Leitsatz (amtlich)
1. Ein nicht vorhergesehenes Ereignis, von dem rund die Hälfte aller vorhandenen Flugzeuge betroffen ist, betrifft typischerweise einen wesentlichen Teil der Flotte und gehört deshalb grundsätzlich nicht zur normalen Tätigkeit eines Luftfahrtunternehmens.
2. Besteht aufgrund eines an einem Flugzeug aufgetretenen Defekts Anlass, alle Flugzeuge dieses Typs einer Untersuchung zu unterziehen, kann dem ausführenden Luftfahrtunternehmen grundsätzlich nicht angesonnen werden, zur Vermeidung von Verspätungen und Annullierungen mit der Untersuchung einzelner Maschinen zuzuwarten und die hierdurch entstehenden Risiken für die Sicherheit der Fluggäste in Kauf zu nehmen.
Normenkette
EGV 261/2004 Art. 5 Abs. 3
Verfahrensgang
LG Stuttgart (Entscheidung vom 11.11.2021; Aktenzeichen 5 S 96/20) |
AG Nürtingen (Entscheidung vom 07.05.2020; Aktenzeichen 15 C 5651/19) |
Tenor
Die Revision gegen das Urteil der 5. Zivilkammer des Landgerichts Stuttgart vom 11. November 2021 wird auf Kosten der Klägerin zurückgewiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Rz. 1
Die Klägerin nimmt die Beklagte aus abgetretenem Recht auf eine Ausgleichszahlung nach der Fluggastrechteverordnung in Anspruch.
Rz. 2
Die Zedenten buchten für den 15. Oktober 2019 unter einer einheitlichen Buchungsnummer Flüge von Kapstadt über Zürich nach Stuttgart. Die Beklagte war ausführendes Luftfahrtunternehmen für den Teilflug von Zürich nach Stuttgart. Dieser Flug wurde annulliert. Die Zedenten kamen in Stuttgart mit einem Ersatzflug und einer Verspätung von mehr als acht Stunden an.
Rz. 3
Grund für die Verzögerung war, dass die Beklagte 28 Maschinen ihrer Airbus A220-Flotte aufgrund technischer Probleme zur Inspektion der Triebwerke stillgelegt hatte. Hintergrund war eine nach mehreren Zwischenfällen ergangene Anweisung der US-amerikanischen Luftfahrtbehörde vom 26. September 2019, nach bestimmten Flugzyklen Inspektionen an Maschinen dieses Typs durchzuführen, und ein Triebwerksausfall bei einer Maschine am 15. Oktober 2019.
Rz. 4
Das Amtsgericht hat die Beklagte antragsgemäß zur Zahlung von 1.200 Euro nebst Zinsen verurteilt. Das Berufungsgericht hat die Klage auf die Berufung der Beklagten durch Versäumnisurteil abgewiesen und dieses Urteil nach Einspruch der Klägerin aufrechterhalten.
Rz. 5
Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihren erstinstanzlichen Antrag weiter. Die Beklagte tritt dem Rechtsmittel entgegen.
Entscheidungsgründe
Rz. 6
Die zulässige Revision hat keinen Erfolg.
Rz. 7
I. Das Berufungsgericht hat angenommen, die Beklagte sei trotz der eingetretenen Verspätung von mehr als drei Stunden nicht zur Leistung einer Ausgleichszahlung verpflichtet. Sie habe dargelegt und unter Beweis gestellt, dass sie aufgrund der Anweisung der Luftfahrtbehörde Anlass gehabt habe, ihre Flotte einer außerplanmäßigen Inspektion zu unterziehen. Von der Anweisung sei die Hälfte ihrer vorhandenen Kurz- und Mittelstreckenflugzeuge betroffen gewesen. Die Klägerin habe dieses Vorbringen nur einfach bestritten und auf die weitere Substantiierung der Beklagten nicht erwidert. Aufgrund des gravierenden sicherheitsrelevanten technischen Problems, das eine Vielzahl der Maschinen der Flotte betroffen habe, sei die Annullierung des Flugs unumgänglich gewesen. Die Beklagte sei nicht verpflichtet gewesen, für einen solchen Fall Ersatzflugzeuge vorzuhalten. Es sei auch nicht ersichtlich, dass eine Umbuchung der Zedenten auf eine andere Verbindung zu einer geringeren Verspätung am Endziel geführt hätte, da dies wegen des Nachtflugverbots in Stuttgart nicht möglich gewesen sei.
Rz. 8
II. Diese Beurteilung hält der rechtlichen Nachprüfung stand.
Rz. 9
Der Klägerin steht kein Anspruch auf eine Ausgleichszahlung nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. a und Art. 5 Abs. 1 Buchst. c FluggastrechteVO zu.
Rz. 10
1. Die vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen tragen die Annahme, dass die Annullierung auf außergewöhnlichen Umständen beruht.
Rz. 11
a) Außergewöhnliche Umstände, die nach Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO einem Ausgleichsanspruch wegen Annullierung oder erheblicher Verspätung entgegenstehen können, sind nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union Umstände, die außerhalb dessen liegen, was üblicherweise mit dem Ablauf der Personenbeförderung im Luftverkehr verbunden ist oder verbunden sein kann.
