Entscheidungsstichwort (Thema)
Anspruch auf Erstattung von Leistungen durch eine Berufsgenossenschaft im Fall des grob fahrlässigen Verschuldens bei einem Unfallereignis nach § 640 Reichsversicherungsordnung (RVO)
Leitsatz (amtlich)
Ein Arbeitsunfall, der sich infolge Bereitstellung und Verwendung eines entgegen den Unfallverhütungsvorschriften völlig ungesicherten Arbeitsgerüstes ereignet, rechtfertigt gegen den Unternehmer den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit.
Normenkette
RVO § 640
Tenor
- Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des 22. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 23. September 1971 wird zurückgewiesen.
- Jedoch wird klargestellt, daß die Beklagte von den Kosten des Berufungsrechtszuges die Hälfte der Gerichtskosten und der außergerichtlichen Kosten der Klägerin sowie ihre eigenen außergerichtlichen Kosten zu tragen hat.
- Die Kosten der Revision fallen der Beklagter zur Last.
Tatbestand
Die Klägerin, eine Berufsgenossenschaft, macht gegen die Beklagte, die Witwe und Alleinerbin des zunächst verklagten, jedoch während des Berufungsverfahrens verstorbenen Unternehmers B. auf § 640 RVO gestützte Ansprüche geltend.
Der 1898 geborene Ehemann der Beklagten betrieb ein Fachgeschäft für Terrazzo, Platten und Treppen; das Unternehmen war bei der Klägerin als Träger der gesetzlichen Unfallversicherung versichert. Der Ehemann der Beklagten hatte im Jahre 1962 mit der Errichtung von zwei je 150 × 30 m großen Werkhallen begonnen. Nach Errichtung der Stahlgerüste durch ein holländisches Unternehmen und nach Ausführung der Maurerarbeiten durch Angehörige des eigenen Betriebes und durch Strafgefangene ließ der Ehemann der Beklagten im Jahr 1965 von einem Schmiedemeister zwei fahrbare eiserne Flächengerüste herstellen, die für die Montage der Hallendächer benötigt wurden. Für das kleinere der beiden Gerüste, das 3,8 m hoch war, ließ der Ehemann der Beklagten im eigenen Betrieb eine hölzerne Arbeitsbühne fertigen, die nicht mit einem Schutzgeländer und mit einem festen Bordbrett umrahmt war; die Bühne hatte eine Fläche von 2 × 2,5 m. Zur Ausführung der für die Hallenbedachung erforderlichen Zimmererarbeiten stellte der Ehemann der Beklagten den Schreiner I. ein, der den gleichen Stundenlohn wie ein Vorarbeiter im Terrazzobetrieb und eine zusätzliche wöchentliche Vergütung von 20 DM erhielt. Für die Dachkonstruktion mußten zunächst Längsbalken, sogen. Pfetten, auf den querverbindenden in etwa 4 m Höhe angebrachten Eisenträgern verlegt und befestigt werden. Am Vormittag des 15. Januar 1968 wurde der im Terrazzobetrieb des Ehemannes der Beklagten beschäftigte damals 39 Jahre alte Betonschleifer Ch. zu den Zimmererarbeiten in der Halle hinzugezogen. Er hatte die Pfetten zum Dach hinaufzureichen; hierbei stand er auf dem kleineren der beiden Arbeitsgerüste und nahm die ihm vom Hallenboden angereichten mehr als 50 kg schweren Pfettenabschnitte entgegen, die er zu dem höheren Arbeitsgerüst weiterreichte. Im Verlauf dieser Arbeiten machte Ch. einen Fehltritt und stürzte von dem Gerüst ab. Beim Aufschlagen auf den Hallenboden erlitt er schwere Verletzungen.
