Leitsatz (amtlich)
Gelingt es dem Geschädigten entgegen der Einschätzung des von ihm beauftragten Sachverständigen zur Überzeugung des Tatrichters, die erforderliche Reparatur seines Fahrzeugs unter Berücksichtigung eines merkantilen Minderwerts innerhalb der 130 %-Grenze fachgerecht und in einem Umfang durchzuführen, wie ihn der Sachverständige zur Grundlage seiner Kostenschätzung gemacht hat, und stellt der Geschädigte damit den Zustand seines Fahrzeugs wie vor dem Unfall wieder her, um es nach der Reparatur weiter zu nutzen, kann er Ersatz des entstandenen Reparaturaufwands verlangen.
Normenkette
BGB § 249 H
Verfahrensgang
LG Frankfurt (Oder) (Urteil vom 18.12.2019; Aktenzeichen 16 S 70/19) |
AG Fürstenwalde (Entscheidung vom 02.08.2018; Aktenzeichen 12 C 262/15) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil der 6. Zivilkammer des LG Frankfurt/O. vom 18.12.2019 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Rz. 1
Der Kläger begehrt restlichen Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall vom 3.2.2015, bei dem sein Fahrzeug durch ein von der Beklagten gehaltenes Fahrzeug beschädigt wurde. Die volle Haftung der Beklagten dem Grunde nach steht zwischen den Parteien außer Streit. Der vom Kläger nach dem Unfall mit der Begutachtung des Kraftfahrzeugschadens beauftragte Sachverständige ermittelte voraussichtliche Reparaturkosten i.H.v. 7.148,84 EUR brutto, einen Wiederbeschaffungswert des Fahrzeugs von 4.500 EUR brutto und einen Restwert von 1.210 EUR brutto. Die Beklagte regulierte den Schaden auf der Grundlage des Wiederbeschaffungsaufwands. Sie brachte von dem vom Sachverständigen geschätzten Wiederbeschaffungswert einen mit Hilfe einer Restwert-Online-Börse ermittelten Wert i.H.v. 1.420 EUR in Abzug und zahlte an den Kläger 3.080 EUR. Der Kläger ließ sein Fahrzeug bei der Dienstleistungsgesellschaft A. zum Preis von 5.695,49 EUR brutto reparieren und nutzte es weiter.
Rz. 2
Mit der Klage macht der Kläger die Differenz i.H.v. 2.615,49 EUR zwischen den angefallenen Reparaturkosten und der Zahlung der Beklagten geltend. Während des erstinstanzlichen Verfahrens - im September 2017 - hat der Kläger sein Fahrzeug veräußert. Das AG hat der Klage stattgegeben. Das LG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der vom LG zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter.
Entscheidungsgründe
I.
Rz. 3
Nach Auffassung des Berufungsgerichts steht dem Kläger ein Anspruch auf Zahlung der geltend gemachten Reparaturkosten aus § 7 StVG, § 823 Abs. 1 BGB zu. Zwar habe der vom Kläger nach dem Unfall beauftragte Sachverständige die voraussichtlichen Kosten der Reparatur auf über 130 % des Wiederbeschaffungswerts geschätzt. Dieses Gutachten habe aber keine absolute Bedeutung für die Frage, welche Reparaturkosten tatsächlich erstattungsfähig seien. Gelinge es dem Geschädigten, unter Verwendung von Gebrauchtteilen eine fachgerechte und den Vorgaben des Gutachtens entsprechende Reparatur durchzuführen, deren Kosten unter Berücksichtigung eines etwaigen merkantilen Minderwerts den Wiederbeschaffungswert um nicht mehr als 30 % überstiegen, könne ihm eine Abrechnung der konkret angefallenen Reparaturkosten nicht verwehrt werden. So verhalte es sich im Streitfall. Dem Kläger sei der Beweis gelungen, dass die Reparatur sach- und fachgerecht und in einem den Vorgaben des vorgerichtlichen Sachverständigen entsprechenden Umfang durchgeführt worden sei. Die Kammer sei gem. