Entscheidungsstichwort (Thema)
Kündigung eines Vertragswerkstattvertrags. Voraussetzungen einer Strukturkündigung
Leitsatz (redaktionell)
Die Kündigung eines Kfz-Händlervertrags wegen einer wesentlichen Umstrukturierung des Händlernetzes bedarf nicht der Darlegung, dass alle oder wenigstens nahezu alle bisherigen Standorte wegfallen oder verändert werden.
Normenkette
VO (EG) 1400/2002 Art. 3 Abs. 5b ii; VO (EG) 1475/95 Art. 85 Abs. 3
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des 19. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 18. Dezember 2008 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Rz. 1
Der Kläger betreibt ein Autohaus in E.. Nachdem er bis zum 30. September 2004 autorisierter Vertragshändler der Beklagten gewesen war, schloss er im September 2005 mit der Beklagten zum 1. Oktober 2005 einen Nissan-Vertragswerkstattvertrag (im Folgenden: Werkstattvertrag). Art. XVI Nr. 1 des Vertrages lautet:
„Dieser Vertrag kann von jeder Vertragspartei unter Einhaltung einer Frist von 24 Monaten zum Ende eines Kalendermonats per Einschreiben/Rückschein gekündigt werden. Eine von NISSAN ausgesprochene Kündigung muss eine ausführliche Begründung enthalten, die objektiv und transparent ist und darf nicht auf Verhaltensweisen der Vertragswerkstatt gestützt werden, die nach der Verordnung (EG) Nr. 1400/2002 nicht eingeschränkt werden dürfen. Die Verordnung ist als Anlage XI diesem Vertrag angefügt. Darüber hinaus gelten, insbesondere bezüglich der Kündigung, die Regelungen des nationalen Rechtes.
Abweichend davon ist es NISSAN gestattet, diesen Vertrag mit einer Frist von 12 Monaten zu beenden, unter der Voraussetzung, dass
- (…)
- sich für NISSAN die Notwendigkeit ergibt, das Vertriebsnetz insgesamt oder zu einem wesentlichen Teil umzustrukturieren.”
Rz. 2
Die Beklagte kündigte im Rahmen einer Netzkündigung, die sich auf sämtliche Vertragshändler- und Werkstattverträge erstreckte, mit Schreiben vom 11. Januar 2006 auch den Vertrag mit dem Kläger unter Berufung auf Art. XVI Nr. 1 Abs. 2 Buchst. b des Vertrages zum 31. Januar 2007. In dem Schreiben heißt es unter anderem:
„Das bestehende Vertriebsnetz entspricht weder den Bedürfnissen der regionalen Kaufgewohnheiten noch den Qualitätsanforderungen, die die potenziellen NISSAN-Kunden an einen modernen Kfz-Vertrieb stellen. Mit dem bisherigen Vertriebsnetz werden daher weder alle potenziellen NISSAN-Kunden in optimaler Weise erreicht noch werden unsere Produkte und Leistungsangebote in einem Umfeld präsentiert, das dem Ansehen der Marke NISSAN hinreichend gerecht wird.
Aufgrund der Ergebnisse intensiver Beobachtungen und Untersuchungen des Käuferverhaltens und der Kaufgewohnheiten in der Bundesrepublik Deutschland in den vergangen Jahren hat die RENAULT NISSAN DEUTSCHLAND AG ein völlig neu konzipiertes Händlernetz entwickelt.
Darüber hinaus ist beabsichtigt, die Qualität und die Professionalität nicht nur des Neufahrzeugvertriebs, sondern auch die der Serviceleistungen zu verbessern, um den Anforderungen an einen modernen Kfz-Vertrieb gerecht zu werden. Hierzu haben wir nach geographischen Gesichtspunkten unterschiedliche Qualitätskriterien für den Kfz-Vertrieb entwickelt.