Rz. 12
Dies sind Ereignisse, die nicht zum Luftverkehr gehören, sondern als jedenfalls in der Regel von außen kommende besondere Umstände dessen ordnungs- und planmäßige Durchführung beeinträchtigen oder unmöglich machen können. Umstände, die im Zusammenhang mit einem den Luftverkehr störenden Vorfall wie einem technischen Defekt auftreten, können nur dann als außergewöhnlich im Sinne von Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO qualifiziert werden, wenn sie auf ein Vorkommnis zurückgehen, das wie die in Erwägungsgrund 14 der Verordnung aufgezählten Ereignisse nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betroffenen Luftfahrtunternehmens und aufgrund seiner Natur oder Ursache von diesem tatsächlich nicht zu beherrschen ist (EuGH, Urteil vom 22. Dezember 2008 - C-549/07, NJW 2009, 347 = RRa 2009, 35 Rn. 23 - Wallentin-Hermann/Alitalia; Urteil vom 17. September 2015 - C-257/14, NJW 2015, 3427 = EuZW 2015, 805 = RRa 2015, 287 Rn. 36 - van der Lans/KLM).
Rz. 13
Der Senat hat hieraus abgeleitet, dass technische Defekte, wie sie beim Betrieb eines Flugzeugs typischerweise auftreten, grundsätzlich keine außergewöhnlichen Umstände begründen, sondern Teil der normalen Tätigkeit des betroffenen Luftfahrtunternehmens sind (BGH, Urteil vom 4. Juni 2019 - X ZR 22/18, NJW-RR 2019, Rn. 10; Urteil vom 15. Januar 2019 - X ZR 15/18, NJW 2019, 1369 Rn. 12). Außergewöhnliche Umstände können aber vorliegen, wenn ein technischer Defekt bewirkt, dass der Luftverkehr oder die Betriebstätigkeit eines oder mehrerer Luftfahrtunternehmen ganz oder teilweise zum Erliegen kommen, beispielsweise, weil die technischen Einrichtungen eines Flughafens versagen oder ein versteckter Fabrikationsfehler die gesamte oder einen wesentlichen Teil der Flotte des Luftfahrtunternehmens betrifft (BGH, NJW-RR 2019, 1018, Rn. 11; NJW 2019, 1369 Rn. 13).
Rz. 14
b) Nach diesen Maßstäben ist das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei zu dem Ergebnis gelangt, dass im Streitfall außergewöhnliche Umstände vorlagen.
Rz. 15
aa) Zu Recht hat das Berufungsgericht angenommen, dass die Beklagte einen Sachverhalt vorgetragen hat, aus dem sich außergewöhnliche Umstände ergeben.
Rz. 16
(1) Nach den tatbestandlichen Feststellungen des Berufungsgerichts hat die Beklagte vorgetragen, dass sie am Tag des annullierten Flugs alle ihre Flugzeuge vom Typ Airbus A220 und damit rund die Hälfte ihrer Kurz- und Mittelstreckenmaschinen aufgrund eines am gleichen Tag aufgetretenen Triebwerkausfalls einer außerplanmäßigen Inspektion unterzogen hat.
Rz. 17
(2) Damit ist ein Vorkommnis vorgetragen, das sich auf einen wesentlichen Teil der Flotte bezieht und auch seiner sonstigen Natur nach nicht zur normalen Tätigkeit eines Luftfahrtunternehmens gehört.
Rz. 18
Entgegen der Auffassung des Amtsgerichts ist der Anteil der betroffenen Flugzeuge an der gesamten zur Verfügung stehenden Flotte auch dann als wesentlich anzusehen, wenn nicht nur Maschinen des Typs A220, sondern alle Kurz- und Mittelstreckenmaschinen in die Betrachtung einbezogen werden. Wenn rund die Hälfte aller vorhandenen Flugzeuge von einem Ereignis betroffen sind, führt dies typischerweise zu Störungen, die nicht mehr als unwesentlich angesehen werden können.
Rz. 19
(3) In diesem Zusammenhang ist unerheblich, ob die aufgetretenen Störungen durch einen dem Flugmaterial von Beginn an anhaftenden Fabrikationsfehler oder durch ein Software-Update verursacht worden sind. In beiden Konstellationen liegen technische Defekte vor, die den Flugbetrieb erheblich beeinträchtigen.
Rz. 20
bb) Entgegen der Auffassung der Revision ist unerheblich, ob die Beklagte aufgrund der Anordnung vom 26. September 2019 oder sonstiger Rechtsvorschriften verpflichtet war, sämtliche Flugzeuge des Typs Airbus A220 sofort zu untersuchen.
Rz. 21
Selbst wenn der Beklagten insoweit ein Ermessen zugestanden hätte, gab der am 15. Oktober 2019 aufgetretene Triebwerksschaden hinreichend Anlass, dieses Ermessen so auszuüben, dass eine Gefährdung anderer Fluggäste durch Defekte an Maschinen dieses Typs nach Möglichkeit ausgeschlossen war. Der Beklagten konnte nicht angesonnen werden, zur Vermeidung von Verspätungen und Annullierungen mit der Untersuchung einzelner Maschinen zuzuwarten und die hierdurch entstehenden Risiken für die Sicherheit der Fluggäste in Kauf zu nehmen.
