Entscheidungsstichwort (Thema)
sexueller Mißbrauch von Kindern
Tenor
1. Die Revision der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Landau vom 28. Juni 2000 wird mit der Maßgabe verworfen, daß im Fall II 4 der Urteilsgründe die tateinheitliche Verurteilung wegen Beischlafs zwischen Verwandten entfällt.
2. Die Beschwerdeführerin hat die Kosten des Rechtsmittels und die den Nebenklägern im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Von Rechts wegen
Gründe
Das Landgericht hat die Angeklagte wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern in vier Fällen, in einem Fall (Fall II 4 der Urteilsgründe) in Tateinheit mit Beischlaf zwischen Verwandten, sexuellen Mißbrauchs von Schutzbefohlenen in sieben Fällen, in vier Fällen in Tateinheit mit Beischlaf zwischen Verwandten, Beischlafs zwischen Verwandten und versuchter sexueller Nötigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Die Revision der Angeklagten, mit der sie die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt, hat nur einen geringen Teilerfolg.
Der Verurteilung der Angeklagten liegen sexuelle Mißbrauchshandlungen zum Nachteil ihrer Kinder Michael (geboren am 21. Mai 1979) und Nicole H. (geboren am 18. September 1980) zugrunde. Die Angeklagte hat die Tatvorwürfe bestritten.
1. Die Verfahrensrüge greift nicht durch. Ohne Erfolg beanstandet die Revision, daß sich die Angeklagte bei einer ergänzenden Vernehmung des Nebenklägers Michael H. am 8. Juni 2000 gemäß § 247 Satz 1 StPO aus dem Sitzungssaal entfernen mußte (Rüge nach § 338 Nr. 5 StPO).
a) Der Rüge liegt folgender Verfahrensgang zugrunde:
Michael H. machte – nach Belehrung gemäß den §§ 52, 55 StPO – als Zeuge am 15. und 16. Mai sowie am 5. Juni 2000 Angaben zur Sache. Am 8. Juni 2000 wurde er – in Gegenwart eines Sachverständigen – erneut vernommen. Nachdem der Sachverständige sein Gutachten erstattet hatte, erklärte sich Michael H. weiter zur Sache. Sein anwaltlicher Vertreter stellte sodann „gem. § 247 StPO den Antrag, für die weitere Vernehmung des Zeugen die Angeklagte aus dem Sitzungssaal zu entfernen. Er würde ansonsten von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen”. Die Verteidiger beantragten
„gemäß § 273 III StPO folgendes wörtlich protokollieren zu wollen. Frage RA W. [= Verteidiger der Angeklagten]: ‚Hat die Anwesenheit Ihrer Mutter Sie von Anfang an in diesem Verfahren gehindert, alles zur Sache zu sagen?’ Antwort des Zeugen: ‚Ich habe mich überschätzt. Ich konnte nicht immer alles sagen.’
Zum Antrag der Nebenklage: Sollte diesem Antrag stattgegeben werden, beantragt die Verteidigung, in der Gemäßheit des § 247 a StPO zu verfahren.”
Die Strafkammer hat daraufhin folgende Beschlüsse verkündet:
(1) Der Antrag auf wörtliche Protokollierung wird zurückgewiesen, da es lediglich auf den Inhalt der gemachten Angaben und nicht auf den exakten Wortlaut ankommt.
(2) Für die Dauer der weiteren Vernehmung des Nebenklägers ist auf seinen Antrag hin die Angeklagte aus dem Sitzungssaal zu entfernen (§ 247 Satz 1 StPO). Der Nebenkläger hat angegeben, bei weiterer Anwesenheit seiner Mutter (der Angeklagten) werde er keine weiteren Angaben mehr machen; damit droht der Verlust des Beweismittels, d.h. der Nebenkläger will überhaupt nichts mehr, also auch die Wahrheit nicht sagen (vgl. BGHSt 22, 18, 21).
Der auf § 247 a StPO gestützte Antrag auf Videovernehmung wird zurückgewiesen, da es sich insoweit schon nach dem Wortlaut der Bestimmung um die Ultima Ratio handelt, vor deren Inanspruchnahme zunächst die Möglichkeit nach § 247 StPO auszuschöpfen ist.
Der Beschluß bezüglich der Entfernung der Angeklagten aus dem Sitzungssaal wurde ausgeführt; der Angeklagten wurde – „nach Rücksprache” mit den Verfahrensbeteiligten – für die Dauer ihrer Entfernung aus der Hauptverhandlung Gelegenheit gegeben, in einem angrenzenden Zimmer eine Videoübertragung der Vernehmung des Nebenklägers mitzuverfolgen. Danach wurde sie wieder in den Sitzungssaal gerufen und vom Vorsitzenden über die Aussage des Zeugen unterrichtet. Michael H. machte – in Anwesenheit der Angeklagten – weitere Angaben zur Sache, blieb unvereidigt und wurde in allseitigem Einverständnis entlassen.
b) Die Vorgehensweise der Strafkammer weist keinen Rechtsfehler auf.
