Leitsatz (amtlich)
Zu den Grenzen der Verkehrssicherungspflicht gegenüber Kindern bei Aufsichtsversäumnissen ihrer Eltern.
Normenkette
BGB § 823
Verfahrensgang
OLG Düsseldorf (Urteil vom 20.04.1993) |
LG Duisburg (Urteil vom 08.09.1992) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des 22. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 20. April 1993 insoweit aufgehoben, als zu ihrem Nachteil erkannt worden ist.
Die Berufung des Klägers zu 1) gegen das Urteil des Landgerichts Duisburg vom 8. September 1992 wird zurückgewiesen.
Die Kosten erster Instanz fallen dem Kläger zu 1) zu 4/6 und den Klägern zu 2) und 3) zu je 1/6 zur Last.
Die Kosten des Berufungsverfahrens haben der Kläger zu 1) zu 19/20 und die Kläger zu 2) und 3) zu 1/20 zu tragen. Die Kosten des Revisionsverfahrens fallen dem Kläger zu 1) zur Last.
Von Rechts wegen
Tatbestand
In der H.-Straße in O. befinden sich acht gleichartige, in geschlossener Bauweise errichtete Reihenhäuser mit den Grundstücksnummern 57–81. Den Eltern des Klägers zu 1)(künftig: Kläger) gehört das Grundstück Nr. 69, den Beklagten das Grundstück Nr. 61. Zwischen den Grundstücken der Parteien liegen drei jeweils 5,50 m breite Grundstücke, die aufgrund einer nach dem Bezug der Häuser 1986 einstimmig von allen Eigentümern getroffenen Vereinbarung weder untereinander noch zu den Grundstücken der Parteien durch Zäune oder in anderer Weise eingefriedet waren. Auf dem Grundstück der Beklagten befindet sich ein Zierteich, den diese 1987 in ihrem Garten hinter dem Haus unmittelbar neben der Terrasse angelegt haben. Der mit Natursteinplatten eingefaßte ovale Zierteich ist ungefähr 2 m lang, 1,20 m breit und 0,40 m tief. Über ihn führt ein etwa 0,50 m breiter Steg aus quer liegenden Holzbohlen.
Am 25. September 1990 gelangte der damals 1 Jahr und 5 Monate alte Kläger vom Garten seiner Eltern unbemerkt auf das Grundstück der Beklagten und fiel dort in den Zierteich. Er wurde erst einige Zeit später bäuchlings mit dem Gesicht unterhalb der Wasseroberfläche liegend gefunden. Erzeigte nach dem Auffinden zunächst keine Lebenszeichen und befand sich längere Zeit im Koma. Er ist infolge des durch den Unfall verursachten Ausfalls von Hirnfunktionen in der Entwicklung hinter gleichaltrigen Kindern deutlich zurückgeblieben.
Der Kläger hat behauptet, seine Mutter habe ihn beim Spielen im Garten beaufsichtigt. Sie habe ihn höchstens 5 Minuten allein gelassen, um ein Kleidungsstück zu holen. Vor diesem Zeitpunkt habe er sich noch nie allein von dem elterlichen Grundstück entfernt.
Der Kläger verlangt von den Beklagten für die Zeit bis zum Eintritt der Rechtshängigkeit ein Schmerzensgeld von mindestens 5.000 DM und ab 24. April 1991 bis zur Vollendung des 10. Lebensjahres eine monatliche Rente für seine immateriellen Nachteile und für seine erhöhten Aufwendungen. Außerdem begehrt er, die Ersatzpflicht der Beklagten für die Zukunftsschäden festzustellen. Die Eltern des Klägers haben ebenfalls Schmerzensgeld sowie den Ersatz von Aufwendungen in Höhe von 3.290 DM verlangt.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht die Anträge des Klägers auf Zahlung von Schmerzensgeld und Rente dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt und die Pflicht der Beklagten zum Ersatz der künftigen materiellen Schäden festgestellt. Die Berufung der Eltern des Klägers hat es zurückgewiesen. Mit der Revision begehren die Beklagten die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils auch in bezug auf den Kläger.
