Entscheidungsstichwort (Thema)
Verlust der Prozessfähigkeit eines Anwalts bei Selbstvertretung. Verfahrensunterbrechung. Unterbrechungsgrund als neue Tatsache im Revisionsverfahren
Leitsatz (amtlich)
Wird der beklagte Rechtsanwalt in einem Anwaltsprozeß unfähig, seine Selbstvertretung fortzuführen, so ist die hierdurch bewirkte Verfahrensunterbrechung in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu beachten. Ist die Unterbrechung in den Vorinstanzen eingetreten, kann grundsätzlich der Unterbrechungsgrund noch im Revisionsverfahren als neue Tatsache vorgetragen werden.
Normenkette
ZPO §§ 56, 244
Verfahrensgang
KG Berlin (Urteil vom 29.03.2001) |
LG Berlin |
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des 16. Zivilsenats des Kammergerichts in Berlin vom 29. März 2001 wird auf Kosten des Beklagten zurückgewiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Am 13. Dezember 1997 verstarb der Sohn des Beklagten. Er war Mitgesellschafter und Geschäftsführer der Klägerin, die der Beklagte seit dem 1. Juni 1993 im Rahmen eines Dauermandates außerhalb gerichtlicher Verfahren anwaltlich vertrat. Nach dem Tod seines Sohnes zog der Beklagte die zugunsten der Klägerin bestehenden Lebensversicherungen im Gesamtbetrag von 562.194 DM ein, leitete hiervon aber nur 280.000 DM an die Klägerin weiter. Abzüge auf den Differenzbetrag in Gesamthöhe von 28.937,20 DM sind unstreitig. Auf den Rest von 253.256,80 DM nebst Zinsen hat die Klägerin den Beklagten, der sich in den Tatsacheninstanzen selbst vertrat, in Anspruch genommen. Das Landgericht hat der Klage am 10. März 2000 in Höhe von 221.704,80 DM nebst Zinsen stattgegeben und sie wegen der Aufrechnung des Beklagten mit restlichem Beratungshonorar aus dem Dauermandat vom 1. Juni 1993 in Höhe von 31.552 DM abgewiesen.
Gegen das Landgerichtsurteil, welches dem Beklagten am 9. Juni 2000 zugestellt worden ist, hat er am 7. Juli 2000 Berufung eingelegt, das Rechtsmittel jedoch nicht bis zum 7. August 2000 begründet. Auf Hinweis des Kammergerichtes vom 24. August 2000, daß eine Berufungsbegründung dort nicht eingegangen sei, hat der Beklagte in der Anlage des von ihm gezeichneten Schriftsatzes vom 31. August 2000 zwei Kopien einer Berufungsbegründung vom 3. August 2000 übersandt, die selbst weder unterzeichnet noch anwaltlich beglaubigt waren. Auf weiteren Hinweis des Kammergerichtes, der dem Beklagten nach seinem Vorbringen am 18. Dezember 2000 zugegangen ist, daß seine Berufung nur als unselbständige Berufung zu behandeln sei, hat er am 12. Januar 2001 beantragt, ihm wegen der versäumten Berufungsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
Die Klägerin hat ihre gleichfalls eingelegte Berufung gegen das Urteil des Landgerichts zurückgenommen. Das Kammergericht hat daraufhin unter Ablehnung des Wiedereinsetzungsantrages vom 12. Januar 2001 die Berufung des Beklagten verworfen.
Hiergegen wendet sich die Revision des Beklagten, mit der er weiterhin die Abweisung der Klage erstrebt.
Entscheidungsgründe
I.
Über die Revision des Beklagten ist, obwohl die Klägerin im Verhandlungstermin vor dem Senat nicht vertreten war, nicht durch Versäumnisurteil, sondern durch streitiges Urteil (unechtes Versäumnisurteil) zu entscheiden. Denn die Revision erweist sich bereits auf der Grundlage des vom Berufungsgericht festgestellten Sachverhalts auch unter Berücksichtigung ihres eigenen Vorbringens als unbegründet (vgl. BGH, Urt. v. 10. Februar 1993 – XII ZR 239/91, NJW 1993, 1788; v. 12. Juli 2001 – I ZR 89/99, NJW 2002, 376, 377).
II.
