Leitsatz (amtlich)
1. Bei Rückgriffsansprüchen aus § 640 RVO bleibt ein etwaiges Mitverschulden des Unfallopfers außer Betracht.
2. Wenn das Opfer eines Arbeitsunfalls sowohl von einem nach § 640 RVO Rückgriffspflichtigen als auch von einem nach § 1542 RVO ersatzpflichtigen Dritten verletzt worden ist, kann der SVT zwischen seinem Erstattungsanspruch aus § 640 RVO und seinem Ersatzanspruch aus § 1542 RVO wählen.
3. Die Regeln über den Anscheinsbeweis sind für den Nachweis grober Fahrlässigkeit nicht anwendbar (hier: Frage des groben Verschuldens bei unaufgeklärtem Auffahrunfall).
Verfahrensgang
OLG Köln (Entscheidung vom 20.04.1970) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des 12. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 20. April 1970 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Am 4. November 1966 gegen 4.00 Uhr fuhr der von dem Kraftfahrer K. gelenkte Sattelschlepper auf der Autobahn auf einen vor ihm stehenden Lastzug mit großer Wucht auf; weder eine Bremsspur noch ein Ausweichversuch ließen sich feststellen. Das Führerhaus des Sattelschleppers wurde zertrümmert;
K. und sein Beifahrer wurden sofort getötet.
Der Lastzug hatte anhalten müssen, weil sich vor ihm infolge eines anderen Unfalls ein Fahrzeugstau gebildet hatte. Wie lange er schon gestanden hatte und ob seine Rücklichter brannten, ist streitig.
Die Klägerin, eine Berufsgenossenschaft, der das Möbelwerk, die Halter in des Sattelschleppers, angehört, muß für die Hinterbliebenen des getöteten Beifahrers Leistungen erbringen. Sie ist der Ansicht, K. habe den Unfall durch grobe Fahrlässigkeit verschuldet. Gestützt auf § 640 RVO nimmt sie bei der Beklagten, bei der das Möbelwerk den Sattelschlepper und seinen Fahrer gegen Haftpflicht versichert hatte, Rückgriff.
Das Landgericht hat der Klage stattgegeben; die Berufung der Beklagten ist erfolglos geblieben. Ihre Revision erstrebt weiterhin Abweisung der Klage.
Entscheidungsgründe
I.
Die Revision rügt, daß das Berufungsgericht nicht ein mitwirkendes Verschulden des bei dem Unfall getöteten, bei der Klägerin versicherten Beifahrers des Sattelschleppers berücksichtigt habe. Abgesehen davon, daß es an jedem Anhaltspunkt für ein Verschulden des Beifahrers fehlt, folgt aus der besonderen Art des auf § 640 RVO gestützten Ersatzanspruchs, daß ein etwaiges Mitverschulden des Unfallopfers außer Betracht zu bleiben hat (RGZ 144, 31, 36; Senatsurteile vom 8. Mai 1956 - VI ZR 48/55 - VersR 1956, 435, 437 - und vom 6. Februar 1968 - VI ZR 141/66 - VersR 1968, 570).
II.
Das Berufungsgericht meint, für den auf § 640 RVO gestützten Klageanspruch sei es ohne Bedeutung, daß die Klägerin auch den Haftpflicht Versicherer des Halters und Fahrers des stehenden Lastzuges, auf den der Sattelschlepper aufgefahren ist, aus § 1542 RVO in Verbindung mit einem Teilungsabkommen (TA) in Anspruch nehmen könne; zwischen den Ansprüchen aus § 640 RVO und aus § 1542 RVO bestehe weder eine Rangfolge noch eine Spezialität oder Subsidiarität, sie seien vielmehr rechtlich voneinander unabhängig, so daß es im Belieben der Klägerin stehe, welchen ihrer Schuldner sie in Anspruch nehmen wolle.
Die hiergegen von der Revision vorgebrachten Bedenken greifen nicht durch. Sie macht nicht geltend, daß die Klägerin den anderen Haftpflichtversicher er aufgrund des TA bereits in Anspruch genommen und die vereinbarte Schadensquote für den vorliegenden Versicherungsfall erhalten habe; eine solche Behauptung war auch in den Tatsacheninstanzen nicht aufgestellt worden. Nach Ansicht der Revision muß die Klageforderung in dem Umfang als getilgt angesehen werden, in welchem die Klägerin aufgrund des TA generell gegenüber dem anderen Haftpflicht Versicherer auf Ersatz ihrer Aufwendungen verzichtet hat. Dem kann nicht gefolgt werden.