Entscheidungsgründe
I.
Nach Auffassung des Berufungsgerichts haben die Beklagten bei Anlage und Unterhaltung des Zierteiches ihre Verkehrssicherungspflicht verletzt. Der Zierteich habe für Kleinkinder eine erhebliche Gefahr dargestellt, weshalb die Beklagten zu einer Absicherung verpflichtet gewesen seien. Die Notwendigkeit einer Sicherung sei für sie auch erkennbar gewesen, da sie den Kläger am Unfallmorgen im Garten seiner Eltern hätten spielen sehen und wegen des Fehlens von Einfriedungen damit hätten rechnen müssen, daß der Kläger vom Grundstück seiner Eltern durch, die nicht eingefriedeten Nachbargärten in ihren Garten gelangt und in den Zierteich fällt. Es entlaste die Beklagten nicht, daß der Kläger bei der gebotenen Beaufsichtigung durch seine Eltern nicht bis zu ihrem Grundstück hätte vordringen können und daß die Grundstücksgrenzen von Erwachsenen und Kindern bisher respektiert worden seien. Auf eine lückenlose Beaufsichtigung des Klägers hätten sie sich nicht verlassen können.
Ein Aufsichtsverschulden seiner Eltern brauche sich der Kläger nicht anrechnen zu lassen, da es an einem nach§ 254 Abs. 1, § 278 BGB vorausgesetzten, im Unfallzeitpunkt bereits bestehenden Schuldverhältnis fehle. Weder in dem nachbarschaftlichen Gemeinschaftsverhältnis noch in der von allen Nachbarn getroffenen Absprache, auf Einfriedung der Gärten zu verzichten, könne ein solches Schuldverhältnis erblickt werden.
II.
Diese Ausführungen halten einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Die Revision rügt zu Recht, daß das Berufungsgericht die Anforderungen an die Verkehrssicherungspflicht überspannt hat.
1. Zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, daß Teiche auf Privatgrundstücken – gleich welcher Art und Größe – für Kleinkinder eine erhebliche Gefahrenquelle darstellen. Das zeigen die in der Rechtsprechung behandelten. Fälle (vgl. Senatsurteil vom 16. Februar 1993 – VI ZR 29/92 – VersR 1993, 585; OLG Karlsruhe VersR 1989, 861; 1991, 785; OLG Oldenburg, Urteil vom 19. November 1993 – 6 U 155/93 – mit NA-Beschluß des Senats vom 21. Juni 1994 – VI ZR 355/93 – zur Veröffentlichung bestimmt; AG MarbachVersR 1988, 852).
2. Indessen muß – wie der Senat wiederholt ausgesprochen hat – nicht jeder abstrakten Gefahr durch vorbeugende Maßnahmen begegnet werden; eine absolute Sicherheit kann und muß nicht gewährleistet werden. Es bedarf nur solcher Sicherungsmaßnahmen, die ein verständiger und um sichtiger, in vernünftigen Grenzen vorsichtiger Mensch für ausreichend halten darf, um andere Personen vor Schäden zu bewahren, und die ihm den Umständen nach zumutbar sind (Senatsurteile vom 15. April 1975 – VI ZR 19/74 – VersR 1975, 812; vom 16. September 1975 – VI ZR 156/74 – VersR 1976, 149, 150;vom 6. März 1990 – VI ZR 246/89 – VersR 1990, 796, 797; vom 28. April 1992 – VI ZR 314/91 – VersR 1992, 844, 845 – jeweils mit weiteren Nachweisen).
