Entscheidungsstichwort (Thema)
Bestimmung der Anforderungen an die Geschäftsfähigkeit als Voraussetzung für den Abschluss eines Erbvertrages
Leitsatz (amtlich)
- Liegen deutliche Anhaltspunkte vor, daß Geschäftsunfähigkeit vorgelegen haben könnte, ist die Einholung eines beantragten Sachverständigengutachtens eines Psychiaters rechtlich geboten, da insoweit von diesem größere Fachkunde als von einem praktischen Arzt zu erwarten ist.
- Für die Frage, ob ein Erblasser möglicherweise bei Abschluß eines Erbvertrages gemäß § 104 Nr. 2 BGB geschäftsunfähig war, kommt es neben einer Störung der Geistestätigkeit vornehmlich darauf an, ob der Erblasser imstande war, seinen Willen frei und unbeeinflußt von der vorliegenden Störung zu bilden und nach zutreffend gewonnenen Einsichten zu handeln.
Normenkette
BGB § 2275 Abs. 1, §§ 114, 104, 1822 Abs. 1, § 181
Tenor
Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des 6. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 1. Oktober 1982 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Erbfolge nach dem am 13. Mai 1981 verstorbenen Rentner Karl R.; dieser war verwitwet und hinterließ keine Abkömmlinge.
Die Beklagten stützen sich auf den Erbvertrag, den sie am 7. Dezember 1978 mit dem damals 80 Jahre alten Erblasser abgeschlossen haben und in dem dieser sie zu seinen Erben eingesetzt hat. Die Kläger, Brüder des Erblassers, halten den Erbvertrag für unwirksam und nehmen für sich in Anspruch, Miterben kraft Gesetzes zu sein.
Bereits der Erblasser hatte den Erbvertrag wegen Irrtums angefochten und Klage auf Feststellung erhoben, daß der Erbvertrag unwirksam ist. Nach seinem Tode sind im Verfahren vor dem Landgericht an seiner Stelle die Kläger in den Rechtsstreit eingetreten. Sie sind der Auffassung, der Erbvertrag sei nicht wirksam zustandegekommen, weil der Erblasser nicht geschäftsfähig gewesen und weil der Erbvertrag sittenwidrig und wirksam angefochten sei. Außerdem habe der Erbvertrag der Genehmigung durch das Vormundschaftsgericht bedurft und verstoße auch gegen § 181 BGB.
Aufgrund einer Bescheinigung des Hausarztes des Erblassers vom 2. Oktober 1978 hatte das Vormundschaftsgericht am 11. Oktober 1978 die Gebrechlichkeitspflegschaft (Wirkungskreis: Vertretung des Pflegebefohlenen in allen vermögensrechtlichen Angelegenheiten und bei der Bestimmung des Aufenthalts) angeordnet. Zum Pfleger wurde der Beklagte zu 1) am 8. Dezember 1978 bestellt.
Landgericht und Oberlandesgericht haben die Klage für unbegründet gehalten. Mit der Revision verfolgen die Kläger ihr Feststellungsbegehren weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
1.
Ob das Verfahren, das nach dem Tode des früheren Klägers ausgesetzt war, vor dem Landgericht ordnungsgemäß wieder aufgenommen worden ist, hat der Senat nicht zu entscheiden. Die Beklagten haben sich gegen die Aufnahme durch die Jetzigen Kläger weder im Berufungs- noch im Revisionsverfahren gewendet. Vielmehr wird der Rechtsstreit einverständlich als reiner Prätendentenstreit fortgeführt. Dagegen bestehen keine Bedenken.
2.
Zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, daß einen Erbvertrag gemäß § 2275 Abs. 1 BGB als Erblasser - von den Sonderfällen der Absätze 2, 3 dieser Vorschrift abgesehen - nur schließen kann, wer unbeschränkt geschäftsfähig ist, nämlich Volljährige (§ 2 BGB), die nicht geschäftsunfähig (§ 104 BGB) und nicht in ihrer Geschäftsfähigkeit beschränkt (§ 114 BGB) sind.