Rz. 22
cc) Rechtsfehlerfrei hat das Berufungsgericht ferner angenommen, dass die Klägerin sich nicht darauf beschränken durfte, den detaillierten Vortrag der Beklagten zu bestreiten. Sie hätte vielmehr aufzeigen müssen, welchen einzelnen Elementen des Beklagtenvortrags sie entgegentreten will.
Rz. 23
2. Ebenfalls zutreffend hat das Berufungsgericht entschieden, dass die Beklagte die Verspätung nicht mit zumutbaren Maßnahmen verhindern konnte.
Rz. 24
a) Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union muss das Luftfahrtunternehmen alles ihm Mögliche und Zumutbare tun, um zu vermeiden, dass es durch außergewöhnliche Umstände genötigt ist, einen Flug zu annullieren, oder dass der Flug nur mit einer großen Verspätung durchgeführt werden kann, deren Folgen für den Fluggast einer Annullierung gleichkommen (EuGH, NJW 2009, 347 = RRa 2009, 35 Rn. 41 - Wallentin-Hermann/Alitalia; NJW 2017, 2665 = RRa 2017, 174 Rn. 34 - Pešková/Travel Service; BGH, Urteil vom 21. August 2012 - X ZR 138/11, BGHZ 194, 258 = NJW 2013, 374 Rn. 11; Urteil vom 16. September 2014 - X ZR 102/13, NJW-RR 2015, 111 = RRa 2015, 19 Rn. 9).
Rz. 25
Welche Maßnahmen einem Luftfahrtunternehmen in diesem Zusammenhang zumutbar sind, bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalls. Es kommt zum einen darauf an, welche Vorkehrungen ein Luftfahrtunternehmen nach guter fachlicher Praxis treffen muss, damit nicht bereits bei gewöhnlichem Ablauf des Luftverkehrs geringfügige Beeinträchtigungen das Luftfahrtunternehmen außerstande setzen, seinen vertraglichen Verpflichtungen nachzukommen und den Flugplan im Wesentlichen einzuhalten. Zum anderen muss das Luftfahrtunternehmen, wenn eine mehr als geringfügige Beeinträchtigung tatsächlich eintritt oder erkennbar einzutreten droht, alle ihm in dieser Situation zu Gebote stehenden Maßnahmen ergreifen, um nach Möglichkeit zu verhindern, dass hieraus eine Annullierung oder große Verspätung resultiert (EuGH, NJW 2009, 347 = RRa 2009, 35 Rn. 40, 42 - Wallentin-Hermann/Alitalia; EuGH, Urteil vom 12. Mai 2011 - C-294/10, NJW 2011, 2865 = RRa 2011, 125 Rn. 30 - Eglītis und Ratnieks/Air Baltic).
Rz. 26
b) Bei Anlegung dieses Maßstabs ist das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei zu dem Ergebnis gelangt, dass die Beklagte alle ihr zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat, um die Verspätung des von den Zedenten gebuchten Flugs zu vermeiden.
Rz. 27
Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts handelte es sich bei dem annullierten Flug um die an diesem Tag letzte Verbindung von Zürich nach Stuttgart. Eine Umbuchung auf einen Flug am gleichen Tag war jedenfalls aufgrund des Nachtflugverbots in Stuttgart nicht möglich.
Rz. 28
Vor diesem Hintergrund hat das Berufungsgericht zu Recht angenommen, dass weiterer Vortrag der Beklagten zu Möglichkeiten, die Verspätung zu vermeiden, nicht erforderlich ist.
Rz. 29
III. Für ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 AEUV besteht kein Anlass.
Rz. 30
Die Prüfung, ob ein technisches Problem auf ein Vorkommnis zurückzuführen ist, das nicht Teil der normalen Ausführung der Tätigkeit des betroffenen Luftfahrtunternehmens und von ihm tatsächlich nicht zu beherrschen ist, obliegt dem nationalen Richter (EuGH, NJW 2009, 347 = EuZW 2009, 111 = NZV 2009, 435 Rn. 27 - Wallentin-Hermann/Alitalia); sie ist grundsätzlich Aufgabe des Tatrichters (BGH, Urteil vom 21. August 2012 - X ZR 138/11, BGHZ 194, 258 = NJW 2013, 374 Rn. 17; Urteil vom 12. Juni 2014 - X ZR 121/13, NJW 2014, 3303 = NZV 2014, 513 Rn. 11).
Rz. 31
Der Streitfall wirft keine neuen Fragen zur Auslegung der Fluggastrechteverordnung auf. Seine Entscheidung erfordert lediglich eine Subsumtion der maßgeblichen Sachverhaltselemente des zu entscheidenden Einzelfalls unter die oben dargestellten, in der Rechtsprechung bereits geklärten Grundsätze.
Rz. 32
IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
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Fundstellen