Seitdem erbringt die Klägerin für ihn, der noch immer arbeitsunfähig ist, Leistungen (Heilverfahren, Verletztengeld, Unfallrente). Diese hat sie von dem Ehemann der Beklagten und dem Schreiner I. erstattet verlangt mit der Begründung, daß diese den Unfall in grob fahrlässiger Weise verursacht hätten; das Gerüst habe nicht den Unfallverhütungsvorschriften entsprochen. Das gegen I. eingeleitete Strafverfahren ist gemäß § 153 StPO eingestellt, die gegen ihn erhobene Rückgriffsklage rechtskräftig abgewiesen worden. Die gegen den Ehemann der Beklagten erhobene Anklage wegen fahrlässiger Körperverletzung hat sich durch dessen Tod erledigt.
Der Ehemann der Beklagten und diese selbst haben sich gegen den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit gewehrt.
Das Landgericht hat den Ehemann der Beklagten entsprechend dem Antrag der Klägerin verurteilt, an diese 14.293,85 DM (d.h. die bis zum 9. Dezember 1968 erbrachten Leistungen) nebst Zinsen zu zahlen; es hat ferner die Verpflichtung festgestellt, ihr die weiteren gesetzlichen Aufwendungen für den Unfallverletzten zu ersetzen.
Die Berufung der Beklagten, die das im zweiten Rechtszug gemäß § 246 ZPO ausgesetzte Verfahren aufgenommen hat, ist ohne Erfolg geblieben.
Mit der Revision erstrebt die Beklagte weiterhin Klagabweisung.
Entscheidungsgründe
I.
Nach Ansicht des Berufungsgerichts hat der Ehemann der Beklagten den Arbeitsunfall nicht nur fahrlässig, sondern in grobfahrlässiger Weise herbeigeführt. Es geht davon aus, daß unstreitig das 3,8 m hohe Arbeitsgerüst entgegen den Unfallverhütungsvorschriften nicht mit einem Schutzgeländer und mit einem Bordbrett versehen war, obwohl nach der maßgebenden Unfallverhütungsvorschrift "Gerüstordnung DIN 4420" Nr. VI 21.2 Gerüstböden, die mehr als 2 m über dem Boden stehen, in dieser Weise zu sichern sind. Hätte der Ehemann der Beklagten diese Unfallverhütungsvorschrift beachtet, so würde der Unfall vermieden worden sein.
II.
Die Ausführungen, mit denen das Berufungsgericht seine Ansicht begründet, der Ehemann der Beklagten habe grobfahrlässig gehandelt, begegnen keinen Bedenken.
Die Beurteilung der Frage, ob ein schuldhaftes Verhalten nur als fahrlässig oder ob es als grobfahrlässig zu bezeichnen ist, steht in erster Linie dem Tatrichter zu. Das Revisionsgericht darf nur prüfen, ob das Berufungsgericht den Begriff der groben Fahrlässigkeit verkannt und die insoweit erforderlichen Feststellungen rechtsfehlerfrei getroffen hat. Für die Beurteilung des Grades der Fahrlässigkeit lassen sich allgemeine Regeln nur mit großem Vorbehalt aufstellen, so daß stets eine besondere Prüfung aller objektiven und subjektiven Umstände des Einzelfalles erforderlich ist. Grobe Fahrlässigkeit setzt einen objektiv schweren und subjektiv nicht entschuldbaren Verstoß gegen die Anforderungen der Verkehrserforderlichen Sorgfalt voraus; die erforderliche Sorgfalt muß in ungewöhnlich hohem Maße verletzt worden und es muß dasjenige unbeachtet geblieben sein, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen (vgl. Senatsurteile vom 24. Juni 1969 - VI ZR 36/68 = VersR 1969, 848 und vom 20. Juni 1972 - VI ZR 128/71 = VersR 1972, 877, 879 m.w.Nachw.)
Das Berufungsgericht hat diese Grundsätze beachtet; die von ihm getroffenen tatsächlichen Feststellungen lassen keinen Verfahrensmangel erkennen.
Die von der Revision erhobenen Verfahrens- und Sachrügen erweisen sich als unbegründet:
1.