Das Berufungsgericht ist zu dem Ergebnis gelangt, die Kläger hätten nicht bewiesen, daß der Erblasser bei Abschluß des Erbvertrages beschränkt geschäftsfähig oder geschäftsunfähig gewesen sei. Dabei stützt es sich auf die Bekundungen des als Zeuge vernommenen Hausarztes. Dieser habe bekundet, der Erblasser sei im Dezember 1978 geistig voll orientiert gewesen; man habe sich mit ihm damals normal unterhalten können. Das Berufungsgericht hält den Hausarzt für hinreichend sachverständig; auch der Notar habe sich von der Geschäftsfähigkeit des Erblassers überzeugt.
Demgegenüber hält das Berufungsgericht die Einholung des von den Klägern beantragten Sachverständigengutachtens nicht für veranlaßt. Hierfür fehle es an den erforderlichen Anknüpfungstatsachen. Umstände, die Schlüsse auf verminderte Geschäftsfähigkeit oder Geschäftsunfähigkeit des Erblassers zulassen könnten, seien nicht unter Beweis gestellt.
Diese Beurteilung hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
Da ein Fall der beschränkten Geschäftsfähigkeit (vgl. § 114 BGB) hier nicht vorliegt, kommt es darauf an, ob der Erblasser bei Abschluß des Erbvertrages geschäftsunfähig war (§ 104 BGB); in Betracht kommt insoweit nur § 104 Nr. 2 BGB. Danach ist geschäftsunfähig, wer sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden (nicht nur vorübergehenden) Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet. Demgemäß kommt es neben einer Störung der Geistestätigkeit vornehmlich darauf an, ob der Erblasser imstande war, seinen Willen frei und unbeeinflußt von der vorliegenden Störung zu bilden und nach zutreffend gewonnenen Einsichten zu handeln (BGH, Urteile vom 19.6.1970 - IV ZR 83/69 - und 14.7.1953 - V ZR 97/52 - NJW 1970, 1680; 1953, 1342 m.w.N.). Ausschlaggebend sind dabei weniger die Fähigkeiten des Verstandes, als vielmehr die Freiheit des Willensentschlusses. Abzustellen ist daher darauf, ob eine freie Entscheidung nach Abwägung des Für und Wider bei sachlicher Prüfung der in Betracht kommenden Gesichtspunkte möglich war, oder ob umgekehrt von einer freien Willensbildung nicht mehr gesprochen werden kann, etwa weil der Erblasser fremden Einflüssen unterlag (BGH aaO).
Diese Rechtslage hat das Berufungsgericht möglicherweise nicht zutreffend gesehen. Bei Würdigung der Aussage des Hausarztes stellt es ausschließlich die intellektuellen Fähigkeiten des Erblassers in den Vordergrund, während die Frage nach der freien Willensbestimmung unerörtert bleibt. Ob dem Hausarzt, auf dessen Angaben das Berufungsgericht sich stützt, die Bedeutung der freien Willensbestimmung für die Frage nach der Geschäftsfähigkeit geläufig war, ist ungesichert. Eine derartige Kenntnis kann auch bei einem erfahrenen praktischen Arzt nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden.
Schon aus diesem Grunde kann das angefochtene Urteil nicht bestehen bleiben. Mit Recht beanstandet die Revision ferner, daß das Berufungsgericht das von den Klägern beantragte Sachverständigengutachten nicht eingeholt hat.
Zum Beweis ihrer Behauptung, der Erblasser sei bei Abschluß des Erbvertrages geschäftsunfähig gewesen, haben die Kläger sich vor dem Tatrichter wiederholt auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens berufen. Die Begründung, mit der das Berufungsgericht diesen Antrag abgelehnt hat, ist rechtlich nicht zu billigen. Fragen der Geschäftsfähigkeit wie der Testierfähigkeit fallen nicht vorzugsweise in das Fachgebiet eines praktischen Arztes; vielmehr ist insoweit die größere Fachkunde von einem Psychiater zu erwarten.
