen worden. Daher oblag es grundsätzlich der Erbin, einen entsprechenden Erblasserwillen darzutun und erforderlichenfalls zu beweisen. Bei den hier bekannten Umständen durfte der Amtsvormund jedenfalls nicht ohne weitere Prüfung davon ausgehen, daß der Wille des Erblassers in die genannte Richtung gehe. Wie sich nämlich aus dem Gutachten Spörer ergab, lag der landwirtschaftliche Betrieb im Bereich des geplanten Verkehrsflughafens München II (vgl. dazu auch S. 17 des Gutachtens des gerichtlichen Sachverständigen Dotzler). Das warf die Frage auf, ob der Betrieb diesem Vorhaben in absehbarer Zeit werde weichen müssen. Wenn vorauszusehen war, daß der Betrieb ohnehin eingestellt werden würde, hätte auf den in § 2312 Abs. 2 BGB enthaltenen Schutzgedanken, das Landgut in seinem Bestand zu erhalten und durch Ausrichtung der Pflichtteilsansprüche am Ertragswert zu vermeiden, daß seine Wirtschaftlichkeit durch die Belastung mit diesen Ansprüchen gefährdet wird (BGH Urteil vom 15. Dezember 1976 - IV ZR 27/75 = WM 1977, 202, 203), zur Feststellung des Erblasserwillens nicht mehr abgestellt werden können. Bei diesem Sachverhalt trifft den Amtsvormund der Vorwurf, das Ergebnis des auf einer Schätzung des landwirtschaftlichen Ertragswertes beruhenden Gutachtens ohne eigene Prüfung, ob dieser Wert überhaupt hätte zugrunde gelegt werden dürfen, übernommen und zum Gegenstand der vertraglichen Vereinbarung gemacht zu haben. Die für diese Prüfung erforderlichen Rechtskenntnisse müssen bei einem Kreisamtmann als Leiter des Kreisjugendamts (vgl. Berufungsurteil S. 11) grundsätzlich vorausgesetzt werden. Falls die dabei aufgeworfenen Fragen aber den für das Jugendamt tätigen Beamten überfordert haben sollten, wäre es seine Pflicht gewesen, sich - notfalls beim Vormundschaftsgericht - Rechtsrat einzuholen (RG JW 1922, 1006; MünchKomm/Zagst § 1833 Rdn. 6; Palandt/Diederichsen BGB 42. Aufl. § 1833 Anm. 2). Das Berufungsgericht hat nicht festgestellt, daß der Amtsvormund solchen Rat eingeholt hat. Die Genehmigung der Pflichtteilsanerkennung durch den Vormundschaftsrichter vermag den Amtsvormund insoweit nicht zu entlasten (BGH Urteil vom 15. Januar 1964 aaO).
Für die revisionsrechtliche Würdigung läßt sich hiernach nicht ausschließen, daß bei pflichtgemäßem Verhalten des Amtsvormunds eine Einigung oder eine gerichtliche Entscheidung über die Höhe des Pflichtteilsanspruchs auf der Grundlage des Verkehrswertes des Betriebes herbeigeführt worden wäre.
b)
Auch soweit der Sachverständige Spörer in seinem Gutachten ausgeführt hat, das Projekt des Verkehrsflughafens München II habe am 20. Dezember 1969 den "Verkehrswert" des Betriebes nicht beeinflussen können (a.a.O. S. 6), war der Amtsvormund zu einer eigenen Prüfung, vor allem in rechtlicher Hinsicht, verpflichtet. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts durfte er sich auf diese Ansicht des Sachverständigen nicht verlassen, auch wenn ihm tatsächliche Verkaufsfälle zu weit höheren Preisen nicht positiv bekannt waren.
Der Sachverständige hat eine noch nicht verbindliche Planung nicht für geeignet gehalten, den Preis planbetroffener Grundstücke zu beeinflussen. Zu einer derartigen "normativen" Schätzung der Grundstücksqualität war der Sachverständige weder befugt noch berufen. Die insoweit von ihm vertretene Auffassung bedurfte der rechtlichen Überprüfung, die der Amtsvormund notfalls mit Hilfe des Vormundschaftsgerichts hätte vornehmen müssen. Das setzte entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts keine weiteren "besonderen" Umstände voraus. Das Gutachten enthält keine Angaben über Vergleichspreise, die regelmäßig die beste Gewähr für eine marktgerechte Bewertung bieten. Dies beruhte ersichtlich auf dem rechtlichen Ansatz des Sachverständigen, die Flughafenplanung aus der Bewertung ganz auszuscheiden. Richtigerweise hätte die Frage dahin gestellt werden müssen, ob die - wenn auch noch unverbindliche - Flughafenplanung in der Öffentlichkeit tatsächlich bekannt geworden war und zu entsprechenden Reaktionen des Grundstücksmarktes geführt hatte. Hierüber sagte das Gutachten des Sachverständigen S. nichts aus. Es war deshalb, wenn es auf den Verkehrswert der Betriebsgrundstücke ankam, keine verläßliche Grundlage für die Bemessung des Pflichtteilsanspruchs.
c)
Bei dieser Rechtslage war der Amtsvormund verpflichtet, für die Feststellung des Wertes des Betriebes weitere Erkenntnisquellen auszuschöpfen, vor allem Vergleichspreise für die Betriebsgrundstücke zu ermitteln. Hierfür bot sich u.a. eine Antrage bei den Geschäftsstellen der Gutachterausschüsse bei den Landratsämtern F. und E. an (vgl. dazu die Ermittlungen des gerichtlichen Sachverständigen D., S. 6 bis 8 seines Gutachtens). Da Ansprüche erheblichen Umfangs auf dem Spiel standen, hätte der Amtsvormund gegebenenfalls selbst ein Wertgutachten einholen und bei Weigerung der Erbin, sich vertraglich zu einigen, eine gerichtliche Klärung herbeiführen müssen.
4.
Es läßt sich nicht ausschließen, daß die gebotenen zusätzlichen Ermittlungen einen höheren als den von dem Sachverständigen S. geschätzten Wert ergeben und zu einem entsprechend höheren Pflichtteilsanspruch geführt hätten. Wie hoch der Verkehrswert des Anwesens im Zeitpunkt des Erbfalls wirklich war, hat das Berufungsgericht - von seinem Standpunkt aus zutreffend - offengelassen; insoweit bedarf es noch entsprechender tatsächlicher Feststellungen. Hierbei wird zu berücksichtigen sein, ob damals bereits versucht wurde, die für den Flughafenbau benötigten Grundstücke zu erwerben oder hierzu Vorbereitungen zu treffen, etwa durch Vermessung der Grundstücke. Von Bedeutung wäre es auch, wenn der Grundstücksverkehr damals wegen des Flughafenprojekts zeitweilig zum Stillstand gekommen sein sollte; denn die darin liegende Weigerung zum Verkauf zu den bisherigen Preisen könnte Ausdruck einer bereits eingetretenen Wertsteigerung sein, die in den anschließenden Verkäufen zu erhöhten Preisen dann ihren Ausdruck gefunden hätte.
Hiernach läßt sich die Abweisung der Klage und die Entscheidung zur Widerklage mit der gegebenen Begründung nicht halten. Da sich das angefochtene Urteil auch nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt (§ 563 ZPO), war es aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Unterschriften
Krohn
Kröner
Boujong
Scholz-Hoppe
Halstenberg
Fundstellen