Das Kammergericht hat angenommen, der Wiedereinsetzungsantrag des Beklagten vom 12. Januar 2001 sei erst nach Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist eingegangen. Mit dem Schriftsatz vom 31. August 2000 sei noch keine Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsbegründungsfrist beantragt worden; auch Angaben zum Wiedereinsetzungsgrund seien dort nur unzureichend enthalten gewesen.
III.
Die Revision wiederholt demgegenüber die Ansicht, der Schriftsatz des Beklagten vom 31. August 2000 sei nach den Umständen als Wiedereinsetzungsantrag zu werten. Näherer Angaben zum Wiedereinsetzungsgrund habe es nicht bedurft. Die anliegenden einfachen Abschriften der Berufungsbegründung seien hier auch zur Nachholung der versäumten Prozeßhandlung genügend gewesen. Mindestens sei danach zu prüfen, ob das Berufungsgericht Wiedereinsetzung gemäß § 236 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 ZPO von Amts wegen hätte gewähren müssen und ein etwa in dieser Hinsicht bestehendes Ermessen ausgeübt habe.
Der Beklagte läßt unter Beifügung eines ärztlichen Attestes im Revisionsverfahren schließlich vortragen, er sei von April 2000, spätestens jedoch seit Zustellung des landgerichtlichen Urteils, bis zum September 2000 (partiell) geschäfts- und prozeßunfähig gewesen. Falls danach das Landgerichtsurteil überhaupt wirksam zugestellt worden sei, sei spätestens das weitere Verfahren unterbrochen worden, so daß eine Berufungsbegründungsfrist nicht habe versäumt werden können.
IV.
Die nach § 547 ZPO a.F. unbeschränkt statthafte Revision ist wirksam eingelegt. Das gilt selbst dann, wenn das Verfahren unterbrochen war; § 249 Abs. 2 ZPO steht nicht entgegen (vgl. BGH, Urt. v. 16. Januar 1997 – IX ZR 220/96, WM 1997, 486). Das Berufungsurteil ist jedoch im Ergebnis revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
1. Die Berufungsbegründung ist verspätet eingegangen. Eine Verfahrensunterbrechung vor oder nach Zustellung des landgerichtlichen Urteils vermag der Senat nicht festzustellen.
a) Für eine Wiedereinsetzung des Beklagten in die versäumte Berufungsbegründungsfrist (§ 519 Abs. 2 Satz 2 ZPO a.F., §§ 233, 234, 236 ZPO) wäre kein Raum, wenn das Verfahren, wie die Revision vorträgt, bereits nach Verkündung oder spätestens nach Zustellung des landgerichtlichen Urteils unterbrochen worden wäre. Infolge vorheriger Unterbrechung wäre schon die Zustellung des landgerichtlichen Urteils unwirksam gewesen (BGHZ 111, 104, 107). Bei nachheriger Unterbrechung hätte der Lauf der Berufungsfrist aufgehört; die volle Frist hätte nach Beendigung der Unterbrechung von neuem begonnen (§ 249 Abs. 1 ZPO).
Die Geschäfts- und Prozeßunfähigkeit einer Partei kann sich auf die Führung eines bestimmten Rechtsstreites beschränken (BGHZ 143, 122, 125 a.E.), wie es die Revision hier im Hinblick auf die besonderen persönlichen Umstände des Beklagten behauptet. Durch den (partiellen) Verlust seiner Prozeßfähigkeit wird der Anwalt im Sinne des § 244 ZPO unfähig, die Vertretung der Partei fortzuführen (BGHZ 30, 112, 118); das gilt auch für einen Rechtsanwalt, der sich nach § 78 Abs. 4 ZPO in den Tatsacheninstanzen selbst vertritt (vgl. BGHZ 111, 104, 107).
b) Wird der beklagte Rechtsanwalt in einem Anwaltsprozeß unfähig, seine Selbstvertretung fortzuführen, so ist die hierdurch bewirkte Verfahrensunterbrechung entsprechend § 56 ZPO in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu beachten (vgl. MünchKomm-ZPO/Feiber, 2. Aufl. § 244 Rn. 22; Musielak/Stadler, ZPO 2. Aufl. § 239 Rn. 1; allgemeine Ansicht). Ist die Unterbrechung in den Vorinstanzen eingetreten, kann der Unterbrechungsgrund trotz der Grenzen, die § 561 ZPO a.F. den tatsächlichen Grundlagen von Revisionsangriffen zieht, noch im Revisionsverfahren als neue Tatsache vorgetragen werden (vgl. BGH, Urt. v. 10. Oktober 1985 – IX ZR 73/85, WM 1986, 58, 59).
