Leitsatz (amtlich)
a) Ist der Unfallbetrieb nicht der Stammbetrieb des Verletzten, so kommt es für die Haftungsfreistellung des Schädigers darauf an, ob die Tätigkeit, bei der der Verletzte den Unfall erlitten hat, dem Aufgabenbereich seines Stammbetriebes oder demjenigen des Unfallbetriebes zuzuordnen ist; nur im letzteren Fall kommt eine Haftungsfreistellung des Schädigers in Betracht.
b) Hat der verletzte eine Aufgabe wahrgenommen, die in den Aufgabenbereich seines Stammbetriebes fällt, so spricht zunächst alles dafür, daß er allein für diesen Betrieb tätig geworden ist.
Normenkette
RVO §§ 636-637
Verfahrensgang
OLG Hamm (Urteil vom 21.12.1984) |
LG Bochum |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 9. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 21. Dezember 1984 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als es die Abweisung seiner Klage gegen den Beklagten zu 2) betrifft.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Der Kläger leitet aus einem Arbeitsunfall, den er am 22. April 1980 als Fahrer eines LKW' s des Speditionsunternehmens D. beim Beladen des Fahrzeugs auf dem Werksgelände der Streithelferin der Beklagten (im folgenden: Streithelferin) erlitten hat, Schadensersatzansprüche gegen die Beklagten her. Zu dem Unfall war es gekommen, als der Zweitbeklagte, den die Erstbeklagte – ein Zeitarbeitsunternehmen – der Streithelferin – einer Eisenhütte – als Leiharbeiter zur Verfügung gestellt hatte, mit einem Gabelstapler eine mit schwerem Material beladene Transportpalette auf der Ladefläche des LKW s, auf der bereits zwei Paletten mit schweren Werkstücken abgestellt waren, absetzen wollte. Als der Kläger feststellte, daß der Zweitbeklagte die dritte Palette auf dem hinteren Teil der Ladefläche des LKW' s absetzen wollte, verließ er sein Führerhaus und wies den Zweitbeklagten an, die Palette in dem Zwischenraum zwischen den beiden anderen Paletten abzusetzen. Bei dem Versuch, dem nachzukommen, berührte der Zweitbeklagte mit der Gabel des Staplers das schon verladene Gut. Dabei fiel ein etwa 500 kg schweres Werkstück von der Ladefläche herunter und traf den linken Fuß des Klägers, der neben dem Gabelstapler stand. Der Fuß wurde amputiert; später mußte auch der Unterschenkel amputiert werden. Bis zum Jahr 1983 war der Kläger mehrfach in stationärer Krankenhausbehandlung. Er ist nicht mehr in der Lage, seinem Beruf als Kraftfahrer nachzugehen.
Der Kläger hat von den Beklagten Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes und einer Rente wegen Erwerbsausfallschadens verlangt; ferner hat er die Feststellung der Verpflichtung der Beklagten zum Ersatz seiner unfallbedingten zukünftigen Schäden begehrt.
Die Beklagten haben ihre Haftung für die Unfallfolgen bestritten. Sie haben geltend gemacht, den Zweitbeklagten treffe an dem Unfall kein Verschulden, während dem Kläger ein grobes Eigenverschulden zur Last falle. Im übrigen seien etwaige Ansprüche des Klägers durch die Haftungsablösung gemaß §§ 637, 636 RVO ausgeschlossen. Sowohl der Kläger als auch der Zweitbeklagte seien im Unfallzeitpunkt in den Unfallbetrieb – den Betrieb der Streithelferin – eingegliedert gewesen. Die Eingliederung des Klägers ergebe sich aus seiner Intervention in den Beladungsvorgang.
Demgegenüber hat sich der Kläger darauf berufen, daß sein Einschreiten allein dem Zweck gedient habe, die verkehrssichere Beladung des LKW' s sicherzustellen; ohne sein Eingreifen hätte der Zweitbeklagte den LKW hinterlastig beladen.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers ist ohne Erfolg geblieben.