aa) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann das Gericht – nach pflichtgemäßem Ermessen (vgl. BGH NStZ 1987, 84, 85) – gemäß § 247 Satz 1 StPO anordnen, daß sich der Angeklagte aus dem Sitzungssaal entfernt, wenn ein Zeuge, der – wie hier – zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigt ist, in der Hauptverhandlung erklärt, unter dem Druck der Anwesenheit des Angeklagten von diesem Recht Gebrauch zu machen, falls er in Gegenwart des Angeklagten vernommen werde (BGHSt 22, 18, 21; BGH StV 1995, 509; NStZ 1997, 402; BGH, Beschluß vom 17. Januar 2001 – 1 StR 480/00 = BGHR StPO § 247 Satz 1 Begründungserfordernis 4). Diese Rechtsprechung wird vom Schrifttum überwiegend gebilligt (vgl. nur Gollwitzer in Löwe/Rosenberg StPO 25. Aufl. § 247 Rdn. 16; Diemer in KK 4. Aufl. § 247 Rdn. 5; Kleinknecht/Meyer-Goßner StPO 45. Aufl. § 247 Rdn. 4; kritisch lediglich Hanack JZ 1972, 81). An ihr ist grundsätzlich festzuhalten; daran ändert auch die Einfügung des § 247 a StPO (audiovisuelle Zeugenvernehmung) durch das Zeugenschutzgesetz vom 30. April 1998 (BGBl. I 820) nichts: Denn zum einen regelt § 247 a StPO nicht den Fall des § 247 Satz 1 StPO, daß nämlich zu befürchten ist, ein Zeuge werde bei seiner Vernehmung in Gegenwart des Angeklagten nicht die Wahrheit sagen, zum anderen geht nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift die Entfernung des Angeklagten gemäß § 247 StPO einer audiovisuellen Zeugenvernehmung vor (vgl. BGH NStZ 2001, 261, 262; Diemer NJW 1999, 1667, 1669 f.; kritisch Rieß StraFo 1999, 1, 6; Kuckein StraFo 2000, 397, 398). Durch § 247a StPO wird daher die bisherige Rechtsprechung zu § 247 Satz 1 StPO nicht berührt. Ob es – obwohl im Gesetz nicht vorgesehen – aus Rechtsgründengeboten ist, dem aus dem Sitzungssaal entfernten Angeklagten – bei einem Sachverhalt wie hier – die Möglichkeit zu geben, die Vernehmung des Zeugen durch eine Videosimultanübertragung mitzuverfolgen (vgl. v. Gemmeren NStZ 2001, 263, 264; a.A. Schlüchter in SK-StPO § 247 a Rdn. 8; für eine entsprechende Regelung „de lege ferenda”: 62. DJT, Beschlüsse IV 7 = NJW 1999, 121; Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO § 247 Rdn. 14), muß der Senat nicht entscheiden; denn das Landgericht hat der Angeklagten diese Möglichkeit eingeräumt.
bb) Soweit die Revision einwendet, eine die Anwendung des § 247 Satz 1 StPO in einem Fall wie hier voraussetzende „psychische Druck- oder Zwangssituation” für den Zeugen habe nicht vorgelegen, war eine solche Lage nach dem eigenen Vortrag der Beschwerdeführerin gegeben: Der nach der Anklage in ständiger Angst vor der Angeklagten lebende, über Jahre hinweg schwer sexuell mißbrauchte Zeuge hat zur Begründung des Ausschließungsantrags angegeben, er habe in Gegenwart seiner Mutter „nicht immer alles” sagen können; er habe sich insoweit „überschätzt”. Diese nachvollziehbare (Selbst-) Einschätzung trägt den von der Rechtsprechung für eine Entfernung der Angeklagten geforderten „Druck der Anwesenheit des Angeklagten” für den Zeugen (BGHSt 22, 18, 21; s. auch BGH NStZ 1999, 94 f.), auch wenn Michael H. bei anderer Gelegenheit seine Angaben (ohne „immer alles” zu sagen) in Gegenwart der Angeklagten gemacht hat. Eine weitere Befragung des Zeugen dazu war nicht geboten. Die Vermutung der Verteidigung, der Zeuge habe die Entfernung der Angeklagten aus „taktischen” Gründen – also rechtsmißbräuchlich – beantragt, ist nicht erwiesen; eine Rekonstruktion der Beweisaufnahme insoweit ist dem Senat versagt (vgl. BGH NStZ 1997, 296 m.w.N.).
2. Die Nachprüfung des Urteils aufgrund der allgemein erhobenen Sachrüge führt nur zur Änderung des Schuldspruchs dahin, daß im Fall II 4 der Urteilsgründe die Verurteilung wegen Beischlafs zwischen Verwandten entfällt, weil insoweit – wie das Landgericht selbst ausführt (UA 98) – Strafverfolgungsverjährung eingetreten ist. Der Senat kann ausschließen, daß sich der Wegfall des tateinheitlich begangenen Delikts im Schuldspruch auf die Höhe der im Fall II 4 verhängten Einzelstrafe ausgewirkt hätte; denn die Strafkammer hat die eingetretene Strafverfolgungsverjährung bei der Strafzumessung berücksichtigt (UA 109).
Im übrigen hat die Überprüfung des Urteils keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben.
Unterschriften
Meyer-Goßner, Maatz, Kuckein, Athing, Solin-Stojanovi[cacute]
Fundstellen
Haufe-Index 625103 |
NStZ 2001, 608 |
StV 2002, 10 |