Verfahrensgang
OLG Koblenz (Entscheidung vom 28.06.2022; Aktenzeichen 1 U 334/22) |
LG Koblenz (Entscheidung vom 27.01.2022; Aktenzeichen 1 O 59/21) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird der Beschluss des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Koblenz vom 28. Juni 2022 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als der Berufungsantrag zu 1 in Höhe von 32.933,29 € abzüglich einer im Termin zu bestimmenden Nutzungsentschädigung nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 20. Februar 2021 Zug um Zug gegen Übergabe und Rückübereignung des Fahrzeugs sowie die Berufungsanträge zu 2, zu 3 und zu 4 zurückgewiesen worden sind.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Rz. 1
Der Kläger nimmt die Beklagte wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz in Anspruch.
Rz. 2
Der Kläger kaufte am 1. Dezember 2016 von einem Händler einen von der Beklagten hergestellten gebrauchten Mercedes-Benz ML 250 BlueTec 4Matic, der mit einem Dieselmotor der Baureihe OM 651 (Schadstoffklasse Euro 6) ausgerüstet ist. In dem Fahrzeug wird die Abgasrückführung unter Einsatz eines sogenannten "Thermofensters" abhängig von der Außentemperatur gesteuert. Das Fahrzeug verfügt über eine Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung (KSR) sowie über ein SCR-Katalysatorsystem, bei dem die Abgasnachbehandlung mit dem Harnstoffgemisch "AdBlue" in zwei verschiedenen Betriebsmodi (Füllstands- oder Onlinemodus) - nach Angabe des Klägers unter Verwendung der Funktionen "Bit 13", "Bit 14", "Bit 15" und "Slipguard" - erfolgt.
Rz. 3
Der Kläger hat zuletzt die Erstattung des Kaufpreises abzüglich einer Nutzungsentschädigung nebst Verzugszinsen Zug um Zug gegen Übergabe und Rückübereignung des Fahrzeugs (Berufungsantrag zu 1), für den Fall des Erfolgs des Berufungsantrags zu 1 die Feststellung des Annahmeverzugs der Beklagten (Berufungsantrag zu 2), hilfsweise die Zahlung eines Betrags in Höhe von 25 % des Kaufpreises nebst Prozesszinsen (Berufungsantrag zu 3) sowie die Freistellung von außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten (Berufungsantrag zu 4) verlangt. Das Berufungsgericht hat die Berufung des Klägers nach Erteilung eines Hinweises durch einstimmigen Beschluss zurückgewiesen. Mit seiner vom Senat insoweit zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine Berufungsanträge in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang weiter.
Entscheidungsgründe
Rz. 4
Die Revision des Klägers, die sich zulässigerweise auch gegen den in der Berufungsinstanz erstmals gestellten und vom Berufungsgericht - wenngleich unter Verstoß gegen die im Verfahren nach § 522 Abs. 2 ZPO entsprechend anwendbare Bestimmung des § 524 Abs. 4 ZPO (vgl. BGH, Urteil vom 18. Dezember 2023 - VIa ZR 921/22, zVb, Rn. 6 f. mwN) - beschiedenen Berufungshilfsantrag zu 3 richtet, hat Erfolg.
I.
Rz. 5
Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung - soweit für das Revisionsverfahren von Interesse - im Wesentlichen wie folgt begründet:
Rz. 6
Die Berufungsanträge zu 1 bis 4 seien unbegründet, weil der Kläger dem Grunde nach keinen Schadensersatzanspruch gegen die Beklagte habe. Ein Anspruch aus §§ 826, 31 BGB sei nicht gegeben, weil auf der Grundlage des Vorbringens des Klägers von einem sittenwidrigen Verhalten der Beklagten nicht ausgegangen werden könne. Auch wenn zugunsten des Klägers in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht unterstellt werde, dass es sich bei dem Thermofenster um eine unzulässige Abschalteinrichtung handele, arbeite dieses auf dem Prüfstand und im normalen Fahrbetrieb im Grundsatz in gleicher Weise. Hinsichtlich der KSR habe der Kläger schon nicht in beachtlicher Weise dargelegt, dass es sich um eine unzulässige Abschalteinrichtung handele; im Übrigen habe er keine Anhaltspunkte für ihre Prüfstandsbezogenheit aufgezeigt. Bezüglich der von ihm ebenfalls angeführten Funktionen "Bit 13", "Bit 14", "Bit 15" und "Slipguard" sei nicht ersichtlich, dass sie ausschließlich auf dem Prüfstand wirksam seien. Der Kläger habe auch keine weiteren Umstände dargelegt, die das Verhalten der für die Beklagte handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen ließen. Eine Haftung der Beklagten ergebe sich auch nicht aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV, weil die Vorschriften der EG-FGV keine Schutzgesetze seien.
II.
Rz. 7
Diese Erwägungen halten der Überprüfung im Revisionsverfahren nicht in allen Punkten stand.
