Leitsatz (amtlich)
Ist ein Unternehmer nach der RVO von der Haftung für einen Arbeitsunfall freigestellt, so kann er auch nicht von einem Zweitschädiger auf Ausgleichung in Anspruch genommen werden.
(Bestätigung von BGHZ 19, 114, 120).
Normenkette
RVO §§ 636, 898 a.F.; BGB § 426
Verfahrensgang
OLG Düsseldorf (Urteil vom 04.02.1965) |
LG Düsseldorf |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 4. Februar 1965 wird zurückgewiesen.
Die Kosten der Revision werden der Klägerin auferlegt.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Die Klägerin betreibt die Neußer Eisenbahn. Diese führt in einer scharfen Kurve auf eigenem Bahnkörper unmittelbar am Bürogebäude der Beklagten auf der Rheintorstraße in Neuß vorbei. Um vom Büroausgang des Betriebes der Beklagten die Straße erreichen zu können, muß man den Bahnkörper überqueren. Zum Überschreiten der Gleise hat die Klägerin vom Ausgang des Büros über den mit Schotter belegten Bahnkörper hinweg bis zur Straße einen Überweg angelegt. Der Abstand zwischen dem Gebäude und der zu dem Gebäude hin gelegenen Schiene beträgt 3,02 m.
Im Januar 1957 wollte Alice K. – eine Arbeitnehmerin der Beklagten – das Bürogebäude zur Mittagspause verlassen. Beim Herannahen eines Zuges der Eisenbahn erschrak sie, stolperte beim Zurücktreten und fiel nach rückwärts zu Boden. Dabei berührte sie mit dem Fuß die Lokomotive und verletzte sich.
Die Norddeutsche Holz-Berufsgenossenschaft, der die Verletzte und die Beklagte angehören, erkannte das Unglück als Arbeitsunfall an und übernahm die Kosten der Unfallfolgen im Rahmen der Reichsversicherungsordnung.
In einem Vorprozeß ist die Klägerin wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht zur Leistung von Schadensersatz an Alice K. verurteilt worden. Die Klägerin hat daraufhin entsprechende Leistungen an Alice K. erbracht und noch weiter zu erbringen; sie hat ferner Erstattungsansprüche der Berufsgenossenschaft befriedigt.
Die Klägerin verlangt von der Beklagten Erstattung der Hälfte der geleisteten und noch zu leistenden Beträge, einschließlich der Kosten für den Vorprozeß. Sie ist der Auffassung, die im Vorprozeß festgestellte Verkehrssicherungspflicht habe in erster Linie der Beklagten obgelegen.
Die Klägerin hat beantragt,
- die Beklagte zur Zahlung von 2.075,81 DM nebst Zinsen zu verurteilen;
- festzustellen, daß die Beklagte verpflichtet ist, die künftig an Fräulein Alice K. auf Grund des Urteils des Landgerichts Düsseldorf vom 14.2.62 – 2 O 333/58 – zu entrichtenden Rentenbeträge zur Hälfte zu erstatten.
Die Beklagte hat um Abweisung der Klage gebeten. Sie hat bestritten, eine Verkehrssicherungspflicht schuldhaft verletzt zu haben, und im übrigen geltend gemacht, daß nach § 898 RVO alter Fassung eine Haftung des Unternehmers für die Folgen eines Arbeitsunfalls seines Arbeitnehmers ausgeschlossen sei. Dieser Haftungsausschluß habe zur Folge, daß der Unternehmer auch von einem Zweitschädiger nicht zur Ausgleichung herangezogen werden könne.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin blieb ohne Erfolg.
Mit der vom Oberlandesgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihren Klageantrag weiter.
Entscheidungsgründe
I.