Diese grundlegende Strukturänderung hat Auswirkungen nicht nur auf die NISSAN-Vertragshändler mit Verkaufsrecht für NISSAN-Neufahrzeuge, sondern auf alle Partner des NISSAN-Vertriebsnetzes, also auch die zugelassenen NISSAN-Servicebetriebe. Denn mit der beabsichtigten Neustrukturierung des gesamten Vertriebsnetzes ist u.a. auch eine Anhebung des Qualitätsniveaus für die Erbringung autorisierter Wartungs- und Instandsetzungsdienstleistungen für NISSAN-Fahrzeuge verbunden. Dementsprechend ist im Zuge der Umstrukturierung des Vertriebsnetzes ein neuer Händlervertrag entwickelt worden, der auch Änderungen der Regelungen für die Erbringung autorisierter Wartungs- und Instandsetzungsdienstleistungen für NISSAN-Fahrzeuge vorsieht.
Die vorstehend beschriebene vertriebspolitische Entscheidung erfordert zwingend eine vollständige Umstrukturierung des derzeit bestehenden Vertriebsnetzes. Vor diesem Hintergrund hat die RENAULT NISSAN DEUTSCHLAND AG alle bestehenden Vertragshändlerverträge, die sowohl den Vertrieb von neuen NISSAN-Fahrzeugen als auch die Erbringung von autorisierten Wartungs- und Instandsetzungsleistungen für NISSAN-Fahrzeuge regeln, zum 31. Januar 2007 gekündigt.
Um die notwendige Gleichbehandlung aller Partner im NISSAN-Vertriebsnetz, insbesondere auch mit den NISSAN-Händlern, die neben dem Neufahrzeugvertrieb auch autorisierte Wartungs- und Instandsetzungsdienstleistungen für NISSAN-Fahrzeuge erbringen, herzustellen, ist es erforderlich, die entsprechenden Regelungen auch gegenüber denjenigen Partnern der RENAULT NISSAN DEUTSCHLAND AG umzusetzen, die ausschließlich Wartungs- und Instandsetzungsdienstleistungen für NISSAN-Fahrzeuge erbringen.”
Rz. 3
Der Kläger hat mit seiner Klage die Feststellung der Unwirksamkeit der Kündigung sowie die Feststellung der Verpflichtung der Beklagten zur Fortführung des Vertragsverhältnisses über den 31. Januar 2007 hinaus und zum Ersatz des ihm infolge der Kündigung entstandenen Schadens begehrt. Die Beklagte hat Klageabweisung und hilfsweise die Feststellung der Beendigung des zwischen den Parteien geschlossenen Werkstattvertrags zum 31. Januar 2008 beantragt. Das Landgericht hat der Klage und der Hilfswiderklage stattgegeben. Das Oberlandesgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihr auf Klageabweisung gerichtetes Begehren weiter.
Entscheidungsgründe
Rz. 4
Die Revision hat Erfolg.
I.
Rz. 5
Das Berufungsgericht (OLG Köln, Urteil vom 18. Dezember 2008 – 19 U 33/08, juris) hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt:
Rz. 6
Die Kündigung vom 11. Januar 2006 habe das Vertragsverhältnis zwischen den Parteien nicht zum 31. Januar 2007, sondern erst zum 31. Januar 2008 beendet, da die Voraussetzungen für eine Kündigung des Werkstattvertrags mit einjähriger Kündigungsfrist nach Art. XVI Nr. 1 Abs. 2 Buchst. b (im Folgenden: Strukturkündigung) nicht dargetan seien.
Rz. 7
Das Sonderkündigungsrecht nach Art. XVI Nr. 1 Abs. 2 Buchst. b des Vertrags erfordere eine bedeutsame Änderung der Vertriebsstrukturen des Lieferanten sowohl in finanzieller als auch in räumlicher Hinsicht, die auf plausible Weise durch Gründe der wirtschaftlichen Effizienz gerechtfertigt sein müsse. Bei der Prüfung der Kündigungsvoraussetzungen für den vorliegenden Werkstattvertrag sei auf ein einheitliches Vertriebsnetz, bestehend aus Händlern und Werkstattbetrieben, abzustellen.
