Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 31. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 17. Mai 1999 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als es zum Nachteil der Klägerin ergangen ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Der Freistaat Bayern ist Eigentümer eines mit einem Wohnhaus bebauten Grundstücks in M.. An diesem Grundstück wurde mit notarieller Urkunde vom 27. Juni 1933 zugunsten der Eheleute D. ein bis zum 31. Dezember 1999 befristetes Erbbaurecht zum Zwecke der Schaffung einer Kleinhaussiedlung begründet.
Die Beklagten sind die Erben der Eheleute D.. Mit notariellem Vertrag vom 20. Juli 1994 verkauften sie der Klägerin das Erbbaurecht zum Preis von 650.000 DM. Die Klägerin übernahm ausdrücklich das Risiko, daß das Erbbaurecht möglicherweise nicht verlängert würde.
Der Freistaat verweigerte die Zustimmung zur Veräußerung des Erbbaurechts. Seine Zustimmung wurde durch Beschluß des Amtsgerichts München vom 14. Mai 1996 ersetzt.
Die Klägerin zahlte auf den Kaufpreis insgesamt 83.335,68 DM. In Höhe von 21.564,32 DM rechnete sie mit einer unstreitigen Gegenforderung auf.
Gegen die von den Beklagten angedrohte Zwangsvollstreckung aus der notariellen Urkunde hat die Klägerin Zwangsvollstreckungsgegenklage erhoben. Sie ist aufgrund eines eingeholten Privatgutachtens der Auffassung, daß der Kaufvertrag sittenwidrig sei, weil der Verkehrswert des Erbbaurechts höchstens 105.000 DM betragen habe.
Das Landgericht hat der Klage nur in Höhe der erbrachten Zahlung stattgegeben, und sie im übrigen abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Zwangsvollstreckung für unwirksam erklärt, soweit mehr als 245.100 DM vollstreckt werden können. Mit der Revision verfolgt die Klägerin das Ziel, daß die Zwangsvollstreckung insgesamt für unzulässig erklärt wird. Die Revision der Beklagten, die Klageabweisung haben erreichen wollen, soweit die Unzulässigkeit der Zwangsvollstreckung in Höhe von 545.100 DM begehrt wird, hat der Senat nicht angenommen.
Entscheidungsgründe
I.
Das Berufungsgericht verneint eine Sittenwidrigkeit des Kaufvertrages über das Erbbaurecht nach § 138 BGB. Es stellt nach sachverständiger Beratung den Verkehrswert des Erbbaurechts zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses mit 350.000 DM fest, meint aber, zwischen diesem Wert und dem vereinbarten Kaufpreis von 650.000 DM bestehe kein besonders grobes Mißverhältnis, das ohne Hinzutreten weiterer Umstände zur Sittenwidrigkeit führe. Die Voraussetzungen des § 138 Abs. 2 BGB habe die Klägerin nicht dargetan. Sie habe sich vielmehr in dem vollen Bewußtsein, daß das Erbbaurecht zum 31. Dezember 1999 ablief, und eingedenk des Risikos, daß es nicht verlängert würde, in spekulativer Absicht zu dem Kauf entschlossen.
II.
Diese Ausführungen halten einer revisionsrechtlichen Prüfung nicht stand.
1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes kann ein Rechtsgeschäft, das den Wuchertatbestand des § 138 Abs. 2 BGB nicht in allen Punkten erfüllt, auch dann gegen die guten Sitten verstoßen und damit nach § 138 Abs. 1 BGB nichtig sein, wenn ein auffälliges Mißverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung besteht und weitere Umstände hinzutreten, insbesondere der Begünstigte aus verwerflicher Gesinnung gehandelt hat. Das ist z.B. angenommen worden, wenn der begünstigte Vertragspartner die wirtschaftlich schwächere Lage des anderen Teils bewußt zu seinem Vorteil ausnutzt oder wenn er sich leichtfertig der Einsicht verschließt, daß sich der andere nur unter Zwang der Verhältnisse auf den ungünstigen Vertrag einläßt (Senat, Urt. v. 18. Januar 1980, V ZR 34/78, WM 1980, 597; BGH, Urt. v. 25. Oktober 1979, III ZR 182/77, WM 1980, 10; Urt. v. 26. Mai 1982, VIII ZR 123/81, WM 1982, 839).