Soweit sie beanstandet, das Berufungsgericht habe übersehen, daß der Ehemann der Beklagten in der Berufungsbegründung unter Hinweis auf eine schriftliche Erklärung des früheren Mitbeklagten I. vorgetragen habe, dieser sei langjährig als Zimmermann ausgebildet gewesen, ist ihr entgegenzuhalten, daß im unstreitigen Teil des Tatbestandes des angefochtenen Urteils I. - ebenso wie schon im landgerichtlichen Urteil - als "gelernter Schreiner" bezeichnet wird, so daß hiervon in der Revisionsinstanz auszugehen ist (§ 561 Abs. 1, § 314 ZPO).
2.
Das Gleiche gilt für die Rüge, das Berufungsgericht habe die in den zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Strafakten enthaltenen Aussagen von zwei Arbeitskameraden des Verunglückten nicht berücksichtigt, nach denen die Arbeitsbühne nach zwei Seiten hin abgesichert gewesen sei. Auch insoweit steht der unstreitige Urteilstatbestand entgegen, aus dem hervorgeht, daß die Arbeitsbühne nicht mit einem Schutzgeländer und nicht mit einem festen Bordbrett umrahmt war und daß bei ihrer Fertigung die Sicherheitsbestimmungen der Unfallverhütungsvorschriften nicht beachtet wurden.
3.
Die Revision weist darauf hin, daß das Berufungsgericht in seinem dem angefochtenen Urteil vorausgegangenen Teilurteil vom 11. November 1970, mit dem es das im Verhältnis der Klägerin zu dem Schreiner I. ergangene klagabweisende Urteil bestätigt hatte, ausgeführt hat, die Fläche der Arbeitsbühne sei groß genug gewesen, um ein sicheres Stehen zu gewährleisten und sogar eine gewisse Bewegungsmöglichkeit zu geben. Die Revision vermag nicht einzusehen, weshalb in diesem Punkt zu Lasten des Ehemannes der Beklagten eine andere Würdigung Platz greifen soll als bezüglich des nach ihrer Ansicht in Zimmererarbeiten erfahrenen I.
Diese Überlegungen der Revision gehen fehl. Es kommt nur darauf an, was das Berufungsgericht in dem angefochtenen Urteil seiner Entscheidung zugrundegelegt hat. Es ist davon ausgegangen, daß I., der unstreitig nur gelernter Schreiner ist, auf Grund dieser Berufsausbildung und -erfahrung erkennbar nicht die für die Errichtung eines Hallendaches notwendige Sachkunde und Erfahrung und auch nicht die Kenntnis von den beim Arbeiten auf Gerüsten zu beachtenden Unfallverhütungsvorschriften hatte. Bei der Erörterung der Frage der Verantwortlichkeit des Schreiners I, hat das Berufungsgericht die besondere Verantwortlichkeit des Ehemanns der Beklagten gegenübergestellt und ist hierbei rechtsirrtumsfrei zu der Überzeugung gelangt, daß das Maß der Verantwortung, das den Ehemann der Beklagten traf, ungleich größer war als die Verantwortung des Schreiners I. Wenn das Berufungsgericht ein grobfahrlässiges Verschulden des Schreiners I. verneint, ein solches des Ehemanns der Beklagten hingegen bejaht hat, so hält sich diese Wertung im Rahmen der tatrichterlichen Würdigung.
4.
Die Revision meint, das angefochtene Urteil enthalte einen Widerspruch. Das Berufungsgericht mache dem Ehemann der Beklagten zunächst zum Vorwurf, daß er überhaupt die Werkhallen ohne Hinzuziehung geeigneter Fachunternehmer habe errichten und die gefährlichen Arbeiten an den Hallendächern ohne Mitwirkung von Fachleuten habe ausfuhren lassen. In Widerspruch hierzu mache das Berufungsgericht dem Ehemann der Beklagten den Vorwurf, er habe es unterlassen, sich selbst vor Aufnahme der Arbeiten auf den Gerüsten über etwa bestehende Sicherheitsvorschriften auf dem für ihn fremden Fachgebiet zu unterrichten.