Rz. 8
Die nach dem Vortrag der Beklagten vorgesehene Abschaffung des zweistufigen Händlernetzes, die Schaffung regional unterschiedlicher Qualitätsstandards (Metro-, Urban- und Rural-Regionen) sowie die Reduzierung der Händlerstandorte stellten zwar objektiv durchaus eine Umstrukturierung des Vertriebsnetzes dar. Es sei jedoch nicht hinreichend dargelegt, dass diese Umstrukturierungsmaßnahmen in finanzieller und räumlicher Hinsicht bedeutsam seien.
Rz. 9
Der zur Darstellung einer in finanzieller Hinsicht bedeutsamen Änderung erfolgte Vortrag der Beklagten, dass sich bei einer zweijährigen Kündigungsfrist der Werteffekt der Strukturänderung um ca. 38 Mio. EUR schmälere und sich die Amortisationszeit auf mehr als vier Jahre verdoppele, sei unsubstantiiert. Die Bedeutsamkeit der Änderung in finanzieller Hinsicht könne sich auch nicht aus dem Umfang der mit der Kündigung verbundenen Abfindungs- und Ausgleichsansprüche nach § 89b HGB analog ergeben. Diese seien eine Begleiterscheinung der Kündigung, nicht aber das mit der Kündigung verfolgte Ziel und könnten deswegen nicht zur Rechtfertigung herangezogen werden.
Rz. 10
Auch eine in räumlicher Hinsicht bedeutsame Veränderung habe die Beklagte nicht dargetan. Die Bedeutsamkeit der Veränderung in räumlicher Hinsicht lasse sich nicht schon aus der Zahl der nach dem Vorbringen der Beklagten von einem Wegfall betroffenen Standorte herleiten, da von 638 Standorten lediglich 352 entfallen und 286 (darunter 63 von bisher 213 Sekundärhändlern) erhalten bleiben sollten. Sei danach ein nicht unwesentlicher Teil des Vertriebsnetzes von dem Wegfall von Standorten nicht betroffen, müssten für die Einstufung der Maßnahme als wesentliche Umstrukturierung sonstige bedeutsame Veränderungen geplant gewesen sein, von denen die verbleibenden Händler betroffen gewesen wären. Dies habe die Beklagte nicht nachvollziehbar dargelegt. Die von der Beklagten genannten räumlichen und qualitativen Aspekte der Umstrukturierung ließen daher weder für sich genommen noch in ihrer Gesamtheit erkennen, dass das gesamte Vetriebsnetz oder wenigstens ein wesentlicher Teil davon umstrukturiert worden sei.
Rz. 11
Die Beklagte habe darüber hinaus auch nicht dargetan, dass die Änderungen der Vertriebsstruktur plausibel durch Gründe der wirtschaftlichen Effizienz gerechtfertigt gewesen seien. Soweit die Beklagte sich darauf berufe, der geplanten Strukturänderung habe eine – hier nicht vorgelegte – Studie eines externen Beraters zugrunde gelegen, die zu dem Ergebnis gekommen sei, dass das Händlernetz für den Absatzrückgang ursächlich und eine schnelle Umstrukturierung erforderlich sei, vermöge dies für sich genommen die Kündigung mit verkürzter Frist nicht plausibel zu begründen.
Rz. 12
Die Beklagte sei daher verpflichtet, dem Kläger den Schaden zu ersetzen, der ihm wegen der zum 31. Januar 2007 ausgesprochenen und bis zum 31. Januar 2008 als unberechtigt anzusehenden Kündigung entstanden sei.
II.
Rz. 13
Diese Beurteilung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Nach dem revisionsrechtlich zugrunde zu legenden Sachvortrag der Beklagten kann die Wirksamkeit der zum 31. Januar 2007 ausgesprochenen Kündigung des zwischen den Parteien geschlossenen Werkstattvertrags nicht verneint werden. Damit entfällt auch die Grundlage für die vom Berufungsgericht ausgesprochene Feststellung einer Verpflichtung der Beklagten, dem Kläger den infolge der Kündigung entstandenen Schaden zu ersetzen.