Ist das Mißverhältnis besonders groß, so ist allein deswegen der Schluß auf bewußte oder grob fahrlässige Ausnutzung irgendeines den Vertragspartner in seiner Entscheidungsfreiheit beeinträchtigenden Umstandes und damit auf eine verwerfliche Gesinnung zulässig (Senatsurt. v. 18. Januar 1980, V ZR 34/78, WM 1980, 597 m.w.N.; v. 30. Januar 1981, V ZR 7/80, WM 1981, 404, 405; v. 5. Juni 1981, V ZR 80/80, WM 1981, 1050, 1051; BGH, Urt. v. 26. November 1997, VIII ZR 322/96, NJW-RR 1998, 1065, 1066 m.w.N.).
2. Diese Grundsätze verkennt auch das Berufungsgericht nicht. Rechtsfehlerhaft ist indes die Annahme, ein besonders grobes Mißverhältnis sei vorliegend nicht gegeben. Hiervon ist nach der ständigen Senatsrechtsprechung auszugehen, wenn der Wert der Leistung „knapp doppelt so hoch” ist wie der Wert der Gegenleistung (vgl. Urt. v. 8. November 1991, V ZR 260/90, NJW 1992, 899, 900; v. 25. Februar 1994, V ZR 63/93, NJW 1994, 1344, 1347; ebenso BGH, Urt. v. 26. November 1997, VIII ZR 322/96, NJW-RR 1998, 1065, 1066 m.w.N.). So hat der Senat ein solches Mißverhältnis z.B. bei folgenden Relationen bejaht: 45.000 DM zu 80.000 DM (Urt. v. 18. Januar 1980, V ZR 34/78, WM 1980, 597), ca. 165.000 DM zu 300.000 DM (Urt. v. 30. März 1984, V ZR 61/83, WM 1984, 874), 220.000 DM zu 400.000 DM (Urt. v. 18. Januar 1991, V ZR 171/89, NJW-RR 1991, 589). Gemessen daran ist hier ein besonders grobes Mißverhältnis zu bejahen, und zwar schon dann, wenn man zugrunde legt, daß der Wert des Erbbaurechts zum Zeitpunkt des Rechtsgeschäfts 350.000 DM betrug. Diese Wertfeststellung, die das Berufungsgericht mit Hilfe des Sachverständigen getroffen hat, leidet im übrigen darunter, daß sie von der unzutreffenden, vom Berufungsgericht dem Sachverständigen vorgegebenen Annahme ausgeht, daß der Freistaat Bayern ein konkretes Angebot auf Verlängerung des Erbbaurechts bis 2056 abgegeben habe. Ein solches Angebot hat der Freistaat erst zu einem späteren, nach dem Vertragsschluß liegenden Zeitpunkt gemacht. Die Unsicherheit hinsichtlich der Laufzeit, die bei Vertragsschluß noch bestand, läßt erwarten, daß der Wert zu hoch bemessen wurde, so daß das Mißverhältnis in Wahrheit noch krasser ausfällt.
