Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankentagegeldversicherung. Berufsunfähigkeit. Arbeitsunfähigkeit. Sachverständigengutachten. Beweiserhebung. Beurteilungslücke. Unvollständigkeit des Gutachtens. Ausdehnung der Beweisaufnahme. Anknüpfungstatsachen. Ergänzungsgutachten. Aufklärung des medizinischen Sachverhalts
Leitsatz (redaktionell)
Eine Beurteilungslücke in einem eingeholten Sachverständigengutachten darf der Tatrichter nur hinnehmen und daran den von der beweisbelasteten Partei zu erbringenden Beweis scheitern lassen, wenn die Lücke durch eine Ausdehnung der Beweisaufnahme, d. h. durch die Erhebung weiterer angebotener Beweise, nicht behoben werden kann. Falls die Unvollständigkeit des Gutachtens darauf beruht, dass dem Sachverständigen Tatsachengrundlagen – die sog. Anknüpfungstatsachen – gefehlt haben, so ist es Aufgabe des Tatrichters, dem Sachverständigen die fehlenden Anknüpfungstatsachen an die Hand zu geben und im Wege eines Ergänzungsgutachtens oder der Anhörung des Sachverständigen die Auswirkungen des geänderten Sachverhalts auf das Gutachten mit dem Sachverständigen zu klären.
Normenkette
ZPO § 284
Verfahrensgang
OLG Frankfurt am Main (Urteil vom 08.05.2001) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 14. Zivilsenats in Kassel des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 8. Mai 2001 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als der Anspruch des Klägers auf Krankentagegeld vom 1. September 1997 bis 31. Januar 2000 abgewiesen worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Der Kläger nimmt die beklagte Versicherungsgesellschaft auf Zahlung von Krankentagegeld in Anspruch.
Der Kläger war als Organisationsleiter im Versicherungsaußendienst tätig. 1990 schloß er mit der Beklagten einen Vertrag über eine Krankheitskostenversicherung zu den Tarifen KNO und PVNA und eine Krankentagegeldversicherung zu dem Tarif TNB 42, der bei völliger Arbeitsunfähigkeit ein Krankentagegeld von 200 DM pro Tag vorsah.
Ab Februar 1994 war der Kläger arbeitsunfähig krank. Er litt unter Bluthochdruck und einem reduzierten Allgemeinbefinden. Es bestand auch der Verdacht auf einen abgelaufenen Herzinfarkt und auf Bronchialasthma. Die Beklagte zahlte ihm Krankentagegeld, holte aber alsbald ein internistisches Gutachten des Sachverständigen Dr. F. vom 22. September 1995 ein. Der Gutachter stellte verschiedene organische Gesundheitsstörungen sowie eine psychische Störung mit Verdacht auf neurotische Depressionen fest und schätzte die dauernde Berufsunfähigkeit des Klägers auf 30%, meinte jedoch, daß die psychische Problematik im Vordergrund stehe, und hielt daher eine ergänzende psychiatrische Begutachtung für erforderlich. Die Beklagte stellte daraufhin die Krankentagegeldzahlungen mit dem 14. November 1995 ein. Der Kläger zahlte unter Berufung auf seine dadurch entstandene Geldnot ab dem 1. Februar 1996 keine Versicherungsbeiträge mehr.
Der Kläger hat mit der Begründung, er sei wegen seiner organischen Leiden (Herzinfarkt, Koronarsklerose, Veränderung einer Herzklappe, Bluthochdruck, Asthma, chronische Bronchitis, Lendenwirbelerkrankung, Osteoporose, Gallensteine, Nierensteine und Nierenzyste) weiterhin arbeitsunfähig krank, zunächst Klage auf Weiterzahlung des Krankentagegeldes ab 15. November 1995 erhoben, wobei er die von ihm nicht mehr gezahlten Versicherungsbeiträge für die Krankheitskostenversicherung zum Tarif KNO in Höhe von damals monatlich 755,55 DM abgezogen hat. Das Landgericht hat ein schriftliches psychosomatisches Gutachten des Sachverständigen Prof. R. vom 17. Juli 1997 eingeholt, das zu dem Ergebnis kam, der Kläger sei bis zum 14. Januar 1996 wegen einer affektiven Störung mit schweren depressiven Episoden arbeitsunfähig gewesen. Die Beklagte zahlte daraufhin das Krankentagegeld bis zum 31. Januar 1996 nach. Für die Zeit danach hat das Landgericht die Klage mit der Begründung abgewiesen, daß der Kläger den Versicherungsvertrag zum 1. Februar 1996 gekündigt habe. Hiergegen hat der Kläger Berufung eingelegt und Weiterzahlung des Krankentagegeldes – nach wie vor abzüglich einer Prämie von 755,55 DM pro Monat – bis einschließlich Januar 2000 in Höhe von insgesamt 255.734 DM begehrt sowie die Feststellung beantragt, daß das Versicherungsverhältnis zwischen den Parteien nicht beendet worden ist. Das Berufungsgericht hat dem Feststellungsantrag stattgegeben. Auch der Zahlungsklage hat es in Höhe von 53.652,85 DM entsprochen, sie im übrigen aber abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, daß der Kläger den Versicherungsvertrag zwar nicht gekündigt, seine vollständige Arbeitsunfähigkeit aber nur bis August 1997 einschließlich bewiesen habe. Von dem von Februar 1996 bis August 1997 geschuldeten Krankentagegeld hat das Berufungsgericht aufgrund einer Hilfsaufrechnung der Beklagten die Versicherungsprämien für alle drei Tarife einschließlich der von der Beklagten zwischenzeitlich vorgenommenen Beitragserhöhungen bis zum 28. Februar 2001 abgezogen.
