Verfahrensgang

OLG Stuttgart (Entscheidung vom 22.02.2022; Aktenzeichen 16a U 67/19)

LG Rottweil (Entscheidung vom 14.03.2019; Aktenzeichen 2 O 169/18)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 16a. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 22. Februar 2022 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die Berufungsanträge zu 1 und zu 3 zurückgewiesen worden sind.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Rz. 1

Der Kläger nimmt die Beklagte wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz aus unerlaubter Handlung in Anspruch.

Rz. 2

Der Kläger kaufte am 19. Februar 2015 von der Beklagten einen von ihr hergestellten gebrauchten Mercedes-Benz E 220 CDI Coupé, der mit einem Motor der Baureihe OM 651 (Schadstoffklasse Euro 5) ausgerüstet ist. In dem Fahrzeug wird die Abgasrückführung temperaturabhängig gesteuert und unter Einsatz eines sogenannten "Thermofensters" bei Unterschreiten einer Schwellentemperatur reduziert.

Rz. 3

Der Kläger hat, gestützt auf seine deliktische Schädigung durch das Inverkehrbringen des Fahrzeugs, zuletzt die Erstattung des Kaufpreises nebst Prozesszinsen Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs und Zahlung einer Nutzungsentschädigung (Berufungsantrag zu 1), die Feststellung des Annahmeverzugs der Beklagten (Berufungsantrag zu 2) sowie die Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten (Berufungsantrag zu 3) begehrt. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers ist erfolglos geblieben. Mit der vom Senat insoweit zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine Berufungsanträge zu 1 und zu 3 weiter.

 

Entscheidungsgründe

Rz. 4

Die Revision des Klägers hat Erfolg.

I.

Rz. 5

Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung - soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung - im Wesentlichen wie folgt begründet:

Rz. 6

Der Kläger habe keinen deliktischen Schadensersatzanspruch auf Rückabwicklung des Kaufvertrags. Ein solcher Anspruch folge nicht aus §§ 826, 31 BGB. Aus der Implementierung des Thermofensters ergebe sich kein sittenwidriges Verhalten der Beklagten. Dabei könne dahinstehen, ob in tatsächlicher Hinsicht der Vortrag des Klägers zu der Bedatung des Thermofensters zutreffe und ob es sich in rechtlicher Hinsicht um eine unzulässige Abschalteinrichtung handele. Jedenfalls funktioniere die Abgasrückführung auf dem Prüfstand wie auf der Straße grundsätzlich in gleicher Weise. Die Beklagte habe das Kraftfahrt-Bundesamt auch nicht über das Fehlen einer gültigen Übereinstimmungsbescheinigung für das Fahrzeug getäuscht. Sie habe im Typgenehmigungsverfahren die temperaturabhängige Steuerung der Abgasrückführung offengelegt. Die Tatbestandswirkung der EG-Typgenehmigung umfasse die Genehmigung des Thermofensters als zulässig. Eine Haftung der Beklagten aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV scheide bereits aus Rechtsgründen aus, weil der Schutz des Interesses, nicht zur Eingehung einer ungewollten Verbindlichkeit veranlasst zu werden, nicht im Aufgabenbereich der Bestimmungen der EG-FGV liege.

II.

Rz. 7

Diese Erwägungen halten der Überprüfung im Revisionsverfahren nicht in allen Punkten stand.

Rz. 8

1. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, die Beklagte hafte nicht aus §§ 826, 31 BGB, lässt einen entscheidungserheblichen Rechtsfehler nicht erkennen. Entgegen seiner Annahme kann einem Schadensersatzanspruch zwar nicht die Tatbestandswirkung der EG-Typgenehmigung entgegengehalten werden (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 10 ff., zur Veröffentlichung bestimmt in BGHZ; Urteil vom 20. Juli 2023 - III ZR 303/20, juris Rn. 14). Das Berufungsgericht hat jedoch - von der Revision unbeanstandet (vgl. § 559 Abs. 2 ZPO) - festgestellt, die Funktionsweise des Thermofensters sei weder auf den Prüfstand ausgerichtet, noch habe die Beklagte sie der Typgenehmigungsbehörde arglistig verschwiegen. Dann aber hat es zu Recht keine Umstände gesehen, die für ein besonders verwerfliches Verhalten der Beklagten sprechen könnten (vgl. BGH, Urteil vom 20. Juli 2023, aaO, Rn. 11 bis 13).

Rz. 9

2. Die Revision wendet sich jedoch mit Erfolg dagegen, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV aus Rechtsgründen abgelehnt hat. Wie der Senat nach Erlass des Berufungsurteils entschieden hat, sind die Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, die das Interesse des Fahrzeugkäufers gegenüber dem Fahrzeughersteller wahren, nicht durch den Kaufvertragsabschluss eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden, weil das Fahrzeug entgegen der Übereinstimmungsbescheinigung eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 aufweist (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 29 bis 32).

Rz. 10

Das Berufungsgericht hat daher zwar zu Recht einen Anspruch des Klägers auf die Gewährung sogenannten "großen" Schadensersatzes verneint (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 22 bis 27). Es hat jedoch nicht berücksichtigt, dass dem Kläger nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV ein Anspruch auf Ersatz eines erlittenen Differenzschadens zustehen kann (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023, aaO, Rn. 28 bis 32; ebenso BGH, Urteile vom 20. Juli 2023 - III ZR 267/20, WM 2023, 1839 Rn. 21 ff.; - III ZR 303/20, juris Rn. 16 f.). Demzufolge hat das Berufungsgericht - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - weder dem Kläger Gelegenheit zur Darlegung eines solchen Schadens gegeben, noch hat es Feststellungen zu einer deliktischen Haftung der Beklagten wegen des zumindest fahrlässigen Einbaus einer unzulässigen Abschalteinrichtung getroffen.

III.

Rz. 11

Das angefochtene Urteil ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang aufzuheben, § 562 Abs. 1 ZPO, weil es sich insoweit auch nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt, § 561 ZPO. Einem Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV kann ebenfalls nicht entgegengehalten werden, die Übereinstimmungsbescheinigung entfalte eine Tatbestandswirkung dahin, das veräußerte Fahrzeug sei frei von unzulässigen Abschalteinrichtungen (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 15). Der Senat kann im Umfang der Aufhebung des Berufungsurteils nicht in der Sache selbst entscheiden, weil diese nicht zur Endentscheidung reif ist, § 563 Abs. 3 ZPO. Sie ist daher insoweit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO.

Rz. 12

Im wiedereröffneten Berufungsverfahren wird der Kläger Gelegenheit haben, einen Differenzschaden darzulegen. Das Berufungsgericht wird sodann nach den näheren Maßgaben des Urteils des Senats vom 26. Juni 2023 (VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259) die erforderlichen Feststellungen zu der - bislang offen gelassenen - Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung sowie gegebenenfalls zu den weiteren Voraussetzungen und zum Umfang einer Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV zu treffen haben. Dabei wird es zu beachten haben, dass Ausgangspunkt für die Bemessung des Differenzschadens der gezahlte Kaufpreis ist (BGH, Urteil vom 26. Juni 2023, aaO, Rn. 73). Etwa gewährte Rabatte mindern entgegen den Einwänden der Revisionserwiderung in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat den Differenzschaden nicht.

Menges     

Götz     

Rensen

Wille     

Vogt-Beheim     

 

Fundstellen

Dokument-Index HI16155405

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