c) Der Beklagte hat sich zur Stützung seines Vorbringens auf das Attest einer Internistin vom 28. November 2001 bezogen, in dem bescheinigt wird, er sei ab April 2000 im Zusammenhang mit dem Verdacht eines Tötungsdelikts gegen seinen Sohn in einen Blockadezustand mit nervlicher Überbelastung verfallen, der aus ärztlicher Sicht für den Zeitraum April bis September 2000 Prozeßunfähigkeit bewirkt habe. An der Richtigkeit dieses Attestes bestehen erhebliche Zweifel.
Die ausstellende Ärztin hat keine fachärztliche Qualifikation für die Beurteilung des beschriebenen Leidenszustandes. Der Tod des Sohnes lag bei Beginn des angegebenen Blockadezustandes mehr als zwei Jahre zurück. Der Beklagte war in der Lage, in erster Instanz seine Forderungen, mit denen er sich gegen die Klage verteidigt, in geordneter Weise vorzutragen. Er hat auch die Berufungsfrist gewahrt und auf den Hinweis des Kammergerichts, daß die in seinem weiteren Schriftsatz vom 23. August 2000 erwähnte Berufungsbegründung vom 3. August 2000 nicht eingegangen sei, bereits zwei Tage später reagiert und einfache Abschriften eines Begründungsschriftsatzes vom 3. August 2000 übersandt. Das spricht nicht für eine Blockade im Sinne zwanghafter Untätigkeit.
Der Beklagte hat sich auch selbst in der Berufungsinstanz nicht auf zeitweilige Prozeßunfähigkeit berufen, obwohl er sein Schreiben an den Generalstaatsanwalt des Landes Brandenburg vom 4. Januar 2001 damit einleitete, jetzt erkennen zu müssen, daß der Tod des Sohnes seine objektive Handlungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt habe, was sich erst in letzter Zeit merklich löse.
Mangels näherer fachärztlicher Befunde aus der Zeit von April bis September 2000 sieht der Senat auch keine Möglichkeit, von Amts wegen mit sachverständiger Hilfe noch zuverlässigere Erkenntnisse über die Prozeßfähigkeit des Beklagten in der genannten Zeitspanne zu gewinnen.
d) Die materielle Beweislast für die Prozeßunfähigkeit eines Anwaltes als Grund der Verfahrensunterbrechung gemäß § 244 ZPO trifft den Berufungskläger, der nach § 249 Abs. 1 ZPO damit einer Verwerfung des Rechtsmittels wegen versäumter Begründungsfrist entgehen will (vgl. BAG AP ZPO § 244 Nr. 1 m. Anm. Leipold).
2. Eine Wiedereinsetzung des Beklagten in die abgelaufene Berufungsbegründungsfrist hat das Berufungsgericht zutreffend abgelehnt.
a) Das Revisionsgericht hat Prozeßhandlungen der Parteien selbständig auszulegen. Das gilt auch für die Frage, ob eine vorinstanzliche Prozeßerklärung als Antrag auf Wiedereinsetzung in die abgelaufene Berufungsbegründungsfrist zu verstehen ist (vgl. BGH, Beschl. v. 27. November 1996 – XII ZB 177/96, NJW 1997, 1312, 1313). Ein solcher Antrag kann auch hilfsweise gestellt werden (BGH, Beschl. v. 27. November 1996, aaO; v. 16. März 2000 – VII ZB 36/99, NJW 2000, 2280).
b) In seinem Schriftsatz vom 31. August 2000 hat der Beklagte nur mitgeteilt: „Es (ist) hier unverständlich, warum die Berufungsbegründung vom 03.08.2000 dem Gericht nicht vorliegt. Diese ist ordnungsgemäß am 03.08.2000 mit der Post weggeschickt worden. Anliegend werden zwei Kopien der Berufungsbegründung vom 03.08.2000 diesem Schreiben beigefügt.” Diese Mitteilung genügte für die später ausdrücklich beantragte Wiedereinsetzung nicht.