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO an die Beweiswürdigung des AG gebunden, weil keine konkreten Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der Beweiswürdigung vorgetragen worden seien. Der gerichtliche Sachverständige habe die Behauptung des Klägers, die Reparatur entspreche dem im außergerichtlichen Gutachten vorgegebenen Reparaturweg, bestätigt. Aus der Auswertung der vor, während und nach der Reparatur gefertigten Lichtbilder habe der Sachverständige darüber hinaus auch eine sach- und fachgerechte Reparatur bejaht. Dies habe ihm als Gutachtengrundlage ausgereicht, auch wenn er in der Zusammenfassung lediglich angegeben habe, dass keine Anzeichen vorhanden seien, die gegen eine sach- und fachgerechte Reparatur sprechen würden. Die Lichtbilder dokumentierten jedoch den Reparaturverlauf hinreichend deutlich. Auch der außergerichtliche Sachverständige habe in seinem Schreiben vom 20.3.2015 bestätigt, dass Restunfallspuren oder Hinweise mit Querverweis auf eine nicht fachgerechte Reparatur nicht vorgefunden worden seien. Unter Berücksichtigung des herabgesenkten Beweismaßes des § 287 ZPO seien damit trotz der fehlenden Möglichkeit der Besichtigung des Fahrzeugs die festgestellten Anknüpfungstatsachen ausreichend zur Beantwortung der Beweisfragen gewesen. Das AG habe auch zutreffend eine Anwendung der Grundsätze zur Beweisvereitelung abgelehnt. Für den Verkauf des Fahrzeugs über zweieinhalb Jahre nach dem Verkehrsunfallgeschehen habe der Kläger einen hinreichenden Grund (Getriebeschaden) angegeben. Unstreitig habe der Kläger darüber hinaus vorgetragen, dass er den gerichtlichen Sachverständigen im August 2017 angerufen und ihm mitgeteilt habe, dass das Fahrzeug wegen eines Getriebeschadens nicht mehr fahrtüchtig sei. Er habe ihm daraufhin auf dessen Anweisung Lichtbilder zum Ablauf der Reparatur übersandt.
II.
Rz. 4
Diese Erwägungen halten der revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Mit der Begründung des Berufungsgerichts kann ein Anspruch des Klägers auf Ersatz weiterer, den Wiederbeschaffungsaufwand überschreitender Reparaturkosten nicht bejaht werden.
Rz. 5
1. Der geltend gemachte Anspruch scheitert allerdings nicht bereits daran, dass der vom Kläger vorgerichtlich mit der Begutachtung des Kraftfahrzeugschadens beauftragte Sachverständige die voraussichtlichen Reparaturkosten auf einen den Wiederbeschaffungswert um 59 % übersteigenden Betrag geschätzt hat. Wie das Berufungsgericht zutreffend angenommen hat, führt dieser Umstand für sich genommen nicht dazu, dass die Instandsetzung des beschädigten Fahrzeugs als wirtschaftlich unvernünftig zu beurteilen wäre.
Rz. 6
a) Nach der gefestigten Rechtsprechung des Senats steht dem Geschädigten in Abweichung vom Wirtschaftlichkeitsgebot ausnahmsweise ein Anspruch auf Ersatz des den Wiederbeschaffungswert des beschädigten Fahrzeugs um bis zu 30 % übersteigenden Reparaturaufwands (Reparaturkosten zzgl. einer etwaigen Entschädigung für den merkantilen Minderwert) zu, wenn er ein besonderes Integritätsinteresse zum Ausdruck bringt. Dies setzt voraus, dass er den Zustand des ihm vertrauten Fahrzeugs wie vor dem Unfall wiederherstellt, um es nach der Reparatur weiter zu nutzen (vgl. BGH, Urt. v. 9.6.2009 - VI ZR 110/08, BGHZ 181, 242 Rz. 15; v. 10.7.2007 - VI ZR 258/06 VersR 2007, 1244 Rz. 8; Senat, Beschl. v. 18.11.2008 - VI ZB 22/08, BGHZ 178, 338, Rz. 12 ff. m.w.N.). Von einer Wiederherstellung in diesem Sinne kann dabei nur dann ausgegangen werden, wenn die Reparatur fachgerecht und in einem Umfang durchgeführt wird, wie ihn der Sachverständige zur Grundlage seiner Kostenschätzung gemacht hat (vgl. BGH, Urt. v. 15.2.2005 - VI ZR 70/04, BGHZ 162, 161, juris Rz. 18; v. 10.7.2007 - VI ZR 258/06 VersR 2007, 1244 Rz. 8; v. 2.6.2015 - VI ZR 387/14 VersR 2015, 1267 Rz. 6 m.w.N.).