Das Berufungsgericht geht davon aus, daß die bürgerlich-rechtliche Schadenshaftung der Beklagten gegenüber ihrer Arbeitnehmerin für die Folgen des Arbeitsunfalls nach § 898 RVO (alter Fassung) ausgeschlossen ist. Dem ist zuzustimmen. Mit rechtlich zutreffender Begründung hat das Berufungsgericht dargelegt, Alice K. habe den Arbeitsunfall nicht als Teilnehmerin am allgemeinen Verkehr erlitten; daher könne die Ausnahmebestimmung des § 1 des Gesetzes über die erweiterte Zulassung von Schadensersatzansprüchen bei Dienst- und Arbeitsunfällen vom 7. Dezember 1943 (ErwZulG) nicht angewandt werden. Die Klägerin leitet die Haftung der Beklagten daraus her, daß diese wegen der besonderen Verhältnisse am Ausgang ihres Bürogeländes verpflichtet gewesen sei, durch Sicherheitsmaßnahmen die Gefahren zu mindern, die den Besuchern ihres Betriebes, vor allem aber den in ihm Beschäftigten drohten. Bestanden insoweit Verkehrssicherungspflichten, so ergaben sie sich eben aus der Art der Anlage und Einrichtung der Betriebsstätte. Die Unterlassung gebotener Sicherungsmaßnahmen bedeutete gegenüber den Arbeitnehmern gleichzeitig eine schuldhafte Verletzung einer typischen arbeitsvertraglichen Fürsorgepflicht. Angesichts des engen Zusammenhangs der (zu unterstellenden) Pflichtverletzung mit der Anlage des Betriebes ist der Unfall ebenso als betriebsbezogener Vorgang zu beurteilen, wie er es wäre, wenn er sich innerhalb des Bürogebäudes und der zugehörigen Anlagen ereignet hätte (vgl. BAG 3, 103; BGH LM Dienst- und Arbeitsunfallgesetz Nr. 14 = MDR 1964, 315). Bei dieser engen Betriebsbezogenheit kommt es auf die Eigentumsverhältnisse an dem Übergangsweg ebenso wenig an, wie darauf, daß in ähnlicher Weise auch ein Besucher des Bürogebäudes bei dessen Verlassen hätte geschädigt werden können.
II.
Es stellt sich daher das Problem, ob die Haftungsfreistellung des Unternehmers, die die HVO im § 636 (früher im § 898) anordnet, soweit geht, daß auch einem Zweitschädiger der sonst bei Beteiligung mehrerer Schädiger bestehende Ausgleichsanspruch gegen den Unternehmer (§ 426 in Verbindung mit § 254 BGB) mit der Wirkung versagt wird, daß der Zweitschädiger den Schaden im Ergebnis allein tragen muß. Der erkennende Senat hat diese Folgerung bislang gezogen (BGHZ 19, 114, 120; LM BGB § 249 Ba Nr. 8). Andererseits hat der Senat den Ausgleich gemäß der Quote der Schadensverursachung zwischen zwei Schädigern zugelassen, obwohl die Haftung des einen von ihnen rechtsgeschäftlich abbedungen worden war (BGHZ 12, 213; 35, 317, 323). Ebenso sind beamtenrechtliche Vorschriften, die die Haftung des öffentlichen Dienstherrn gegenüber seinen Beamten betreffen, in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs durchweg so ausgelegt worden, daß durch sie der Ausgleich unter mehreren Schädigern im Zweifel nicht gesperrt wird (BGHZ 6, 3; BGH LM BBG § 151 Nr. 1 = VersR 1962, 983; BGHZ 43, 178, 183). Im Schrifttum treten gegenüber der herrschenden Lehre und Rechtsprechung insbesondere Westermann (Erman BGB-Kommentar 3. Aufl. Anm. 3 zu § 426) und Fischer (BGB RGR-Kommentar 11. Aufl. Anm. 15 zu § 426) dafür ein, daß das nach der RVO bestehende Haftungsprivileg des Unternehmers dem Ausgleichsanspruch eines Zweitschädigers nicht im Wege stehen sollte.