Mit der Revision verfolgt der Kläger seinen Antrag auf Zahlung des Krankentagegeldes für die Zeit von September 1997 bis Januar 2000 weiter und wehrt er sich außerdem gegen die Aufrechnung der Beklagten mit den rückständigen Versicherungsbeiträgen. Der erkennende Senat hat die Revision nur angenommen, soweit der Anspruch des Klägers auf Krankentagegeld für die Zeit vom 1. September 1997 bis 31. Januar 2000 abgewiesen worden ist.
Entscheidungsgründe
Die Revision hat, soweit sie angenommen worden ist, Erfolg. Sie führt zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht, weil dieses in der streitigen Frage, ob der Kläger auch nach August 1997 noch vollständig arbeitsunfähig war, seiner verfahrensrechtlichen Pflicht zur Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts noch nicht ausreichend nachgekommen ist.
I. Das Berufungsgericht hat sich bei seiner Entscheidung, dem Kläger sei der ihm obliegende Beweis seiner vollständigen Arbeitsunfähigkeit über August 1997 hinaus nicht gelungen, auf das zweite psychosomatische Gutachten des Sachverständigen Prof. R. vom 27. Juni 2000 und dessen ergänzende Stellungnahme vom 19. Februar 2001 gestützt: Der Sachverständige habe festgestellt, daß es in der Zeit von August 1997 bis Juli 2000 zu einer ganz entscheidenden Besserung der affektiven Störung gekommen sei und sich für den Zeitraum nach August 1997 lediglich Zeichen einer gestörten Krankheitsverarbeitung nach dem am 27. Februar 1997 erlittenen (zweiten) Herzinfarkt finden ließen, aus denen aber keine Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit folge.
II. Die Revision rügt zu Recht, daß die Feststellung des Berufungsgerichts, der Kläger habe eine über August 1997 hinaus andauernde vollständige Arbeitsunfähigkeit nicht beweisen können, auf Verfahrensfehlern beruht. Zwar läßt die vom Berufungsgericht vorgenommene tatrichterliche Würdigung des vorliegenden Sachverständigengutachtens mitsamt seiner Ergänzung keine Rechtsfehler erkennen. Verfahrensfehlerhaft ist indessen, daß das Berufungsgericht sich bei der Beweisaufnahme auf das vorliegende Gutachten beschränkt und nicht zusätzliche Beweise erhoben hat.
1. Das vorliegende Gutachten beantwortet die vom Berufungsgericht gestellte Beweisfrage, ob der Kläger „auch nach dem 1.2.1996 arbeitsunfähig krank gewesen” sei, nur unvollständig. Der Sachverständige sollte feststellen, ob und gegebenenfalls bis wann aus medizinischer Sicht über den 1. Februar 1996 hinaus vollständige Arbeitsunfähigkeit des Klägers vorlag. Er hat sich indessen darauf beschränkt, den Zustand des Klägers im Zeitpunkt der ersten psychosomatischen Begutachtung im Juli 1997 (vom Sachverständigen irrtümlich mit August 1997 angegeben) und im Zeitpunkt der zweiten Begutachtung im Juni 2000 zu beurteilen. Für den ersten Zeitpunkt hat er vollständige Arbeitsunfähigkeit angenommen, und im zweiten Zeitpunkt hat er keine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit mehr festgestellt. Für den dazwischen liegenden Zeitraum von drei Jahren hat der Sachverständige, wie aus seiner ergänzenden Stellungnahme hervorgeht, eine Aussage über die Arbeitsunfähigkeit bewußt vermieden, weil er in diesem Zeitraum keine Untersuchung durchgeführt hat; er hat deshalb gemeint, „daß aufgrund ärztlicher Befunde keine sichere Aussage über die Arbeitsfähigkeit zu treffen” sei. Diese zeitliche Beurteilungslücke wird auch nicht durch die Annahme des Sachverständigen geschlossen, die Besserung des seelischen Zustandes sei progredient verlaufen. Denn dies ermöglicht nur die Schlußfolgerung, daß irgendwann im Laufe dieser drei Jahre die vollständige Arbeitsunfähigkeit des Klägers in teilweise Arbeitsfähigkeit umgeschlagen ist, nicht aber die Feststellung des genauen Zeitpunktes.