Rz. 7
b) Die Instandsetzung eines beschädigten Fahrzeugs ist demgegenüber wirtschaftlich unvernünftig, wenn der Reparaturaufwand (Reparaturkosten zzgl. einer etwaigen Entschädigung für den merkantilen Minderwert) den Wiederbeschaffungswert um mehr als 30 % übersteigt. In einem solchen Fall, in dem das Kraftfahrzeug nicht mehr reparaturwürdig ist, kann der Geschädigte vom Schädiger grundsätzlich nur den Ersatz des Wiederbeschaffungsaufwands, also den Wiederbeschaffungswert abzgl. des Restwerts, verlangen. Etwas anderes gilt nur dann, wenn der Geschädigte auf der Grundlage eines entsprechenden Gutachtens den Weg der Schadensbehebung mit dem vermeintlich geringeren Aufwand wählt, die Reparatur aber teurer wird und ihm nicht ausnahmsweise ein (Auswahl-)Verschulden zur Last fällt; denn das Werkstatt- und das Prognoserisiko geht zu Lasten des Schädigers (vgl. BGH, Urt. v. 15.10.1991 - VI ZR 314/90, BGHZ 115, 364, juris Rz. 15 m.w.N.). Lässt der Geschädigte sein Fahrzeug dagegen reparieren, obwohl der voraussichtliche Instandsetzungsaufwand nach der Schadensschätzung des vom ihm beauftragten Sachverständigen - wie hier - mehr als 30 % über dem Wiederbeschaffungswert des unfallbeschädigten Kraftfahrzeugs liegt und erweist sich die Schätzung des Sachverständigen als zutreffend, ist der Ersatzanspruch der Höhe nach auf den Wiederbeschaffungsaufwand beschränkt (vgl. BGH, Urt. v. 12.10.2021 - VI ZR 513/19, zVb; v. 2.6.2015 - VI ZR 387/14 VersR 2015, 1267 Rz. 7 m.w.N.). Die Reparaturkosten können dann insb. nicht in einen vom Schädiger auszugleichenden wirtschaftlich vernünftigen Teil (bis zu 130 % des Wiederbeschaffungswerts) und einen vom Geschädigten selbst zu tragenden wirtschaftlich unvernünftigen Teil aufgespalten werden (vgl. BGH, Urt. v. 2.6.2015 - VI ZR 387/14 VersR 2015, 1267 Rz. 7 m.w.N.).
Rz. 8
c) Wie das Berufungsgericht zu Recht angenommen hat, bestimmen die Angaben des vom Geschädigten beauftragten Sachverständigen zur Höhe der voraussichtlich anfallenden Reparaturkosten nicht verbindlich den Geldbetrag, den der Geschädigte als Schadensersatz gem. § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB beanspruchen kann (vgl. BGH, Urt. v. 3.12.2013 - VI ZR 24/13 VersR 2014, 214 Rz. 10; v. 2.6.2015 - VI ZR 387/14 VersR 2015, 1267 Rz. 8 m.w.N.). Der Geschädigte ist insb. nicht gehindert, den Angaben des Sachverständigen konkret entgegenzutreten und geltend zu machen, der von diesem ermittelte Betrag gebe den zur Herstellung objektiv erforderlichen Betrag nicht zutreffend wieder (vgl. BGH, Urt. v. 3.12.2013 - VI ZR 24/13 VersR 2014, 214 Rz. 10; v. 14.5.2013 - VI ZR 320/12 VersR 2013, 876 Rz. 11; zur objektiven Erforderlichkeit vgl. Senat, Urt. v. 8.2.2011 - VI ZR 79/10 VersR 2011, 547 Rz. 9; v. 14.5.2019 - VI ZR 393/18, BGHZ 222, 44, Rz. 25). Diese Frage ist dann im Rechtstreit - im Falle des Bestreitens durch den Gegner auf entsprechenden Beweisantrag des Geschädigten durch Einholung eines Sachverständigengutachtens - einer Klärung zuzuführen.