Der Senat hält an seiner bisherigen Rechtsprechung fest, daß der durch die RVO von der Schadenshaftung befreite Unternehmer auch auf dem Wege des Ausgleichs unter mehreren Schädigern nicht gezwungen werden kann, für den Personenschaden aus einem Arbeitsunfall ganz oder teilweise aufzukommen. Der Grund für die Versagung des Ausgleichs liegt darin, daß nach dem Sinn der gesetzlichen Regelung die privatrechtliche Schadenshaftung des Unternehmers für Personenschäden aus Arbeitsunfällen durch ein öffentlich-rechtliches Versicherungssystem abgelöst werden soll. Das Risiko für Personenschäden aus Arbeitsunfällen ist durch die EVO auf die in der Berufsgenossenschaft zusammengefaßte Gemeinschaft der Unternehmer in einer versicherungsrechtlichen Form verteilt worden. Durch die Beitragsleistung zur Berufsgenossenschaft sollen die Unternehmer für einen wirksamen und umfassenden Schutz der Arbeitnehmer bei Arbeitsunfällen Sorge tragen. Zum Ausgleich für die gesetzliche Beitragslast sollen sie gleichzeitig davor geschützt werden, daß sie für die Schadensfolgen eines Arbeitsunfalls haftungsrechtlich verantwortlich gemacht werden. Nur bei einem qualifizierten Verschulden soll eine Beteiligung des Unternehmers an den Unfallfolgen in einem gesetzlich im einzelnen geregelten Verfahren durch die Berufsgenossenschaft durchgesetzt werden können (§ 640 RVO, früher § 903 RVO). Diese Ausschaltung des privaten Haftungsrechts, die gleichzeitig Störungen des Arbeitsfriedens entgegenwirken will, ist ein Kernstück der gesetzlichen Unfallversicherung. Sie würde entscheidend entwertet, wenn Zweitschädiger vom Unternehmer im Wege des Gesamtschuldnerausgleichs eine Beteiligung an den Schadens folgen fordern könnten. Ließe man den Ausgleich zu, wäre es zudem zweifelhaft, ob er vom Unternehmer selbst gefordert werden könnte oder ob er nicht vielleicht gegenüber der Berufsgenossenschaft geltend zu machen wäre. Der Ausgleich unter mehreren Schädigern würde sich endlich ohne besondere gesetzliche Regelung nur schwer in ein versicherung rechtliches System einfügen lassen, das einen besonderen öffentlich-rechtlichen Versicherungsträger in der Art in die Schadensabwicklung einschaltet, daß es ihm abgeleitete oder originäre Ansprüche zuweist (§§ 1542, 640 RVO).
Der Senat verkennt nicht, daß die gegenwärtige Regelung den Zweitschädiger in unbilliger Weise benachteiligt. Das zeigt sich insbesondere dann, wenn der Beitrag des Zweitschädigers zur Schadensentstehung – anders als im vorliegenden Fall – nur geringfügig war. Die Unbilligkeit dieser Regelung kann nicht mit der Erwägung als relativ bedeutungslos hingestellt werden, es komme auch sonst vor, daß ein nach § 840 Abs. 1 BGB mitverantwortlicher Schädiger im Ergebnis den Schaden allein tragen müsse, dann nämlich, wenn der andere Schädiger unbekannt oder insolvent sei. Zu solchen Folgen kann es bei einer Gesamtschuldnerschaft immer einmal kommen. Hier aber sperrt das Gesetz selbst den angemessenen Schadensausgleich, indem es die Wirkungen eines versicherungsrechtlichen Haftungsprivilegs über den Kreis der am Versicherungsverhältnis Beteiligten hinaus ausdehnt. Der Senat hält sich aber nicht für befugt, dem Sinn der gesetzlichen Regelung zuwider den Ausgleich gemäß § 426 BGB zu Lasten des Unternehmers zuzulassen und damit einen der möglichen Wege einzuschlagen, der in Betracht kommt, um die versicherungsrechtliche Regelung mit dem allgemeinen Haftungsrecht zu harmonisieren und in dem Widerstreit der Interessen eine gerechtere Lösung zu erreichen. Die Bereinigung des Problems ist ein rechtspolitisches Postulat, das den Gesetzgeber angeht.
III.
Die Revision der Klägerin war daher als unbegründet zurückzuweisen.
Unterschriften
Engels, Hanebeck, Dr. Bode, Dr. Hauß, Dr. Pfretzschner
Fundstellen
Haufe-Index 1502236 |
NJW 1967, 982 |
Nachschlagewerk BGH |
MDR 1967, 482 |