Rz. 8
1. Die Beurteilung des Berufungsgerichts ist verfahrensfehlerhaft, soweit es - was im Revisionsverfahren von Amts wegen zu beachten ist (vgl. BGH, Urteil vom 23. September 2015 - I ZR 105/14, BGHZ 207, 71 Rn. 63; Urteil vom 31. Oktober 2022 - VIa ZR 189/22, juris Rn. 7) - unter Verstoß gegen § 308 Abs. 1 ZPO über den hilfsweise gestellten Berufungsantrag zu 2 entschieden hat. Der Kläger wollte den Annahmeverzug der Beklagten für den Fall festgestellt wissen, dass das Berufungsgericht dem Berufungsantrag zu 1 stattgeben werde (zum sogenannten "unechten" Hilfsantrag vgl. BGH, Urteil vom 21. Dezember 2000 - V ZR 254/99, NJW 2001, 1285, 1286). Diese Bedingung ist jedoch - was im Revisionsverfahren ebenfalls von Amts wegen zu beachten ist (vgl. BGH, Urteil vom 23. September 2015, aaO; Urteil vom 31. Oktober 2022, aaO) - nicht eingetreten.
Rz. 9
2. In der Sache begegnet es keinen revisionsrechtlichen Bedenken, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten aus §§ 826, 31 BGB verneint hat, weil es auf der Grundlage des Vortrags des Klägers ein sittenwidriges Verhalten der Beklagten nicht festgestellt hat. Die von der Revision erhobene Verfahrensrüge, das Berufungsgericht habe Vorbringen des Klägers zur Prüfstandsbezogenheit von ihm angeführter unzulässiger Abschalteinrichtungen unberücksichtigt gelassen, hat der Senat geprüft und nicht für durchgreifend erachtet. Von einer Begründung wird gemäß § 564 Satz 1 ZPO abgesehen.
Rz. 10
3. Die Revision wendet sich jedoch mit Erfolg dagegen, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV aus Rechtsgründen abgelehnt hat. Wie der Senat nach Erlass des angefochtenen Beschlusses entschieden hat, sind die Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, die das Interesse des Fahrzeugkäufers gegenüber dem Fahrzeughersteller wahren, nicht durch den Kaufvertragsabschluss eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese (sogenannter "Differenzschaden") zu erleiden, weil das Fahrzeug entgegen der Übereinstimmungsbescheinigung eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 aufweist (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 29 bis 32, zur Veröffentlichung bestimmt in BGHZ).
Rz. 11
Das Berufungsgericht hat daher zwar zu Recht einen Anspruch des Klägers auf die Gewährung des mit dem Berufungsantrag zu 1 begehrten sogenannten "großen" Schadensersatzes oder des mit dem Berufungshilfsantrag zu 3 verlangten sogenannten "kleinen" Schadensersatzes (vgl. dazu BGH, Urteil vom 6. Juli 2021 - VI ZR 40/20, BGHZ 230, 224 Rn. 12 ff.) verneint (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 22 bis 27 sowie Rn. 73 bis 79). Es hat jedoch nicht berücksichtigt, dass dem Kläger nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV ein Anspruch auf Ersatz eines erlittenen Differenzschadens zustehen kann (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023, aaO, Rn. 28 bis 32; ebenso BGH, Urteile vom 20. Juli 2023 - III ZR 267/20, WM 2023, 1839 Rn. 21 ff.; - III ZR 303/20, juris Rn. 16 f.; Urteil vom 12. Oktober 2023 - VII ZR 412/21, juris Rn. 20). Demzufolge hat das Berufungsgericht - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - weder dem Kläger Gelegenheit zur Darlegung eines solchen Schadens gegeben, noch hat es Feststellungen zu einer deliktischen Haftung der Beklagten wegen des zumindest fahrlässigen Einbaus einer unzulässigen Abschalteinrichtung getroffen.
III.
Rz. 12
Der angefochtene Beschluss ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang aufzuheben, § 562 Abs. 1 ZPO, weil er sich insoweit nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt, § 561 ZPO. Der Senat kann im Umfang der Aufhebung nicht in der Sache selbst entscheiden, weil diese nicht zur Endentscheidung reif ist, § 563 Abs. 3 ZPO. Sie ist daher insoweit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
Rz. 13
Im wiedereröffneten Berufungsverfahren wird der Kläger Gelegenheit haben, einen Differenzschaden darzulegen. Das Berufungsgericht wird sodann nach den näheren Maßgaben des Urteils des Senats vom 26. Juni 2023 (VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259) die erforderlichen Feststellungen zu der - bislang lediglich unterstellten - Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung sowie gegebenenfalls zu den weiteren Voraussetzungen und zum Umfang einer Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV zu treffen haben. Dabei wird es zu beachten haben, dass ein ersatzfähiger Differenzschaden nicht mit einem Minderwert des Fahrzeugs gleichzusetzen ist, wie ihn der Kläger mit dem Berufungsantrag zu 3 im Wege des kleinen Schadensersatzes geltend gemacht hat (vgl. BGH, Urteil vom 6. Juli 2021 - VI ZR 40/20, BGHZ 230, 224 Rn. 20 und 23 f.; Urteil vom 26. Juni 2023, aaO, Rn. 73 bis 79).
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Fundstellen
Dokument-Index HI16183954 |