Rz. 9
Dementsprechend hat der Senat entschieden, dass dem Geschädigten in den Fällen, in denen die vom Sachverständigen geschätzten Reparaturkosten zwar über der 130 %-Grenze liegen, es dem Geschädigten aber - auch unter Verwendung von Gebrauchtteilen - gelungen ist, eine nach Auffassung des sachverständig beratenen Gerichts fachgerechte und den Vorgaben des Gutachtens entsprechende Reparatur durchzuführen, deren Kosten unter Berücksichtigung eines merkantilen Minderwerts den Wiederbeschaffungswert nicht übersteigen, ein Anspruch auf Ersatz der konkret angefallenen Reparaturkosten zusteht (BGH, Urt. v. 14.12.2010 - VI ZR 231/09 VersR 2011, 282 Ls., Rz. 13).
Rz. 10
Der Senat hat bisher offengelassen, ob ein entsprechender Ersatzanspruch auch dann besteht, wenn abweichend von der Schätzung des vorgerichtlichen Sachverständigen für die vollständige und fachgerechte Reparatur des Fahrzeugs Kosten entstehen, die sich unter Berücksichtigung eines merkantilen Minderwerts auf 101 % bis 130 % des Wiederbeschaffungswerts belaufen (BGH, Urt. v. 2.6.2015 - VI ZR 387/14 VersR 2015, 1267 Rz. 9). Diese Frage ist nunmehr zu bejahen. Gelingt es dem Geschädigten entgegen der Einschätzung des von ihm beauftragten Sachverständigen zur Überzeugung des Tatrichters, die erforderliche Reparatur - auch unter Verwendung von Gebrauchtteilen - innerhalb der 130 %-Grenze fachgerecht und in einem Umfang durchzuführen, wie ihn der Sachverständige zur Grundlage seiner Kostenschätzung gemacht hat, und stellt er damit den Zustand seines Fahrzeugs wie vor dem Unfall wieder her, um es nach der Reparatur weiter zu nutzen, kann ihm die "Integritätsspitze" von 30 % nicht versagt werden. In diesem Fall wird der gem. § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB ersatzfähige Betrag durch den tatsächlich entstandenen Reparaturaufwand und nicht die hiervon abweichende Einschätzung des vorgerichtlichen Sachverständigen abgebildet. Der Geschädigte kann dann Ersatz der tatsächlich angefallenen Reparaturkosten und des merkantilen Minderwerts verlangen.
Rz. 11
2. Die Revision wendet sich aber mit Erfolg gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts, der Kläger habe die Reparatur sach- und fachgerecht und in einem den Vorgaben des vorgerichtlichen Sachverständigen entsprechenden Umfang durchgeführt.
Rz. 12
a) Entgegen der Auffassung der Revision ist dem Kläger der Beweis seiner diesbezüglichen Behauptungen allerdings nicht deshalb abgeschnitten, weil ihm wegen der Veräußerung seines Fahrzeugs im September 2017 eine Beweisvereitelung vorzuwerfen wäre. Von einer Beweisvereitelung kann nur gesprochen werden, wenn die nicht beweisbelastete Partei dem beweisbelasteten Gegner die Beweisführung schuldhaft unmöglich macht oder erschwert, indem sie vorhandene Beweismittel vernichtet, vorenthält oder ihre Benutzung erschwert (BGH, Urt. v. 25.6.1997 - VIII ZR 300/96 NJW 1997, 3311, juris Rz. 18; v. 11.6.2015 - I ZR 226/13, WRP 2016, 35 Rz. 44 - Deltamethrin I m.w.N.). Durch die Veräußerung seines Fahrzeugs hat der Kläger jedoch nicht die Beweisführung der Beklagten, sondern allenfalls die eigene erschwert. Denn er ist für die vollständige und fachgerechte Reparatur seines Fahrzeugs entsprechend den Vorgaben des vorgerichtlichen Gutachters beweispflichtig.