Rz. 14
1. Das Berufungsgericht hat die Voraussetzungen einer Strukturkündigung nach Art. XVI Nr. 1 Abs. 2 Buchst. b des Werkstattvertrags verkannt und ist infolge dessen zu Unrecht davon ausgegangen, die Beklagte habe diese Voraussetzungen nicht hinreichend dargetan.
Rz. 15
a) Nach Art. XVI Nr. 1 Abs. 2 Buchst. b des Werkstattvertrags und der zugrunde liegenden Regelung des Art. 3 Abs. 5 Buchst. b ii der Verordnung (EG) 1400/2002 der Kommission vom 31. Juli 2002 über die Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 des Vertrags auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen im Kraftfahrzeugsektor (ABl. EG Nr. L 203 S. 30; im Folgenden: GVO 1400/2002) ist die Beklagte berechtigt, den Vertrag mit einer Kündigungsfrist von einem Jahr zu beenden, wenn sich für sie die Notwendigkeit ergibt, das Vertriebsnetz insgesamt oder zu einem wesentlichen Teil umzustrukturieren. Die Voraussetzungen, die an eine derartige Strukturkündigung zu stellen sind, sind durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (im Folgenden: Gerichtshof) zu Art. 5 Abs. 3 der Verordnung (EG) 1475/95 der Kommission vom 28. Juni 1995 über die Anwendung von Artikel 85 Absatz 3 des Vertrages auf Gruppen von Vertriebs- und Kundendienstvereinbarungen über Kraftfahrzeuge (ABl. EG Nr. L 145 S. 25; im Folgenden: GVO 1475/95) konkretisiert worden. Danach setzt das Bestehen der Notwendigkeit, das Vertriebsnetz insgesamt oder zu einem wesentlichen Teil umzugestalten, eine bedeutsame Änderung der Vertriebsstrukturen des betroffenen Lieferanten sowohl in finanzieller als auch in räumlicher Hinsicht voraus, die auf plausible Weise durch Gründe der wirtschaftlichen Effizienz gerechtfertigt sein muss. Es ist Sache der nationalen Gerichte, unter Berücksichtigung aller konkreten Gegebenheiten der Streitigkeit, mit der sie befasst sind, zu beurteilen, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind (EuGH, Slg. 2006, I-7637 Rn. 39 f. – Vulcan Silkeborg A/S. /. Skandinavisk Motor Co. A/S; Slg. 2006, I-11383 Rn. 33 f. – Brünsteiner GmbH u.a.. /. BMW). Zu Recht hat das Berufungsgericht angenommen, dass diese von dem Gerichtshof zu Art. 5 Abs. 3 der GVO 1475/95 entwickelten Grundsätze auch für die Auslegung des inhaltlich übereinstimmenden Art. 3 Abs. 5 Buchst. b ii der GVO 1400/2002 heranzuziehen sind (Senatsurteil vom 24. Juni 2009 – VIII ZR 150/08, BGHZ 181, 346 Rn. 22 mwN).
Rz. 16
b) Die Beurteilung, ob die Voraussetzungen einer Strukturkündigung nach Art. XVI Nr. 1 Abs. 2 Buchst. b des Werkstattvertrags gegeben sind, unterliegt nur eingeschränkter revisionsrechtlicher Nachprüfung, die sich darauf zu beschränken hat, ob das Berufungsgericht die rechtlichen Voraussetzungen einer solchen Kündigung verkannt hat, ob ihm von der Revision gerügte Verfahrensverstöße unterlaufen sind und ob es wesentliche Tatumstände übersehen oder nicht vollständig gewürdigt oder Erfahrungssätze verletzt hat (vgl. Senatsurteil vom 17. Januar 2001 – VIII ZR 186/99, NJW-RR 2001, 677 unter II 1; BGH, Urteil vom 29. März 1990 – I ZR 2/89, NJW 1990, 2889 unter I 2 b). Ein solcher Rechtsfehler liegt hier vor.
Rz. 17
c) Das Berufungsgericht hat die Anforderungen an eine Strukturkündigung verkannt. Nach dem mangels gegenteiliger Feststellungen des Berufungsgerichts revisionsrechtlich zugrunde zu legenden Vorbringen der Beklagten sind die Voraussetzungen einer Kündigung nach Art. XVI Nr. 1 Abs. 2 Buchst. b des Werkstattvertrages gegeben.