Richtig ist zwar, daß die Leistungspflicht eines Versicherers, der mit einem Sozialversicherung träger (SVT) ein TA abgeschlossen hat, nicht davon abhängt, ob den Versicherten überhaupt eine Ersatzpflicht getroffen hat. Denn es ist gerade Sinn und Zweck des TA, Arbeitsaufwand und damit finanzielle Mehraufwendungen einzusparen, die bei einer Bearbeitung der jeweiligen Fälle aufgrund der jeweils gegebenen Rechtslage entstehen würden. Grundlage des TA ist der Gedanke, daß der SVT, wenn er lediglich - aber auch immer - die im TA versprochene Quote erhält, nach dem Gesetz der großen Zahl im Ergebnis doch ebensoviel erhält, wie bei einer Regulierung jedes einzelnen Schadensfalles nach der jeweils gegebenen Rechtslage (so wieder das Senatsurteil vom 29. September 1970 - VI ZR 191/68 -, VersR 1970, 1108, 1109 mit weiteren Nachweisen). Grundsätzlich kann der SVT, wenn das Opfer eines Arbeitsunfalls sowohl von einem nach § 640 RVO Rückgriffspflichtigen als auch von einem nach § 1542 RVO ersatzpflichtigen Dritten verletzt worden ist, zwischen seinem Erstattungsanspruch aus § 640 oder seinem Ersatzanspruch aus § 1542 RVO wählen (Lauterbach, UnfVers, 3. Aufl., § 640, Anm. 37; Schmalzl MDR 1960, 14; Boiler VersR 1965, 20, 24 und 928, 930; Wussow, Teilungsabkommen, 3. Aufl., Seite 101, 120). Daß im vorliegenden Fall deswegen, weil die Klägerin mit dem Haftpflicht Versicherer des Lastzuges ein TA geschlossen haben soll, eine Sachlage gegeben gewesen wäre, die zu einer Einschränkung dieses Wahlrechts hätte führen müssen, hat die Revision nicht dargelegt. Über den Inhalt des TA ist nichts vorgetragen, vor allem ist nicht behauptet, daß der Regreßverzicht der Klägerin auch gegenüber etwaigen anderen Haftpflichtigen habe gelten sollen. Ebensowenig ist ein Sachverhalt vorgetragen, aus dem sich ergibt, daß durch das TA Regreßansprüche der Beklagten geschmälert werden könnten, die ihr aufgrund ihrer Zahlung möglicherweise zustehen.
III.
Es geht also jetzt nur noch darum, ob die Klägerin hat beweisen können, daß dem Führer des Sattelschleppers der Vorwurf der groben Fahrlässigkeit zu machen ist.
Die Beurteilung der Frage, ob ein schuldhaftes Verhalten nur als fahrlässig oder ob es als grobfahrlässig zu bezeichnen ist, steht in erster Linie dem Tatrichter zu. Das Revisionsgericht darf nur prüfen, ob das Berufungsgericht den Begriff der groben Fahrlässigkeit nicht verkannt und die erforderlichen Feststellungen vollständig getroffen hat. In letzterer Beziehung gibt das Urteil des Berufungsgerichts, wie die Revision mit Recht rügt, zu Bedenken Anlaß. Die bisher getroffenen Feststellungen lassen Zweifel offen, ob ein grobfahrlässiges Verhalten Kneppers Verfahrensfehlerfrei festgestellt ist.
1.
Das Berufungsgericht ist allerdings in Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes nicht davon ausgegangen, daß die Anwendung der Regeln über den Anscheins beweis auch für den Nachweis grober Fahrlässigkeit zulässig ist (vgl. Senatsurteil vom 21. April 1970 - VI ZR 226/68 - VersR 1970, 568, 569 mit Hinweisen auf die frühere Rechtsprechung). Für die Beurteilung des Grades der Fahrlässigkeit lassen sich nämlich allgemeine Regeln nur mit großem Vorbehalt aufstellen (vgl. Senatsurteil vom 11. Juli 1967 - VI ZR 14/66 - VersR 1967, 909, 910).
2.