Rz. 13
Abgesehen davon führt die Annahme einer Beweisvereitelung nicht zu der von der Revision für sich in Anspruch genommenen Rechtsfolge. Liegen die Voraussetzungen einer Beweisvereitelung durch den Gegner der beweisbelasteten Partei vor, können zugunsten der beweisbelasteten Partei Beweiserleichterungen in Betracht kommen, die unter Umständen bis zur Umkehr der Beweislast gehen können. Die Beweisvereitelung führt dagegen nicht dazu, dass eine Beweiserhebung gänzlich unterbleiben könnte und der Vortrag der beweisbelasteten Partei als bewiesen anzusehen wäre (vgl. BGH, Urt. v. 11.6.2015 - I ZR 226/13, a.a.O., Rz. 48 f. - Deltamethrin I m.w.N.).
Rz. 14
b) Die Revision beanstandet aber zu Recht, dass sich das Berufungsgericht an die Beweiswürdigung des AG für gebunden gehalten hat (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).
Rz. 15
aa) Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO hat das Berufungsgericht seiner Verhandlung und Entscheidung die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen zugrunde zu legen, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Denn die Aufgabe der Berufungsinstanz als zweite - wenn auch eingeschränkte - Tatsacheninstanz besteht auch nach der Reform des Zivilprozesses in der Gewinnung einer "fehlerfreien und überzeugenden" und damit "richtigen", d.h. der materiellen Gerechtigkeit entsprechenden Entscheidung des Einzelfalles (vgl. Senat, Urt. v. 14.2.2017 - VI ZR 434/15, VersR 2017, 702, juris Rz. 20; BGH, Urt. v. 9.3.2005 - VIII ZR 266/03, BGHZ 162, 313, juris Rz. 5).
Rz. 16
Konkrete Anhaltspunkte, die die in dieser Bestimmung angeordnete Bindung des Berufungsgerichts an die erstinstanzlichen Feststellungen entfallen lassen, können sich insb. aus Verfahrensfehlern ergeben, die dem erstinstanzlichen Gericht bei der Feststellung des Sachverhalts unterlaufen sind. Ein solcher Verfahrensfehler liegt namentlich vor, wenn die Beweiswürdigung in dem erstinstanzlichen Urteil den Anforderungen nicht genügt, die von der Rechtsprechung zu §§ 286, 287 ZPO entwickelt worden sind. Dies ist der Fall, wenn die Beweiswürdigung unvollständig oder in sich widersprüchlich ist, oder wenn sie gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt (vgl. BGH, Urt. v. 8.6.2004 - VI ZR 230/03, BGHZ 159, 254, 258 f., juris Rz. 16; v. 21.6.2016 - VI ZR 403/14 VersR 2016, 1194 Rz. 10 m.w.N.; zur Beweiswürdigung im Rahmen des § 287 ZPO vgl. Senat, Urt. v. 19.4.2005 - VI ZR 175/04 VersR 2005, 945, juris Rz. 10; v. 24.6.2008 - VI ZR 234/07 VersR 2008, 1370 Rz. 18). Hiervon ist u.a. dann auszugehen, wenn das erstinstanzliche Gericht Widersprüche oder Unklarheiten eines bei der Entscheidung verwerteten Sachverständigengutachtens nicht aufgeklärt hat. Erkennbar widersprüchliche oder unklare Gutachten sind keine ausreichende Grundlage für die Überzeugungsbildung des Gerichts (vgl. BGH, Urt. v. 15.7.2003 - VI ZR 361/02 VersR 2004, 1575, juris Rz. 6; Senat, Beschl. v. 2.7.2013 - VI ZR 110/13, VersR 2014, 261 Rz. 7).
Rz. 17
bb) Die Revision rügt mit Erfolg, dass die vom Berufungsgericht als bindend angesehene Feststellung des AG, der gerichtliche Sachverständige habe aufgrund der Auswertung der vor, während und nach der Reparatur aufgenommenen Fotos eine sach- und fachgerechte Reparatur bejaht, von dessen Ausführungen im Gutachten nicht gedeckt ist. Wie die Revision zu Recht geltend macht, hatte der Sachverständige an verschiedenen Stellen im Gutachten auf die nach der Veräußerung des Fahrzeugs eingeschränkte Beurteilungsgrundlage hingewiesen und sich auf die relativierende, keine positive Feststellung enthaltende Aussage beschränkt, nach der Auswertung der ihm vom Kläger zur Verfügung gestellten Lichtbilder seien keine Anzeichen vorhanden, die gegen eine fach- und sachgerechte Reparatur sprächen (S. 10-13, Bemerkungen unter Bild Nr. 37). So führt er auf S. 10 unten/S. 11 oben des Gutachtens aus:
Rz. 18
"Die Auswertung der zur Verfügung stehenden Schadensunterlagen und Fotos des klägerischen VW - die im vorliegenden Fall zur Beurteilung der Art, Lage und Intensität der Beschädigungen sowie des Reparaturergebnisses die einzigen objektiven Anknüpfungspunkte darstellen - hat ergeben, dass keine Anzeichen vorhanden sind, die gegen eine fach- und sachgerechte Reparaturdurchführung des VW sprechen würden.