Rz. 18
aa) Das Berufungsgericht hat bei der Prüfung der Kündigungsvoraussetzungen für den vorliegenden Werkstattvertrag zu Recht auf ein einheitliches, aus Vertragshändlern und Vertragswerkstattbetrieben bestehendes Vertriebsnetz abgestellt. Dieser Ansatz wird im Revisionsverfahren auch nicht beanstandet.
Rz. 19
bb) Die Beklagte hat entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts eine in räumlicher und finanzieller Hinsicht bedeutsame Umstrukturierung ihres Vertriebsnetzes hinreichend dargetan.
Rz. 20
(1) Nach Maßgabe des auch vom Berufungsgericht zugrunde gelegten Beklagtenvorbringens ist die beabsichtigte Umstrukturierung in räumlicher Hinsicht bedeutsam. Die Beklagte hat vorgetragen, sie habe ihr Vertriebsnetz durch eine Unternehmensberatungsgesellschaft überprüfen lassen und sich aufgrund dieser Untersuchung für ein eingliedriges Vertriebssystem mit einer Reduzierung der Gesamtzahl der Standorte entschieden. Von den 638 bisherigen Standorten sollten lediglich 286 – weniger als die Hälfte – unverändert bestehen bleiben, während 352 der bisher für die Beklagte tätigen Primär- und Sekundärhändler durch 249 Unternehmen an neuen Standorten ersetzt werden sollten. Zugleich sollte das gesamte Sekundärhändlernetz abgeschafft werden. Geplant war demnach, Standorte innerhalb des gesamten Vertriebsnetzes in Deutschland zu einem nicht unerheblichen Teil zu verändern. Dies reicht entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts für eine in räumlicher Hinsicht bedeutsame Umstrukturierungsmaßnahme aus (Senatsurteil vom 24. Juni 2009 – VIII ZR 150/08, aaO Rn. 24). Es ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht erforderlich, dass alle oder nahezu alle bisherigen Standorte wegfallen oder verändert werden (Senatsurteil vom 24. Juni 2009 – VIII ZR 150/08, aaO). Unter diesen Umständen hängt die Einstufung der Maßnahme als in räumlicher Hinsicht bedeutsame Umstrukturierung nicht, wie das Berufungsgericht gemeint hat, zusätzlich davon ab, dass sonstige bedeutsame Veränderungen geplant gewesen sein müssten, von denen die verbleibenden Händler betroffen gewesen wären.
Rz. 21
(2) Die von der Beklagten geplante Umstrukturierung des Vertriebsnetzes ist auch in finanzieller Hinsicht als bedeutsam anzusehen. Es liegt auf der Hand, dass eine derart weitgehende Umstrukturierung des gesamten Vertriebsnetzes, wie sie die Beklagte nach ihrem Vortrag beabsichtigt und durchgeführt hat, auch in finanzieller Hinsicht bedeutsam ist (vgl. OLG Frankfurt, BB 2008, 1417, 1418; bestätigt durch Senatsurteil vom 24. Juni 2009 – VIII ZR 150/08, aaO Rn. 25). Dies ergibt sich schon daraus, dass die Vorbereitung und Durchführung einer solchen Umstrukturierung mit erheblichen Kosten verbunden ist, zu denen entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts auch die Abfindungs- und Ausgleichsansprüche einer Vielzahl von Händlern gehören, die infolge der das gesamte Vertriebsnetz umfassenden Kündigungen entstehen (Senatsurteil vom 24. Juni 2009 – VIII ZR 150/08, aaO). Es ist deshalb für die finanzielle Größenordnung der Umstrukturierung durchaus von Bedeutung, ob der Kraftfahrzeughersteller infolge der Umstrukturierung – wie hier – fast der Hälfte seiner bisherigen Vertragshändler ausgleichspflichtig ist. Neben den Kosten der Umstrukturierung ist auch der mit der Umstrukturierung erstrebte wirtschaftliche Vorteil zu berücksichtigen, der allerdings nicht exakt bemessen werden muss (Senatsurteil vom 24. Juni 2009 – VIII ZR 150/08, aaO). Er beläuft sich nach dem Vorbringen der Beklagten auf einen Betrag in zweistelliger Millionenhöhe. Denn die Beklagte hat vorgetragen, dass sich der Werteffekt der Strukturänderung bei einer zwei- statt einjährigen Kündigungsfrist um ca. 38 Mio. EUR schmälern würde.