Das gilt grundsätzlich auch für den Schutz von Kindern. Freilich ist bei ihnen in besonderem Maße auf diejenigen Gefahren Bedacht zu nehmen, die ihnen aufgrund ihrer Unerfahrenheit, ihres Leichtsinnes und Spieltriebes drohen. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats muß daher jeder Grundstückseigentümer wirksame und auf Dauer angelegte Schutzmaßnahmen ergreifen, um Kinder vor Unfällen als Folge ihrer Unerfahrenheit und Unbesonnenheit zu schützen, wenn ihm bekannt ist oder sein muß, daß sie sein Grundstück – befugt oder unbefugt – zum Spielen benutzen, und die Gefahr besteht, daß sie sich dort an gefährlichen Gegenständen zu schaffen machen und dabei Schaden erleiden können(Urteil vom 20. März 1973 – VI ZR 55/72 – VersR 1973, 621;vom 22. Oktober 1974 – VI ZR 149/73 – VersR 1975, 88, 89;vom 19. Februar 1991 – VI ZR, 171/90 – VersR 1991, 559; vom 28. April 1992 – a.a.O. S. 844).
Von diesen Grundsätzen geht auch das Berufungsgericht aus. Soweit es dabei jedoch zu der Auffassung gelangt, die Beklagten hätten die ihnen gegenüber dem Kläger obliegende Verkehrssicherungspflicht bei Anlage und Unterhaltung des Teiches verletzt, kann der Senat ihm nicht folgen.
Im Streitfall geht es um die Verkehrssicherungspflicht gegenüber Nachbarn, die auf eine Einfriedung ihrer Grundstücke zueinander ausdrücklich verzichtet haben. Diesem Umstand hat das Berufungsgericht nicht genügend Beachtung geschenkt.
Mit dem Verzicht auf eine Einfriedung haben die Beklagten sich zwar desjenigen Schutzes vor Gefahrenquellen begeben, der üblicherweise mit einer Einzäunung verbunden ist. Sie haben damit dem Kläger den Zugang zu den Gefahrenbereichen auf ihrem Grundstück erst möglich gemacht. Trotz fehlender Einfriedung bestand zwischen den Grundstückseigentümern aber stillschweigende Einigkeit darüber, daß die Grenzen, zu den Nachbargrundstücken zu achten sind; das Berufungsgericht stellt fest, daß die nur optisch durch Blumenbeete und Sträucher gekennzeichneten Grundstücksgrenzen von Erwachsenen und auch von Kindern stets respektiert worden seien; Kinder hätten ohne Einverständnis der betroffenen Nachbarn deren Gärten nicht, auch nicht zum Spielen, betreten. Darauf durften die Beklagten vertrauen.
Kleinkindern im Alter des Klägers fehlt allerdings noch die Einsicht in die Notwendigkeit der Respektierung von Grundstücksgrenzen. Es bestand daher, wie das Berufungsgericht mit Recht annimmt, die nicht ganz fernliegende Möglichkeit, daß der Kläger seinem Erkundungsdrang folgend die verhältnismäßig geringe Entfernung von 15 bis 20 Metern überwinden und bis zum Grundstück der Beklagten vordringen werde. Allein diese Möglichkeit verpflichtete die Beklagten jedoch nicht zu besonderen Sicherungsvorkehrungen am Zierteich in ihrem Garten. Denn sie konnten sich darauf verlassen, daß der Kläger von seinen Eltern oder anderen Personen hinreichend beaufsichtigt werden würde. Jedermann weiß, daß Kleinkinder ständiger Aufsicht bedürfen, damit sie sich nicht Gefahren in ihrer Umgebung aussetzen, die sie aufgrund ihrer Unerfahrenheit und Unbesonnenheit noch nicht erkennen und beherrschen können. Diese Gefahren sind für sie allgegenwärtig; sie können schon aus Gegebenheiten erwachsen, die für jeden anderen gänzlich ungefährlich sind.
Zur Abwehr dieser Gefahren ist zu allererst der Aufsichtspflichtige zuständig, weil ein umfassender Schutz für kleine Kinder nur durch ihre Beaufsichtigung gewährleistet ist.