Der Senat hat die Revision, mit der der Kläger sein Klagebegehren weiterverfolgt, nicht angenommen, soweit sie sich gegen die Erstbeklagte richtet; im übrigen hat der Senat die Revision angenommen.
Entscheidungsgründe
I.
Nach Auffassung des Berufungsgerichts hat der Zweitbeklagte den Unfall zwar verschuldet; dennoch hafte er nicht für die Verletzung des Klägers, weil er nach §§ 637, 636 RVO von der Haftung freigestellt sei. Der Kläger habe sich in den Unfallbetrieb – den Betrieb der Streithelferin – dadurch eingegliedert, daß er dem Zweitbeklagten unter Hinweis auf den Beladungsplan des für die Beladung verantwortlichen Mitarbeiters der Streithelferin eine Beladungsanweisung erteilt habe. Durch diese direkte Anweisung, bei der er sich auch räumlich in den Gefahrenbereich des Unfallbetriebes begeben habe, habe der Kläger eine Aufgabe wahrgenommen, die sonst die Hinzuziehung eines weiteren Mitarbeiters der zum verkehrssicheren Beladen des LKW' s verpflichteten Streithelferin erforderlich gemacht hätte. Angesichts dieser nach außen erkennbaren Zielrichtung seines Handelns komme dem Umstand, daß die verkehrssichere Beladung des Fahrzeugs zugleich im Interesse des Klägers als Fahrzeugführer gelegen habe, eine eigenständige Bedeutung nicht zu. Auch der Zweitbeklagte sei in den Unfallbetrieb eingegliedert gewesen, so daß er ein Arbeitskollege des verunglückten Klägers im Sinne von § 637 RVO gewesen sei. Er sei im Unfallbetrieb aufgrund eines Leiharbeitsverhältnisses tätig geworden, so daß er der Direktions- und Weisungsbefugnis des Unfallunternehmens unterstanden habe. Damit seien auch die strengen Anforderungen, die § 637 RVO an die Eingliederung des Schädigers in den Unfallbetrieb stelle, erfüllt gewesen.
II.
Diese Erwägungen halten den Angriffen der Revision nicht stand.
Im Revisionsverfahren geht es nur noch um die Frage, ob der Kläger im Unfallzeitpunkt im Sinne der §§ 636, 637 RVO in dem Unfallbetrieb – dem Betrieb der Streithelferin – als in der gesetzlichen Unfallversicherung Versicherter tätig geworden ist. Die „Eingliederung” des Zweitbeklagten in diesen Betrieb hat das Berufungsgericht aus zutreffenden Gründen bejaht; insoweit macht die Revision auch keine Bedenken geltend.
1. Ist – wie hier – der Unfallbetrieb nicht der Stammbetrieb des verletzten, so hängt die Anwendbarkeit der §§ 636, 637 RVO davon ab, ob der Verletzte für den Unfallbetrieb ähnlich wie ein Arbeitnehmer dieses Betriebes tätig geworden ist (§ 539 Abs. 2 RVO); nur wenn dies der Fall ist, nimmt der Verletzte auf Grund seiner Tätigkeit an dem für die Angehörigen des Unfallbetriebes geschaffenen Versicherungsschutz teil, wie es §§ 636, 637 RVO voraussetzen. Die Entscheidung, ob der Verletzte in derartigen Fällen für den Unfallbetrieb oder seinen Stammbetrieb tätig geworden ist, richtet sich danach, welchem Aufgabenbereich – dem des Unfallbetriebes oder dem des Stammbetriebes – die Tätigkeit zuzuordnen ist, bei der der Verletzte den Unfall erlitten hat; nur dann, wenn sie dem Unfallbetrieb zuzuordnen ist, kommt eine Haftungsfreistellung des Schädigers in Betracht. Hat der Verletzte eine Aufgabe wahrgenommen, die in den Aufgabenbereich seines Stammbetriebes fällt, so spricht zunächst alles dafür, daß er allein für diesen Betrieb tätig geworden ist; erst wenn sich seine Tätigkeit nicht mehr als Wahrnehmung einer Aufgabe seines Stammbetriebes darstellt, stellt sich die Frage nach seiner „Eingliederung” in den fremden Unfallbetrieb. Ist der Verletzte von den Gefahren des Unfallbetriebes bei der Verrichtung von Arbeiten für seinen Stammbetrieb nur deshalb betroffen worden, weil seine Arbeitsstelle im Gefahrenbereich des Unfallbetriebes lag, dann fehlt der unmittelbare Zusammenhang zu diesem, selbst wenn sein Tätigwerden (auch) als Teilnahme an Arbeitsvorgängen des Unfallunternehmens erscheint.