Rz. 22
cc) Nach dem Beklagtenvorbringen ist auch die Notwendigkeit der Umstrukturierung auf plausible Weise durch Gründe der wirtschaftlichen Effizienz gerechtfertigt.
Rz. 23
(1) Im Rahmen eines Rechtsstreits über die Rechtmäßigkeit einer Strukturkündigung ist es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht Sache der nationalen Gerichte, die wirtschaftlichen und geschäftlichen Überlegungen, aufgrund deren ein Lieferant die Entscheidung getroffen hat, sein Vertriebsnetz umzustrukturieren, in Frage zu stellen. Andererseits kann die Notwendigkeit einer solchen Umstrukturierung – anders als die Revision meint – nicht der freien Beurteilung des Lieferanten unterliegen, sollen die Händler nicht jeden wirksamen gerichtlichen Schutz in dieser Frage verlieren. Unter Berücksichtigung sowohl des Zwecks als auch des Ausnahmecharakters der Vorschrift über die Strukturkündigung ist es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs daher erforderlich, aber auch ausreichend, dass die Notwendigkeit der Umstrukturierung auf plausible Weise gerechtfertigt werden kann mit Gründen der wirtschaftlichen Effizienz, die sich auf interne oder externe objektive Umstände des Unternehmens des Lieferanten stützen, welche ohne eine schnelle Umstrukturierung des Vertriebsnetzes in Anbetracht des Wettbewerbsumfelds, in dem der Lieferant agiert, die Effizienz der bestehenden Strukturen des Vertriebsnetzes beeinträchtigen können; mögliche wirtschaftlich nachteilige Folgen, die der Lieferant im Fall einer Kündigung der Vertriebsvereinbarung mit einer Frist von zwei Jahren erleiden könnte, sind in dieser Hinsicht erheblich (EuGH, Slg. 2006, I-7637 Rn. 35 ff.; Senatsurteil vom 24. Juni 2009 – VIII ZR 150/08, aaO Rn. 27).
Rz. 24
(2) Nach Maßgabe dieser Grundsätze hat die Beklagte die Notwendigkeit einer Umstrukturierung ihres Vertriebsnetzes entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts hinreichend dargelegt.
Rz. 25
Die Beklagte hat vorgetragen, dass sie bis zum Jahr 2004 einen dramatischen Einbruch der Verkaufszahlen erlitten habe und die Ursache für den starken Rückgang ihrer Marktanteile in der Struktur des zweistufigen Vertriebsnetzes – insbesondere in der finanziellen Schwäche vieler kleiner Händler und Werkstätten, die sich nicht mehr zeitgemäß präsentieren – gelegen habe. Es sei erforderlich gewesen, die Anzahl der Vertriebspartner zu reduzieren, das Sekundärhändlernetz abzuschaffen und durch eine Anhebung der Standards zu gewährleisten, dass die Vertragspartner der Beklagten größer und repräsentativer werden. Schon dieser revisionsrechtlich zu unterstellende Zusammenhang zwischen den erlittenen Markteinbußen und der Schwäche des Händlernetzes begründet ein anerkennenswertes Interesse der Beklagten daran, die Vertriebsstruktur möglichst kurzfristig zu ändern, um dem Rückgang der Marktanteile alsbald entgegenzuwirken (Senatsurteil vom 24. Juni 2009 – VIII ZR 150/08, aaO Rn. 28). Dieses berechtigte Interesse der Beklagten reicht aus, um die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs erforderliche Notwendigkeit der Umstrukturierung zu begründen und damit die Strukturkündigung zu rechtfertigen (Senatsurteil vom 24. Juni 2005 – VIII ZR 150/08, aaO Rn. 31). Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs (EuGH, Slg. 2006, I-7637 Rn. 26 ff.) sind für die Anwendbarkeit von Art. 3 Abs. 5 Buchst. b ii GVO 1400/2002 eine Darlegung und – was kaum je gelingen dürfte – ein Nachweis, dass die binnen Jahresfrist zu realisierende Umstrukturierung des Vertriebsnetzes die (einzig) gebotene Entscheidung des Herstellers war, um die Effizienz des Vertriebsnetzes zu erhalten, nicht erforderlich (Senatsurteil vom 24. Juni – VIII ZR 150/08, aaO).