Im Falle eines besonders groben Mißverhältnisses ist der Schluß auf eine bewußte oder doch grob fahrlässige Ausnutzung eines den Vertragsgegner in seiner Entscheidungsfreiheit beeinträchtigenden Umstandes allerdings nicht unumstößlich, sondern nur im Rahmen tatrichterlicher Würdigung zulässig. Ob es sich dabei um einen Anscheinsbeweis handelt, worauf hindeutet, daß in der höchstrichterlichen Rechtsprechung häufig von einem „zwingend naheliegenden” Schluß die Rede ist (z.B. RGZ 150, 1, 6; Senat, Urt. v. 14. Juli 1969, VIII ZR 245/67, NJW 1969, 1255, 1256; Palandt/Heinrichs, BGB, 59. Aufl., § 138 Rdn. 34 a, spricht von einer tatsächlichen Vermutung, die im Ergebnis dem Anscheinsbeweis entsprechen kann, vgl. MünchKomm-ZPO/Prütting, § 292 Rdn. 23; Stein/Jonas/Leipold, ZPO, 21. Aufl., § 286 Rdn. 97 mit Fn. 271), oder ob das besonders grobe Mißverhältnis lediglich ein – allerdings gewichtiges – Indiz darstellt (so wohl Senat, Urt. v. 30. Januar 1981, V ZR 7/80, WM 1981, 404, 405), spielt keine Rolle. Jedenfalls beruht der Schluß auf einer Lebenserfahrung, daß in der Regel außergewöhnliche Leistungen nicht ohne Grund zugestanden werden und daß der Begünstigte diese Erfahrung teilt (Senat, Urt. v. 21. März 1997, V ZR 355/95, WM 1997, 1155). Infolgedessen können besondere Umstände des Geschäfts, die einer solchen Lebenserfahrung entgegenstehen, dazu führen, daß trotz eines besonders groben Mißverhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung eine verwerfliche Gesinnung des Begünstigten zu verneinen ist (Senat aaO).
a) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist ein solcher besonderer Umstand allerdings nicht darin zu sehen, daß sich die Klägerin in dem Bewußtsein, daß das Erbbaurecht Ende 1999 ablief und seine Verlängerung ungewiß war, „in spekulativer Absicht” zu dem Kauf entschlossen hätte. Der spekulative Charakter des Geschäfts hat Einfluß auf die Wertberechnung und hätte der Klägerin Rechte versperrt, wenn sich ihre Hoffnung auf eine Verlängerung des Erbbaurechts nicht erfüllt hätte. Er ändert aber nichts an dem groben Mißverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung und der Lebenserfahrung, daß im Regelfall niemand ohne Grund bereit ist, ein für ihn derart ungünstiges Geschäft zu tätigen. Daß eine „spekulative Erwartung” die Klägerin dazu veranlaßt haben könnte, einen „Liebhaberpreis” zu zahlen, entbehrt der Grundlage. Wer spekuliert, hofft darauf, wenigstens den Wert zu erhalten, den der Gegenstand im Falle einer günstigen Entwicklung hat. Hier war das Erbbaurecht nach der vom Berufungsgericht übernommenen Wertfeststellung des Sachverständigen aber auch unter Berücksichtigung einer Verlängerung nur 350.000 DM wert.
b) Ob sich aus anderen Umständen, etwa aus den subjektiven Vorstellungen der Parteien vom Wert des Erbbaurechts, Zweifel an der Berechtigung des Lebenserfahrungssatzes im konkreten Fall ergeben, unterliegt der Prüfung durch den Tatrichter. Feststellungen dazu sind nicht getroffen. Der Vortrag der Parteien – wie er sich aus dem angefochtenen Urteil ergibt – ist dazu widersprüchlich. Einerseits sieht sich die Klägerin übervorteilt, was eine Kenntnis der Beklagten von den wahren Wertverhältnissen bedingt; andererseits hat sie vorgetragen, beide Kaufvertragsparteien, also auch die Beklagten, seien bei Vertragsschluß davon ausgegangen, daß der Wert des Erbbaurechts 650.000 DM betrage. Das wiederum haben aber gerade die Beklagten bestritten.
Unterschriften
Wenzel, Schneider, Wiebel, Klein, Gaier
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 08.12.2000 durch Kanik, Justizamtsinspektorin als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen
Haufe-Index 507842 |
NJOZ 2001, 272 |