2. Eine derartige Beurteilungslücke in dem eingeholten Gutachten darf der Tatrichter nur hinnehmen und daran den von der beweisbelasteten Partei zu erbringenden Beweis scheitern lassen, wenn die Lücke durch eine Ausdehnung der Beweisaufnahme, d.h. durch die Erhebung weiterer angebotener Beweise, nicht behoben werden kann. Falls die Unvollständigkeit des Gutachtens, wie hier, darauf beruht, daß dem Sachverständigen Tatsachengrundlagen – die sogenannten Anknüpfungstatsachen – gefehlt haben, so ist es Aufgabe des Tatrichters, dem Sachverständigen die fehlenden Anknüpfungstatsachen nachträglich an die Hand zu geben und im Wege eines Ergänzungsgutachtens oder der Anhörung des Sachverständigen die Auswirkungen des geänderten Sachverhalts auf das Gutachten mit dem Sachverständigen zu klären (BGH, Urteil vom 21. Januar 1997 – VI ZR 86/96 – NJW 1997, 1446 unter II 3 b; OLG Oldenburg NJW-RR 1997, 535).
3. Im vorliegenden Fall durfte das Berufungsgericht nicht von Unaufklärbarkeit des medizinischen Sachverhaltes ausgehen. Denn zu den „ärztlichen Befunden” in der Zeit von Juli 1997 bis Juni 2000, deren Fehlen den Sachverständigen Prof. R. an einer sicheren Aussage über die Arbeitsunfähigkeit des Klägers in dieser Zeit gehindert hat, lagen Beweisangebote des Klägers vor. Der Kläger hat vorgetragen und durch Auskunft des Arbeitsamts Fu. unter Beweis gestellt, er habe von 1996 bis 1999 Arbeitslosengeld bezogen und sei in dieser Zeit mehrfach von der Amtsärztin des Arbeitsamtes untersucht worden, die jeweils zu dem Ergebnis gelangt sei, daß der Kläger zu 100% arbeitsunfähig sei. Des weiteren hat sich der Kläger zum Beweis seiner fortbestehenden vollständigen Arbeitsunfähigkeit auf das sachverständige Zeugnis seiner Hausärztin Dr. S. und des Internisten Dr. Sc. berufen. Damit hat er zugleich konkludent behauptet, daß die drei genannten Ärzte im fraglichen Zeitraum medizinische Befunde erhoben haben, die seine Arbeitsunfähigkeit ergaben. Aufgrund der tatrichterlichen Pflicht zur vollständigen Sachverhaltsaufklärung und hier insbesondere des Gebotes zur Erhebung der angetretenen Beweise (vgl. BGH, Urteil vom 29. Januar 1992 – VIII ZR 202/90 – NJW 1992, 1768 unter II 2 a aa; Zöller/Greger, ZPO 23. Aufl. vor § 284 Rdn. 8 a) hätte das Berufungsgericht diesen Beweisangeboten nachgehen und in diesem Rahmen etwa festgestellte Anknüpfungstatsachen dem Sachverständigen auf geeignete Weise zugänglich machen müssen (vgl. OLG Oldenburg aaO; BGH, Urteil vom 10. Juli 1997 – III ZR 69/96 – NJW 1997, 3096 unter I 2 c bb).
III. Wegen der noch unvollständigen Tatsachenfeststellungen kann das angefochtene Urteil im Umfang der Annahme der Revision keinen Bestand haben. Die Sache war an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, damit es die erforderlichen weiteren Beweiserhebungen zur Frage der vollständigen Arbeitsunfähigkeit des Klägers nach August 1997 vornehmen kann.
Vorsorglich wird folgender Hinweis erteilt: Sollte sich im Zuge der weiteren Beweisaufnahme ergeben, daß auch organische Befunde die Arbeitsunfähigkeit des Klägers herbeigeführt haben können, so werden auch diese im Rahmen einer etwaigen neuen sachverständigen Beurteilung zu berücksichtigen sein.
Unterschriften
Terno, Seiffert, Ambrosius, Wendt, Dr. Kessal-Wulf
Fundstellen
Haufe-Index 781756 |
JurBüro 2003, 54 |
NVersZ 2002, 501 |
VersR 2002, 1258 |
GuG 2003, 184 |