Hierin liegt kein Widerspruch und auch keine unzulässige Kumulierung mehrerer Schuldvorwürfe; vielmehr wird durch den Vorwurf, sich nicht über Sicherheitsvorschriften informiert zu haben, lediglich die dem Ehemann der Beklagten angelastete Errichtung der Werkhallen in eigener Regie ohne Hinzuziehung und Mitwirkung von Fachleuten in ihrem Schuldgehalt verstärkt. Wenn der Ehemann der Beklagten es schon unterließ, Fachleute heranzuziehen, dann hätte er wenigstens die Sicherheitsvorschriften beachten und, wenn ihm die einschlägigen Vorschriften nicht bekannt waren, sich erkundigen müssen. Die beiden Vorwürfe schließen sich also nicht aus; der Vorwurf der Nichtbeachtung von Sicherheitsvorschriften ergänzt den in erster Linie erhobenen Vorwurf der Errichtung so großer Bauwerke in eigener Regie.
5.
Entgegen der Ansicht der Revision hat das Berufungsgericht bei der Prüfung der Frage, ob dem Ehemann der Beklagten grobfahrlässiges Verhalten vorzuwerfen ist, die personale Seite nicht vernachlässigt und sich etwa nur mit objektiven Gesichtspunkten begnügt. Das Berufungsgericht hat nicht übersehen, daß der Ehemann der Beklagten am Unfalltag nahezu 70 Jahre alt und seit längerer Zeit erkrankt war. Die nicht den Unfallverhütungsvorschriften entsprechende Arbeitsbühne war aber nicht etwa erst kurze Zeit vor dem Unfall in Benutzung genommen worden; sie war vielmehr bereits länger als zwei Jahre vorher hergestellt worden, wobei der Ehemann der Beklagten den Oberteil in seinem eigenen Betrieb anfertigen ließ. Ihm war also die Beschaffenheit des Arbeitsgeräts bekannt. Bei dem Ehemann der Beklagten handelte es sich nicht um einen in technischen Dingen unerfahrenen Bauherrn, sondern, wovon das Berufungsgericht überzeugt ist, um einen Unternehmer, der auf Grund einer jahrzehntelangen Tätigkeit als Inhaber eines Spezialbetriebs im Bauwesen mit den Problemen der Arbeitssicherheit und des Arbeitsschutzes vertraut war. Wenn unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte der Tatrichter keine subjektiven Besonderheiten anzuerkennen vermocht hat, die geeignet wären, den Ehemann von dem objektiv schweren und subjektiv nicht entschuldbaren Vorwurf der groben Fahrlässigkeit zu entlasten, so ist das revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
III.
Zu Recht weist die Revision darauf hin, daß die in dem angefochtenen Urteil getroffene Kostenentscheidung, nach der die Beklagte die Kosten der Berufung trägt, der Klarstellung bedarf. Im Teilurteil vom 11. November 1970, durch das die Berufung der Klägerin gegen das die Klage gegen I. abweisende Endurteil vom 26. November 1969 zurückgewiesen worden ist, hat das Berufungsgericht ohne nähere Begründung die Kosten des Berufungsverfahrens der Klägerin auferlegt. Offensichtlich hat es jedoch im jetzt angefochtenen Urteil nur insoweit über die Kosten des einheitlichen Berufungsverfahrens erkennen wollen, als sie unter Berücksichtigung der Beteiligung beider Beklagten am Berufungsverfahren und dem unterschiedlichen Ergebnis ihrer Rechtsmittel dieser Beklagten zur Last fallen (vgl. dazu Baumbach/Lauterbach ZPO 30. Aufl. § 100 Anm. 6 C; Stein/Jonas/Pohle ZPO 19. Aufl. § 100 IV). Daraus ergibt sich auch, ohne daß diese Frage Gegenstand des jetzigen Revisionsverfahrens ist, wie die Kostenentscheidung im ersten Berufungsurteil (Teilurteil) im Zusammenhang zu verstehen ist.
Unterschriften
Nüßgens
Sonnabend
Richter am BGH Dunz ist beurlaubt und ortsabwesend und kann deshalb nicht unterschreiben. Nüßgens
Scheffen
Dr. Steffen
Fundstellen
Haufe-Index 1456168 |
JZ 1973, 372 |