Leitsatz (amtlich)

a) Eine Zuständigkeit nach Art. 7 Nr. 5 Brüssel-Ia-VO ergibt sich nicht schon daraus, dass eine Niederlassung ein vorgerichtliches Anspruchsschreiben des späteren Klägers entgegennimmt und zuständigkeitshalber an eine Organisationseinheit an einem anderen Ort weiterleitet.

b) Art. 7 Nr. 1 Buchst. b Brüssel-Ia-VO begründet einen einheitlichen Gerichtsstand für sämtliche Klagen aus dem Dienstleistungsvertrag. Bei einem Vertrag, der einen Hinflug zu einem bestimmten Endziel und einen Rückflug zu einem vom ersten Abflugort verschiedenen Ankunftsort vorsieht, ist deshalb an allen drei Orten der Gerichtsstand des Erfüllungsorts für alle nach dem Vertrag geschuldeten Leistungen begründet.

 

Normenkette

Brüssel-Ia-VO Art. 7 Nr. 1 Buchst. a, b Gedankenstrich 2, Nr. 5; FluggastrechteVO Art. 7 Abs. 1 S. 1

 

Verfahrensgang

LG Frankfurt am Main (Urteil vom 07.01.2019; Aktenzeichen 2-24 S 85/18)

AG Frankfurt am Main (Urteil vom 15.02.2018; Aktenzeichen 31 C 1993/17 (39))

 

Tenor

Auf die Rechtsmittel des Klägers werden das Urteil der 24. Zivilkammer des LG Frankfurt/M. vom 7.1.2019 und das Urteil das AG Frankfurt/M. vom 15.2.2018 aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Rechtsmittelinstanzen - an das AG zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Rz. 1

Der Lebensgefährte der Mutter des Klägers buchte über ein Reiseunternehmen bei der Beklagten für sich, seine Lebensgefährtin und den Kläger Flüge von Frankfurt über London nach Boston und von New York über London nach Wien.

Rz. 2

Der Flug von New York nach London fand statt. Der Weiterflug nach Wien konnte nicht wie vorgesehen starten. Der Kläger und seine Begleiter entschieden sich für eine Umbuchung auf einen Flug nach Frankfurt/M. am nächsten Tag.

Rz. 3

Der Kläger begehrt aus eigenem und abgetretenem Recht für alle drei Reisende Ausgleichszahlungen nach Art. 7 Abs. 1 Satz 1 FluggastrechteVO, Schadensersatz und Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten.

Rz. 4

Das AG hat die Klage wegen fehlender internationaler und örtlicher Zuständigkeit abgewiesen. Die dagegen eingelegte Berufung ist erfolglos geblieben. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Die Beklagte ist im Revisionsverfahren nicht durch einen beim BGH zugelassenen Anwalt vertreten.

 

Entscheidungsgründe

Rz. 5

Die zulässige Revision hat Erfolg und führt zur Zurückverweisung der Sache an das AG.

Rz. 6

I. Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:

Rz. 7

Die internationale Zuständigkeit des AG ergebe sich nicht aus der Verordnung Brüssel Ia.

Rz. 8

Die Voraussetzungen von Art. 7 Nr. 1 Buchst. a und b Gedankenstrich 2 Brüssel-Ia-VO seien nicht gegeben, da Hin- und Rückflug getrennt betrachtet werden müssten und Frankfurt/M. weder Abflug- noch Ankunftsort des Rückfluges gewesen sei.

Rz. 9

Die internationale Zuständigkeit folge auch nicht aus Art. 7 Nr. 5 Brüssel-Ia-VO, weil es an der Betriebsbezogenheit der Streitigkeit fehle. Die Niederlassung der Beklagten in Frankfurt/M. sei weder an der Anbahnung noch an der Durchführung des Beförderungsvertrages beteiligt gewesen. Eine Betriebsbezogenheit sei auch nicht dadurch entstanden, dass sich diese Niederlassung der Geltendmachung der Ansprüche durch den Prozessbevollmächtigten der Klägerin angenommen habe. Denn dessen Schreiben sei nicht von dieser, sondern von einer anderen Abteilung der Beklagten in Bremen beantwortet worden.

Rz. 10

II. Da die Beklagte trotz ordnungsgemäßer Ladung in der mündlichen Verhandlung nicht vertreten war, ist durch Versäumnisurteil zu entscheiden. Inhaltlich beruht das Urteil auf einer Sachprüfung (vgl. BGH, Urt. v. 4.4.1962 - V ZR 110/60, BGHZ 37, 79, 81).