Alle Tatsachen, die für die Wiedereinsetzung von Bedeutung sein können, müssen grundsätzlich innerhalb der zweiwöchigen Antragsfrist vorgetragen werden (§ 234 Abs. 1, § 236 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Nur erkennbar unklare oder ergänzungsbedürftige Angaben, deren Aufklärung nach § 139 ZPO geboten ist, dürfen nach Fristablauf erläutert oder vervollständigt werden (vgl. BGH, Beschl. v. 27. Februar 1997 – I ZB 50/96, NJW 1997, 1708, 1709; v. 7. Oktober 1997 – XI ZB 23/97, NJW-RR 1998, 778, 779; v. 5. Februar 1998 – VII ZB 8/97, NJW 1998, 1498; v. 6. Mai 1999 – VII ZB 6/99, VersR 2000, 515 = NJW 1999, 2284; st. Rechtspr.). In dem Schriftsatz des Beklagten vom 31. August 2000 ist ohne jede Substantiierung nur mitgeteilt worden, die Berufungsbegründung sei „ordnungsgemäß am 3. August 2000 mit der Post weggeschickt worden”. Was damit konkret gemeint war, ließ sich ohne das spätere Vorbringen in dem Schriftsatz vom 12. Januar 2001 nebst anliegender eidesstattlicher Versicherung auch nicht ansatzweise feststellen. Denn erst dort brachte der Beklagte die notwendigen tatsächlichen Angaben über die Postaufgabe des Berufungsbegründungsschriftsatzes: persönlicher Einwurf in den örtlich näher bezeichneten, regelmäßig genutzten Briefkasten, Verwendung eines Fensterumschlages mit sichtbarer Adressierung an das Berufungsgericht, ausreichende Frankierung des Briefumschlages mit DM 3,10.
Entgegen der Ansicht der Revision decken sich hiernach die Anforderungen, die das Berufungsgericht bei Prüfung des Schriftsatzes vom 31. August 2000 an die Darlegung eines Wiedereinsetzungsgrundes gestellt hat, mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs.
c) Mit Recht hat das Berufungsgericht auch eine Wiedereinsetzung des Beklagten in die versäumte Berufungsbegründungsfrist von Amts wegen nach § 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO nicht in Betracht gezogen, weil es dazu keine hinreichende Veranlassung hatte. Denn eine solche Wiedereinsetzung des Beklagten in die versäumte Berufungsbegründungsfrist, welche die Revision zu erwägen gibt, hätte gleichfalls vorausgesetzt, daß ein Wiedereinsetzungsgrund fristgerecht akten- oder offenkundig war (vgl. BGH, Urt. v. 5. Mai 1993 – XII ZR 124/92, NJW-RR 1993, 1091, 1092 m.w.N.). Daran fehlte es, weil das Berufungsgericht außer dem Schriftsatz des Beklagten vom 31. August 2000 insoweit über keine anderen Erkenntnisquellen verfügte.
d) Der Wiedereinsetzungsantrag des Beklagten vom 12. Januar 2001 war selbst dann nach § 234 ZPO verspätet, wenn man zu seinen Gunsten unterstellt, das Hindernis sei erst am 18. Dezember 2000 im Sinne des § 234 Abs. 2 ZPO behoben worden. Denn spätestens aus der Mitteilung des Kammergerichts vom 7. Dezember 2000, die der Beklagte am 18. Dezember 2000 erhalten haben will, hat er erkennen müssen und tatsächlich auch erkannt, daß die Berufungsbegründungsfrist versäumt worden war. Ob der Beklagte diesen Umstand schon aus der Mitteilung des Kammergerichts vom 24. August 2000 entnehmen mußte, wie das Berufungsgericht angenommen hat, spielt danach im Ergebnis keine Rolle mehr.
Unterschriften
Kreft, Stodolkowitz, Kirchhof, Fischer, Raebel
Fundstellen
Haufe-Index 737811 |
BB 2002, 1016 |
NJW 2002, 2107 |
BGHR 2002, 706 |
BGHR |
Nachschlagewerk BGH |
WM 2002, 1250 |
MDR 2002, 902 |
KammerForum 2002, 298 |