Im Hinblick darauf, daß K. und sein Beifahrer bei dem Unfall ums Leben gekommen sind und daß es keine Zeugen für das Fahr verhalten. K. unmittelbar vor dem Unfall gibt, hätte das Berufungsgericht dem Antrag der Beklagten auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zu der Behauptung, es ergebe sich aus dem Fahrtenschreiber, daß K. vor dem Unfall seine Geschwindigkeit durch Bremsen gemindert habe, stattgeben müssen. Dadurch, daß das Berufungsgerichtgericht diesen Beweisantrag als bedeutungslos bezeichnet (BU S. 20), hat es die Vorschrift des § 286 ZPO verletzt. Die von ihm gegebene Begründung reicht nämlich zur Ablehnung des Beweisantrages, der nicht den Vorwurf der Fahrlässigkeit sondern den der groben Fahrlässigkeit ausräumen sollte, nicht aus. Die Tatsache, daß der Motor- und Führ er haus teil des Sattelschleppers total zusammengedrückt war, rechtfertigt nicht den Schluß, es komme nicht mehr darauf an, ob K. etwa gebremst habe. Mißverständlich ist in diesem Zusammenhang vor allem die Schlußfolgerung des Berufungsgerichts, der "typische Geschehensablauf" eines verkehrswidrig schuldhaften Verhaltens K. werde auch durch eine im letzten Augenblick vorgenommene Bremsung nicht in Frage gestellt. Diese Ausführungen erwecken den Eindruck, daß das Berufungsgericht nun doch die Anwendung der Regeln für den Beweis des ersten Anscheins auch für die Feststellung eines grobfahrlässigen Verhaltens anwenden will. Jedenfalls kommt das Berufungsgericht bei der anschließenden Prüfung der Frage, ob der Fahrer auch grobfahrlässig gefahren sei (BU S. 22 ff), auf den Beweisantrag der Beklagten nicht zurück. Eine gewöhnliche Fahrlässigkeit war aber von der Beklagten niemals in Frage gestellt worden, so daß es insoweit eines Eingehens auf ein verkehrswidrig-schuldhaftes Verhalten K. nicht bedurfte.
Läßt sich durch Auswertung der bei den Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft befindlichen Tachographenscheibe - hierauf hat sich die Beklagte übrigens nicht erst in der letzten mündlichen Verhandlung, sondern bereits in der Berufungsbegründung (Bl. 127/128, 135 GA) berufen - feststellen, daß K. vor dem Unfall doch noch, wenn auch zu spät, reagiert hat, dann bedarf die Frage, ob grobe Fahrlässigkeit vorliegt oder nicht, schon aus diesem Grund einer erneuten Prüfung durch den Tatrichter. Infolgedessen mußte die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden.
IV.
Für die neue Verhandlung sei bemerkt:
1.
Die Beklagte hatte in der Berufungsbegründung (Bl. 134) behauptet, daß es bei einer geraden Streckenführung der Autobahn für den Kraftfahrer des Nachts schwierig zu beurteilen sei, ob ein vor ihm befindliches Fahrzeug in Bewegung ist oder ob es steht. In der Tat kann angezeigt sein, die Frage zu erörtern, ob bei dem Sattelschlepper im Unfallzeitpunkt Fern- oder Abblendlicht eingeschaltet war. Eine entsprechende Aufklärung oder die Feststellung, daß eine Aufklärung nicht möglich ist, gehört zur erschöpfenden Würdigung aller für den Unfallverlauf wesentlichen Umstände. Dabei wird zu berücksichtigen sein, daß bei einer Geschwindigkeit von 70 km/st auch auf der Autobahn das Fernlicht hätte eingeschaltet sein müssen (BGHSt 16, 145), daß andererseits dennoch erfahrungsgemäß bei den des Nachts über die Autobahn rollen den Lastkraftwagen häufig nur das Abblendlicht benutzt wird. Wenn sich feststellen lassen sollte oder zugunsten der Beklagten unterstellt werden müßte, daß K. nur das Abblendlicht eingeschaltet hatte, wird das Berufufungsgericht zu beurteilen haben, ob hierin ein grobfahrlässiges Verhalten liegt oder ob sich K. an den Schlußlichtern der vor ihm befindlichen Fahrzeuge orientieren durfte, er sich möglicherweise daher in der Entfernung verschätzt und deshalb nicht erkannt hat, daß der Lastzug vor ihm nicht mehr in Bewegung war.
2.
Bei der erneuten Verhandlung dürfte es sich empfehlen, zusammen mit der Tachographenscheibe des Sattelschleppers auch die des Lastzuges, auf den dieser aufgefahren ist, sachverständig auswerten zu lassen, so daß möglicherweise einwandfreie Feststellungen darüber getroffen werden können, wie lange der Lastzug bereits gestanden hatte, als der Aufprall geschah. Feststellungen auch in dieser Richtung könnten die Beurteilung des Fahr Verhaltens K.beeinflussen.
Fundstellen
Haufe-Index 3018668 |
VersR 1972, 171-172 (Volltext mit amtl. LS) |