Rz. 26
Es kommt deshalb entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts nicht darauf an, ob der Beklagten über das Schwinden ihrer Marktanteile hinaus weitere wirtschaftliche Nachteile drohten und sie substantiiert dargelegt hat, dass eine – bei einer Kündigung mit zweijähriger Frist – um ein Jahr verzögerte Umstrukturierung den angestrebten wirtschaftlichen Nutzen der Umstrukturierung um einen Betrag von etwa 38 Mio. EUR geschmälert hätte. Mögliche wirtschaftlich nachteilige Folgen, die der Lieferant im Fall einer Kündigung der Vertriebsvereinbarung mit einer Frist von zwei Jahren im Vergleich zur Strukturkündigung mit einjähriger Frist erleiden könnte, lassen sich nicht genau berechnen und ermitteln. Denn die Beurteilung der negativen Folgen einer unveränderten Fortführung des bisherigen Vertriebssystems beruht auf Prognosen, die sich nach erfolgter Umstrukturierung nicht mehr verifizieren lassen. Davon geht ersichtlich auch der Gerichtshof aus, wenn er auf lediglich mögliche – nicht sichere – Nachteile für den Lieferanten abstellt. Es kann daher nur verlangt werden, dass mögliche wirtschaftlich nachteilige Folgen einer um ein Jahr hinausgeschobenen Umstrukturierung plausibel dargelegt werden, nicht jedoch, dass die befürchteten wirtschaftlichen Nachteile – der Höhe nach – feststehen und bewiesen werden können. Das Berufungsgericht hat die in diesem Zusammenhang zu stellenden Anforderungen überspannt. Wenn der Beklagten im Fall der Fortführung des bisherigen Vertriebssystems über einen Zeitraum von einem weiteren Jahr voraussichtlich weiter sinkende Marktanteile drohten, so reicht dies aus, um einen möglichen wirtschaftlichen Nachteil im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs anzunehmen und eine Strukturkündigung zu rechtfertigen. Nicht erforderlich ist dafür ein konkreter Nachweis für die in einem Geldbetrag ausgedrückte Höhe dieser Nachteile (Senatsurteil vom 24. Juni 2009 – VIII ZR 150/08, aaO Rn. 32).
Rz. 27
2. Da auf der Grundlage des im Revisionsverfahren zugrunde zu legenden Sachverhalts nicht festgestellt werden kann, dass die von der Beklagten zum 31. Januar 2007 ausgesprochene Kündigung unwirksam war, kann auch die Feststellung einer aus einer unberechtigten Kündigung sich ableitenden Schadensersatzverpflichtung der Beklagten gegenüber dem Kläger nicht getroffen werden.
III.
Rz. 28
Nach alledem kann das angefochtene Urteil keinen Bestand haben; es ist daher aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Die Sache ist, da der Rechtsstreit nicht zur Endentscheidung reif ist, an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO), damit das Berufungsgericht die erforderlichen Feststellungen treffen kann, soweit entscheidungserhebliches Vorbringen der Beklagten vom Kläger bestritten worden ist.
Unterschriften
Ball, Dr. Frellesen, Dr. Milger, Dr. Hessel, Richter am Bundesgerichtshof Dr. Schneider ist arbeitsunfähig erkrankt und daher gehindert zu unterschreiben. Ball
Fundstellen
Haufe-Index 2659825 |
BB 2011, 84 |