Demgemäß konnten auch die Beklagten davon ausgehen, daß die Eltern des Klägers dieser Pflicht nachkommen und ihn vom Betreten ihres Grundstücks abhalten würden. Der Senat hat bereits in seinem Urteil vom 28. April 1992 a.a.O. S. 845 anerkannt, daß der Verkehrssicherungspflicht des Inhabers einer Pferdekoppel gegenüber Kindern Grenzen gesetzt sind: dieser muß sich in gewissem Umfange darauf verlassen können, daß die für ein Kind Verantwortlichen ein Mindestmaß an sorgfältiger Beaufsichtigung wahrnehmen. Das muß auch hier gelten, zumal die Eltern des Klägers von einer Einzäunung auch ihres Grundstücks abgesehen hatten und die Beklagten daher erwarten konnten, daß sie auch deswegen in erhöhtem Maße auf ihr Kind aufpassen würden. Das Vertrauen, das ein Grundstückseigentümer in die Wahrnehmung der Aufsichtspflicht durch die Eltern setzen kann, wirkt zurück auf seine Sicherungspflichten. Denn Art und Umfang der Verkehrssicherungspflichten bestimmen sich nicht nur nach der Intensität der Gefahr, sondern auch nach den Sicherungserwartungen des Verkehrs (Senatsurteil vom 11. Dezember 1984 – VI ZR 218/83 – VR 1985, 336, 337). Werden Gefahren für Kinder durch die gebotene Beaufsichtigung von dritter Seite gewissermaßen neutralisiert, so reduzieren sich entsprechend auch die Sicherungserwartungen an den Grundstückseigentümer, der auf eine solche Beaufsichtigung vertrauen darf.
Soweit das Berufungsgericht meint, die Beklagten hätten sich nicht auf eine lückenlose Beaufsichtigung des Klägers verlassen dürfen, überspannt es die den Beklagten als Grundstückseigentümern obliegenden Pflichten. Wird eine Beaufsichtigung von Kleinkindern im Alter des Klägers nicht lückenlos durchgeführt, dann handelt es sich grundsätzlich um ein Aufsichtsversagen der Eltern oder anderer mit der Beaufsichtigung betrauter Personen. Die bloße Möglichkeit eines solchen Versagens legt dem verkehrssicherungspflichtigen Grundstückseigentümer nicht schon die Pflicht auf, den Gefahren auch aus derartigen Aufsichtsversäummissen zubegegnen. Dazu besteht erst Anlaß, wenn der Eigentümer weiß oder wissen muß, daß Kinder sein Grundstück, zum Spielen zubenutzen pflegen, und damit konkrete Anhaltspunkte für eine Gefährdung bestehen. Im Regelfall muß er sich für die Sphäre seines Grundstücks – jedenfalls in Bezug auf Zierteiche wie hier – darauf verlassen können, daß Kleinkinder von den Aufsichtspflichtigen von einem Vordringen auf sein Grundstück abgehalten werden.
Schon deshalb rechtfertigt es der festgestellte Sachverhalt nicht, den Beklagten eine Verletzung ihrer Verkehrssicherungspflichten vorzuwerfen. Es bedarf daher keiner Prüfung, ob sich der Kläger ein Mitverschulden seiner Eltern beim Zustandekommen des Unfalls, was das Berufungsgericht verneint, anrechnen lassen muß.
III.
Das Berufungsurteil muß daher aufgehoben werden, soweit es zum Nachteil der Beklagten ergangen ist. Da der Rechtsstreit zur abschließenden Entscheidung reif ist, hat der Senat gemäß § 565 Abs. 3 Satz 1 ZPO in der Sache selbstentschieden und die Klage auch gegen den Kläger zu 1) abgewiesen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1, § 92Abs. 1, § 97 Abs. 1 ZPO.
Unterschriften
Dr. Steffen, Dr. Lepa, Bischoff, Dr. v. Gerlach, Dr. Dressler
Fundstellen
Haufe-Index 1760249 |
NJW 1994, 3348 |
Nachschlagewerk BGH |
AusR 1995, 25 |