Rz. 19
Vielmehr können die durch die Dienstleistungsgesellschaft A.[...] durchgeführten Arbeiten - soweit diese in den vorliegenden im Rahmen der Reparatur des VW aufgenommenen Fotos erkennbar sind (Bilder 13-40) - in einem der Reparaturrechnung der Dienstleistungsgesellschaft A.[...] vom 17.03.2015 entsprechenden Umfang durchgeführt worden sein und zu einem sach- und fachgerechten Reparaturergebnis geführt haben."
Rz. 20
In der Zusammenfassung auf S. 12 weist der Sachverständige erneut darauf hin, dass ihm zur Beantwortung der Beweisfrage neben der Reparaturkalkulation des vorgerichtlichen Sachverständigen und der Reparaturrechnung der Dienstleistungsgesellschaft A.[...] nur die vor und im Rahmen der Reparatur des VW angefertigten Fotos als objektive Anknüpfungspunkte zur Verfügung gestanden hätten, und wiederholt seine relativierende Angabe, die zur Verfügung stehenden Unterlagen und Lichtbilder ließen keine Anzeichen erkennen, die gegen eine fach- und sachgerechte Reparatur sprächen.
Rz. 21
Soweit der Sachverständige darüber hinaus ausführt, die Behauptung des Klägers, die von der Dienstleistungsgesellschaft A.[...] durchgeführte Reparatur habe zu einer fachgerechten Instandsetzung in einem Umfang geführt, wie ihn der vorgerichtliche Sachverständige zur Grundlage seiner Kostenschätzung gemacht habe, "kann daher bestätigt werden", ist diese Schlussfolgerung ersichtlich nicht mit seinen oben dargestellten einschränkenden Äußerungen in Einklang zu bringen.
Rz. 22
Wie die Revision zu Recht geltend macht, sind diese nicht hinreichend aussagekräftigen Angaben des Sachverständigen keine ausreichende Grundlage für die Überzeugungsbildung des Gerichts. Sie begründen Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der tatsächlichen Feststellungen des AG und lassen die in § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO angeordnete Bindung des Berufungsgerichts an diese Feststellungen entfallen. Dies gilt umso mehr, als das AG seine Überzeugung ausweislich der vom Berufungsgericht in Bezug genommenen Urteilsgründe trotz der oben wiedergegebenen einschränkenden Hinweise des Sachverständigen auch damit begründet hat, der Sachverständige habe an keiner Stelle seines Gutachtens erkennen lassen, dass sich für ihn bei der Beantwortung der Beweisfrage Einschränkungen ergeben hätten, weil er den Pkw nicht mehr habe besichtigen können.
Rz. 23
c) Das Urteil stellt sich auch nicht aus anderen Gründen sich als richtig dar (§ 561 ZPO). Den Gründen des Berufungsurteils auf S. 6 Abs. 4 ist nicht zu entnehmen, dass sich das Berufungsgericht hilfsweise von der auf S. 6 Abs. 2 und 3 angenommenen Bindung an die erstinstanzlichen Feststellungen gelöst und eine eigene tatrichterliche Beweiswürdigung vorgenommen hätte.
III.
Rz. 24
Das Berufungsurteil war deshalb aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§§ 562 Abs. 1, 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
Fundstellen
NJW 2022, 539 |
DAR 2022, 430 |
DAR 2022, 84 |
MDR 2022, 160 |
VRS 2021, 120 |
VersR 2022, 184 |
ZfS 2022, 203 |
NJW-Spezial 2022, 10 |
RÜ 2022, 94 |
VRR 2022, 10 |
r+s 2022, 48 |
ACE-VERKEHRSJURIST 2021, 10 |
UE 2022, 1 |