Rz. 11

III. Das Urteil des Berufungsgerichts hält der rechtlichen Überprüfung in einem entscheidenden Punkt nicht stand.

Rz. 12

1. Zu Recht hat das Berufungsgericht entschieden, dass der Gerichtsstand der Niederlassung nicht gegeben ist.

Rz. 13

a) Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union setzt die Zuständigkeit nach Art. 7 Abs. 5 Brüssel-Ia-VO zweierlei voraus:

Rz. 14

Eine Zweigniederlassung im Sinne dieser Vorschrift erfordert einen Mittelpunkt geschäftlicher Tätigkeit, der auf Dauer als Außenstelle eines Stammhauses hervortritt. Dieser Mittelpunkt muss eine Geschäftsführung haben und sachlich so ausgestattet sein, dass er in der Weise Geschäfte mit Dritten betreiben kann, dass diese sich nicht unmittelbar an das Stammhaus zu wenden brauchen.

Rz. 15

Eine Streitigkeit aus dem Betrieb einer solchen Zweigniederlassung liegt vor, wenn sie Handlungen betrifft, die sich auf den Betrieb der Zweigniederlassung beziehen, oder Verpflichtungen, die diese im Namen des Stammhauses eingegangen ist, wenn die Verpflichtungen in dem Staat zu erfüllen sind, in dem sich die Zweigniederlassung befindet (EuGH, Urt. v. 19.7.2012 - C-154/11 NZA 2012, 935 Rz. 48 - Mahamdia; Urt. v. 5.7.2018 - C-27/17, NZKart 2018, 357 Rz. 59 - flyLAL-Lithuanian Airlines; Urt. v. 11.4.2019 - C-464/18, RRa 2019, 164 Rz. 33 - Ryanair DAC).

Rz. 16

b) Im Streitfall fehlt es jedenfalls an der zweiten Voraussetzung.

Rz. 17

Nach den insoweit nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts war die Zweigniederlassung der Beklagten in Frankfurt/M. an Anbahnung, Abschluss und Durchführung des Beförderungsvertrags nicht beteiligt.

Rz. 18

Eine relevante Beteiligung ergibt sich im Streitfall auch nicht aus einer Mitwirkung an der Korrespondenz mit dem Kläger im Zusammenhang mit der Geltendmachung der Klageansprüche.

Rz. 19

aa) Dabei kann dahingestellt bleiben, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Mitwirkung bei der Regulierung eines geltend gemachten Anspruchs zur Bejahung der Zuständigkeit nach Art. 7 Nr. 5 Brüssel-Ia-VO führen kann. Die bloße Entgegennahme und Weiterleitung eines Schreibens an eine zuständige Niederlassung an einem anderen Ort reichen hierfür jedenfalls nicht aus.

Rz. 20

Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hat die Zweigniederlassung der Beklagten in Frankfurt/M. ein Forderungsschreiben des späteren Prozessbevollmächtigten des Klägers lediglich entgegengenommen; beantwortet hat dieses Schreiben eine in Bremen ansässige Abteilung. Damit hat die Niederlassung in Frankfurt nicht in relevanter Weise an der Bearbeitung der Angelegenheit mitgewirkt.

Rz. 21

bb) Aus dem von der Revision aufgezeigten weiteren Vortrag des Klägers ergibt sich keine abweichende Beurteilung.

Rz. 22

Der Kläger hat geltend gemacht, die Beklagte habe ihn darauf verwiesen, seine Ansprüche in der Bundesrepublik Deutschland geltend zu machen. Ob eine solche Mitteilung zu einem Gerichtsstand am Sitz der für die Bearbeitung zuständigen Stelle führen kann, bedarf keiner abschließenden Entscheidung. Im Streitfall lässt sich dem Vorbringen des Klägers jedenfalls nicht entnehmen, dass die von der Beklagten benannte Stelle ihren Sitz in Frankfurt/M. hat.

Rz. 23

2. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist das AG indes unter dem Gesichtspunkt des Erfüllungsorts international zuständig.

Rz. 24

a) Nach Art. 7 Nr. 1 Buchst. a Brüssel-Ia-VO können Ansprüche aus einem Vertrag an dem Ort geltend gemacht werden, an dem die Verpflichtung erfüllt worden ist oder zu erfüllen wäre. Nach Buchst. b Gedankenstrich 2 dieser Regelung ist der Erfüllungsort einer Verpflichtung zur Erbringung von Dienstleistungen der Ort in einem Mitgliedstaat, an dem die Leistungen nach dem Vertrag erbracht worden sind oder hätten erbracht werden müssen.

Rz. 25

Ein Anspruch auf Ausgleichszahlung nach Art. 7 Abs. 1 FluggastrechteVO ist ein Anspruch aus einem Vertrag über eine Dienstleistung im Sinne dieser Vorschriften (EuGH, Urt. v. 7.3.2018 - C-274/16 u.a., RRa 2018, 173 Rz. 64 - flightright; BGH, Urt. v. 25.9.2018 - X ZR 76/16, NJW-RR 2018, 1448 Rz. 8).

Rz. 26

b) Im Streitfall ist Frankfurt/M. als Erfüllungsort für alle Ansprüche aus dem Vertrag anzusehen, weil an diesem Ort der Hinflug begonnen hat.