Richtig ist, daß Störungen der Geistestätigkeit, die gemäß §§ 104, 105 BGB zur Geschäftsunfähigkeit führen, Ausnahmeerscheinungen sind und daß derjenige, der sich auf solche Störungen beruft, Tatsachen darlegen muß, aus denen sich Anhaltspunkte hierfür ergeben. Entgegen der Annahme des Berufungsgerichts lagen hier indessen ausreichende Anhaltspunkte vor.
Unstreitig hatte der Hausarzt des Erblassers, der praktische Arzt Dr. F., am 2. Oktober 1978 bescheinigt, daß der Erblasser an einer allgemeinen altersbedingten Verkalkung der Gefäße, vor allem im Kopf- und Herzbereich mit deutlicher Einschränkung der jeweiligen Organfunktion litt; dazu bestehe Bluthochdruck und eine zur Eigengefährlichkeit neigende Involutionsdepression. Der Patient könne nicht mehr allein gelassen werden und sich auch nicht mehr selbst versorgen; er gelte als voll pflegebedürftig.
Diese Angaben (Verkalkung der Gefäße vor allem im Kopfbereich mit deutlicher Einschränkung der Organfunktion; Involutionsdepression) boten deutliche Anhaltspunkte dafür, daß Geschäftsunfähigkeit vorgelegen haben könnte. Hinzu kommt, daß dem Berufungsgericht auch eine Bescheinigung desselben Arztes vom 21. März 1979 vorlag (Bl. 10 d.A. VIII 319/78 AG Fürth), wonach der Erblasser seit März 1978 (!) wegen fortgeschrittener (!) Cerebralsklerose in ärztlicher Behandlung stehe.
Unter diesen Umständen war die Einholung des beantragten Sachverständigengutachtens eines Psychiaters durch das Berufungsgericht rechtlich geboten (vgl. auch BGHZ 70, 252, 261). Daß das Berufungsgericht über ausreichende eigene Sachkunde auf diesem Gebiet verfügte, läßt das angefochtene Urteil nicht erkennen.
Wegen der übrigen Angriffe der Revision gegen das angefochtene Urteil erscheinen für die erneute Verhandlung und Entscheidung folgende Hinweise angezeigt:
Entgegen der Annahme des Berufungsgerichts fällt der Erbvertrag nicht unter § 1822 Nr. 1 BGB. Im übrigen bietet diese Vorschrift dem Pflegling nur Schutz vor Rechtsgeschäften, die der (Vormund oder) Pfleger in seinem Namen vornimmt. Auf Geschäfte, die ein voll geschäftsfähiger Pflegling selbst zugunsten seines Pflegers vornimmt und vornehmen kann, ist § 1822 BGB weder unmittelbar noch entsprechend anzuwenden. Auch § 181 BGB ist insoweit nicht einschlägig.
Soweit die Kläger sich auf die Anfechtung des Erbvertrages stützen, können sie schon deshalb keinen Erfolg haben, weil es nach dem Inhalt des angefochtenen Urteils an der schlüssigen Darlegung eines Anfechtungsgrundes fehlt. Ob der Erbvertrag gemäß § 138 Abs. 1 BGB nichtig ist, wie das etwa in BGHZ 50, 63, 70 f. angenommen worden ist, hängt weitgehend von den Umständen des Einzelfalles und insbesondere von der subjektiven Einstellung der Beklagten ab. Die Kläger werden Gelegenheit haben, ihr bisheriges Vorbringen vor dem Berufungsgericht zu ergänzen.
Unterschriften
Dr. Hoegen
Dr. Lang
Dehner
Dr. Schmidt-Kessel
Dr. Zopfs
Fundstellen