2. Nach diesen Abgrenzungsgrundsätzen ist die „Eingliederung” des Klägers in den Betrieb der Streithelferin zu verneinen, so daß die Haftungsfreistellung des Zweitbeklagten aus §§ 636, 637 RVO nicht eingreift.
a) Die Arbeitgeberin des Klägers, das Speditionsunternehmen D., war zum Transport des Materials verpflichtet. Das Unternehmen war deshalb auch für das verkehrssichere Beladen des LKW' s verantwortlich. Damit war der Kläger als der verantwortliche Fahrzeugführer gegenüber seiner Arbeitgeberin gehalten, vor Ort für die Verkehrssicherheit des Fahrzeugs zu sorgen. Diese Verpflichtung ergab sich auch aus §§ 22, 23 StVO. Ohne das Eingreifen des Klägers hätte der Zweitbeklagte die dritte Palette auf dem hinteren Teil der Ladefläche des LKW' s abgesetzt. Dadurch wäre das Fahrzeug hinterlastig geworden. Als diese die Verkehrssicherheit beeinträchtigende Belastung des Fahrzeugs drohte, griff der Kläger, der sich bis zu diesem Zeitpunkt im Führerhaus des LKW' s aufgehalten hatte, in den Beladungsvorgang ein. Seine Intervention beschränkte sich auf die Erteilung der Beladungsanweisung, die zur Abwendung einer Beeinträchtigung der Verkehrssicherheit des Fahrzeugs erforderlich war.
b) Eine ungezwungene Betrachtung dieser Sachlage ergibt, daß der Kläger ausschließlich in Wahrnehmung der Aufgaben seiner Arbeitgeberin tätig geworden ist und sich zu diesem Zweck in den Risikobereich, in dem sich die betrieblichen Sphären seines Stammunternehmens und der Streithelferin trafen, begeben hat. Allerdings war das Eingreifen des Klägers zugleich für die Streithelferin, die gleichfalls für das verkehrssichere Beladen des LKW' s zu sorgen hatte, von Nutzen. Dies war jedoch angesichts der der Intervention des Klägers das Gepräge gebenden Wahrnehmung der Aufgaben seiner Arbeitgeberin ein bloßer Nebeneffekt, der für die unfallversicherungsrechtliche Zuordnung des Unfalls gegenüber den im Vordergrund stehenden anderen rechtlich relevanten Bewertungselementen an Bedeutung verliert.
III.
Bei dieser Sachlage war das Berufungsurteil insoweit, als es die Berufung des Klägers gegen die Abweisung seiner gegen den Zweitbeklagten gerichteten Klage zurückgewiesen hat, aufzuheben. Insoweit war die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, um ihm Gelegenheit zu geben, über die sich nunmehr stellenden Fragen – insbesondere das Mitverschulden des Klägers und die Höhe der Klageansprüche – zu entscheiden.
Unterschriften
Dr. Steffen, Scheffen, Dr. Kullmann, Dr. Ankermann, Dr. Lepa
Fundstellen
Haufe-Index 1237729 |
Nachschlagewerk BGH |