Rz. 27

aa) Art. 7 Nr. 1 Buchst. b Brüssel-Ia-VO begründet einen einheitlichen Gerichtsstand für sämtliche Klagen aus dem Dienstleistungsvertrag.

Rz. 28

Grundsätzlich soll nur ein Gericht für alle Klagen aus dem Vertrag zuständig sein (EuGH, Urt. v. 9.7.2009 - C-204/08 RRa 2009, 234 Rz. 34 - Rehder; BGH, Urt. v. 2.3.2006 - IX ZR 15/05 NJW 2006, 1806 Rz. 14 ff.).

Rz. 29

Maßgeblich ist grundsätzlich der Ort, an dem die engste Verknüpfung zwischen dem Vertrag und dem zuständigen Gericht besteht. Gibt es mehrere Orte, die eine gleich enge Verknüpfung aufweisen, so stehen dem Kläger alle diese Orte zur Auswahl (EuGH, Urt. v. 9.7.2009 - C-204/08 RRa 2009, 234 Rz. 35 - Rehder). Bei einem Vertrag über eine Luftbeförderung gehören zu diesen Orten jedenfalls der Abflug- und der Ankunftsort (EuGH, Urt. v. 9.7.2009 - C-204/08 RRa 2009, 234 Rz. 41 - Rehder). Dies gilt bei Flügen, die mehrere Teilstrecken umfassen, jedenfalls für den Abflugort der ersten und den Ankunftsort der letzten Teilstrecke, und zwar selbst dann, wenn die Beförderung auf den einzelnen Teilstrecken von unterschiedlichen Luftfahrtunternehmen durchgeführt wird (EuGH, Urt. v. 7.3.2018 - C-274/16 u.a., RRa 2018, 173 Rz. 71 ff. - flightright).

Rz. 30

bb) Im Streitfall hat sich die Beklagte nach den Feststellungen des Berufungsgerichts (Berufungsurteil S. 4 unten und Blatt 43 ff. der Akten) in dem Vertrag, auf den die Klage gestützt ist, sowohl zur Beförderung von Frankfurt nach Boston als auch zur Beförderung von New York nach Wien verpflichtet.

Rz. 31

Nach der aufgezeigten Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union sind deshalb alle drei Orte als Erfüllungsort anzusehen, und zwar für alle aus dem Vertrag abgeleiteten Ansprüche.

Rz. 32

Dem steht nicht entgegen, dass ein Flug im Sinne der Fluggastrechteverordnung grundsätzlich nur die Teilstrecken zwischen dem Ort des ersten Abflugs und dem Endziel umfasst (zu letzterem EuGH, Urt. v. 26.2.2013 - C-11/11, RRa 2013, 78 Rz. 34 f. - Folkerts; Urt. v. 7.9.2017 - C-559/16, RRa 2017, 229 Rz. 24 ff. - Bossen; Urt. v. 31.5.2018 - C-537/17, RRa 2018, 179 Rz. 18 - Wegener). Dieser Grundsatz hat zwar zur Folge, dass die Frage, ob ein Ausgleichsanspruch besteht, für Hin- und Rückflug gesondert zu beurteilen ist. Entsprechendes dürfte auch dann gelten, wenn der Abflugort der ersten und der Ankunftsort der letzten vom Vertrag umfassten Teilstrecke nicht identisch sind, aufgrund eines Richtungswechsels oder sonstiger Umstände aber dennoch erkennbar ist, dass der Ankunftsort der letzten Teilstrecke nicht das Endziel im Sinne der Fluggastrechteverordnung ist. Im Zusammenhang mit Art. 7 Nr. 1 Buchst. b Brüssel-Ia-VO kommt dem aber keine Bedeutung zu, weil diese Vorschrift einen einheitlichen Erfüllungsort für alle vertraglichen Pflichten vorsieht.

Rz. 33

IV. Nach allem ist die angefochtene Entscheidung aufzuheben.

Rz. 34

Der Senat verweist die Sache gem. § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 ZPO an das AG zurück, weil dieses bislang nur über die Zulässigkeit der Klage entschieden hat und es angemessen erscheint, dass auch die Begründetheit zunächst in erster Instanz beurteilt wird. Den gem. § 538 Abs. 2 Satz 1 ZPO erforderlichen Verweisungsantrag hat der Kläger ausweislich des angefochtenen Urteils gestellt.

Rechtsmittelbelehrung:

Gegen dieses Versäumnisurteil steht der säumigen Partei der Einspruch zu. Dieser ist beim BGH in Karlsruhe von einem an diesem Gericht zugelassenen Rechtsanwalt binnen einer Notfrist von zwei Wochen ab der Zustellung des Versäumnisurteils durch Einreichung einer Einspruchsschrift einzulegen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 13951233

NJW 2020, 9

EWiR 2020, 767

NZG 2020, 5

DZWir 2020, 490

JZ 2020, 572

MDR 2020, 1048

RIW 2020, 701

RRa 2020, 223

TranspR 2021, 23

VersR 2021, 1455

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge