Leitsatz (amtlich)
Zur Beurteilung der groben Fahrlässigkeit bei einem Verkehrsunfall im Ausland.
Normenkette
RVO § 640
Verfahrensgang
OLG München (Urteil vom 04.03.1977) |
LG München I |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des 10. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 4. März 1977 wird zurückgewiesen.
Die Kosten der Revision fallen der Klägerin zur Last.
Tatbestand
Der bei der Klägerin als Trägerin der gesetzlichen Unfallversicherung versicherte Arbeiter Wolfram Sch. erlitt bei einem Arbeitsunfall am 18. Juli 1973 tödliche Verletzungen. Er fuhr an diesem Tage als Beifahrer des Beklagten Sch. im Lastkraftwagen des gemeinsamen Arbeitgebers, eines in der Bundesrepublik Deutschland beheimateten Zirkusunternehmens, innerhalb des österreichischen Staatsgebietes von W. im Mu. in Richtung K., um in verschiedenen Ortschaften Werbeplakate anzubringen. Unterwegs geriet der Beklagte mit seinem Fahrzeug in einer mäßigen Linkskurve von der Fahrbahn nach rechts ab und kippte in den Straßengraben.
Die Klägerin hat für ihren dabei getöteten Versicherten bereits Sterbegeldkosten erstattet und dessen unehelichem Kind Rente gezahlt und muß auch in Zukunft solche leisten. Sie macht unter Berufung darauf, daß der Beklagte zum Unfallzeitpunkt unstreitig eine Blutalkoholkonzentration von 1,2 ‰ aufgewiesen hatte, grob fahrlässiges Verhalten i.S. von § 640 RVO geltend und verlangt von diesem die Erstattung ihrer Leistungen.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin ist erfolglos geblieben. Mit der (zugelassenen) Revision verfolgt diese ihr Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe
I.
Das Berufungsgericht vermag nicht auszuschließen, daß der Beklagte infolge eines entgegenkommenden, einen Lastkraftwagen überholenden Personenwagens zu einer Ausweichbewegung veranlaßt worden und deshalb in den Straßengraben geraten war; es sieht sich nicht in der Lage, die subjektiven Erfordernisse der groben Fahrlässigkeit zu bejahen. Hierzu führt es im wesentlichen aus:
1. Der in Österreich liegende Unfallort zwinge dazu, bei der Beurteilung der straßenverkehrsrechtlichen Fragen das dortige Recht anzuwenden. Dagegen sei für die Beurteilung der Voraussetzungen eines materiell-rechtlichen Schadensersatzanspruchs gemäß § 1 der Rechtsanwendungsverordnung vom 7.12.1942 das Deutsche Haftpflichtrecht maßgeblich, so daß auch der Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit danach beurteilt werden müsse.
2. Die Klägerin habe den ihr obliegenden Beweis dafür, daß der Beklagte auch in subjektiver Hinsicht in nicht entschuldbarem Umfang gegen seine Sorgfaltspflichten verstoßen habe, nicht erbracht. Der festgestellte Blutalkoholgehalt könne trotz der damals schon in Österreich geltenden Begrenzung der Fahrtüchtigkeit auf 0,8 ‰ kein zwingendes Indiz für grobe Fahrlässigkeit sein, weil das deutsche Recht erst von 1,3 ‰ an seinerzeit eine absolute Fahruntüchtigkeit angenommen habe.
Diese Erwägungen halten den Angriffen der Revision stand.
II.
1. Zutreffend beurteilt das Berufungsgericht den Klaganspruch nach deutschem Recht. Ob es dafür der Heranziehung von § 1 Abs. 1 der RechtsanwendungsVO vom 7. Dezember 1942 (RGBl I S. 706) bedurfte, mag dahinstehen. Der originäre Anspruch der Klägerin hat seine Wurzel in einer Vorschrift des deutschen Sozialversicherungsrechts (§ 640 RVO), so daß die Anwendbarkeit des in Art. 12 EGBGB stillschweigend vorausgesetzten Deliktsstatuts ohnehin nicht selbstverständlich ist.
2. Damit gelten die Grundsätze, die in der Rechtsprechung in weitgehender Übereinstimmung mit dem Schrifttum hinsichtlich der Voraussetzungen für die Annähme grob fahrlässigen Verhaltens entwickelt worden sind (vgl. BGHZ 10, 14; Senatsurteile vom 23. Juni 1964 – VI ZR 99/63 = VersR 1964, 1024, 1025; 11. Juli 1967 – VI ZR 14/66 = VersR 1967, 909, 910; 20. Juni 1972 – VI ZR 48/71 = VersR 1972, 944; 5. Februar 1974 – VI ZR 21/72 und 52/72 = VersR 1974, 569 und 1974, 593; 7. Mai 1974 – VI ZR 138/72 = VersR 1974, 853; 1. März 1977 – VI ZR 263/74 = VersR 1977, 619).
Danach aber ist für die Bestimmung des Begriffs der groben Fahrlässigkeit nicht ein ausschließlich objektiver, nur auf die für den Straßenverkehr am Unfallort und zur Unfallzeit geltenden Verkehrsregeln allgemeiner oder besonderer Art abgestellter Maßstab anzulegen; es müssen vielmehr auch diejenigen Umstände in die Wertung einbezogen werden, die die subjektive Seite der Verantwortlichkeit betreffen. Dies führt dazu, daß objektiv gleichschwere Pflichtverstöße verschiedener Personen wegen des verschiedenen Grades der personalen Vorwerfbarkeit zu unterschiedlichen Ergebnissen hinsichtlich der Frage der groben Fahrlässigkeit führen können.
Es kommt daher im Gegensatz zur Auffassung der Revision nicht entscheidend darauf an, daß nach österreichischem Verkehrsrecht zur Unfallzeit bereits ab einem Blutalkoholgehalt von 0,8 ‰ eine Beeinträchtigung der Fahrtüchtigkeit vermutet wurde und nach einem Urteil des österreichischen Obersten Gerichtshofs absolute Fahruntüchtigkeit anzunehmen war, wenn der Beklagte noch mit 1,2 ‰ seinen Kraftwagen steuerte. Daß daraus nicht in Anwendung der Grundsätze des Beweises des ersten Anscheins zu Lasten des Beklagten auch auf das Vorliegen der personalen Voraussetzungen der groben Fahrlässigkeit geschlossen werden darf, hat der Senat bereits mehrfach ausgesprochen (Urt. v. 5. Februar 1974 – VI ZR 52/72 – a.a.O. m.w.Nachw.). Um das Vorliegen grober Fahrlässigkeit feststellen zu können, kommt es in jedem Einzelfall auf die Überzeugungsbildung des Tatrichters an. Nur wenn dieser davon überzeugt ist, daß sich im konkreten Fall der Kraftfahrer über die Bedenken hinweggesetzt hat, die sich jedem in gleicher Lage aufdrängen mußten, ist er in der Lage, die Erfordernisse der groben Fahrlässigkeit als erfüllt anzusehen.
Gegen diese Grundsätze hat das Berufungsgericht nicht verstoßen. Es hat in möglicher Weise darauf abgestellt, daß der Beklagte schon wegen der seinerzeit in der Bundesrepublik Deutschland bei 1,3 ‰ angenommenen Grenze zwischen relativer und absoluter Fahruntüchtigkeit subjektiv nicht in besonders vorwerfbarem Maße selbst ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt oder beiseite geschoben habe. Selbst wenn der Beklagte, wie das an sich seine Pflicht war, gewußt haben sollte, daß in Österreich schon von einem Blutalkoholgehalt von 0,8 ‰ an Beeinträchtigung der Fahrtüchtigkeit vermutet wurde und das Führen von Kraftfahrzeugen für jeden verboten war, der diesen Alkoholwert überschritten hatte, so mag es für die damalige Zeit noch vertretbar erscheinen, bei einem Deutschen keine grobe Fahrlässigkeit anzunehmen. Es bleibt nämlich auch dann zu berücksichtigen, daß der Unterschied zur damals in Deutschland geltenden Regelung zumindest den Glauben des Beklagten an seine trotz Alkoholgenusses noch vorhandene, wenn auch vermutlich geminderte Fahrtüchtigkeit verständlich machen konnte; gegen die vom Oberlandesgericht gezogene Folgerung ist daher aus Rechtsgründen nichts einzuwenden.
Dieses Ergebnis wird in tatsächlicher Hinsicht noch dadurch gestützt, daß sich das Berufungsgericht nicht in der Lage sah, Feststellungen zur Verhaltensweise des Beklagten zu treffen, die – unabhängig vom festgestellten Blutalkoholwert – zwingend auf Fahruntüchtigkeit schließen lassen und zur Überzeugung führen könnten, daß dieser in vollem Bewußtsein seiner mangelnden Fahrfähigkeit den Lkw gesteuert hat.
Hält sich somit das Berufungsurteil im Rahmen der aufgezeigten Grundsätze, so ist im übrigen nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die konkrete Abwägung dem revisionsrechtlich nicht nachprüfbaren Ermessensspielraum des Tatrichters zuzurechnen.
III.
Die auf § 529 Abs. 2 ZPO a.F. gestützte Rüge der Revision, das Oberlandesgericht habe zu Unrecht das nach Schluß der mündlichen Verhandlung schriftsätzlich unterbreitete Beweisangebot zurückgewiesen, vermag nicht durchzudringen.
Eine Maßnahme nach § 272 b ZPO a.F. war mit Rücksicht auf den bereits anberaumten Verkündungstermin ausgeschlossen. Denn die erforderliche Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung (§ 156 ZPO) hätte zu einer Verzögerung des Rechtsstreits geführt, wie das Berufungsgericht ohne Rechtsirrtum annimmt.
Im übrigen hat das Oberlandesgericht in rechtlich nicht zu beanstandender Weise angenommen, daß das erst nach Schluß der mündlichen Verhandlung vorgebrachte Beweisangebot grob nachlässig nicht rechtzeitig dem Gericht unterbreitet wurde.
Der anwaltschaftlich vertretenen Klägerin mußte bewußt sein, daß bei der Beurteilung des Verschuldensgrades im Streitfall der subjektiven Seite eine besondere Bedeutung zukommt und daß es daher entscheidungserheblich sein konnte, die Vorstellung des Beklagten hinsichtlich der Auswirkungen eines vorausgegangenen Alkoholgenusses zu klären. Da sie aber diese Umstände nur durch den Antrag auf Parteivernehmung einer Klärung zuführen konnte, war ihr zuzumuten, jedenfalls spätestens mit der Berufungsbegründung das allein mögliche Beweisangebot zu unterbreiten und dem Gericht eine Maßnahme nach § 272 b ZPO a.F. zu ermöglichen.
Unterschriften
Dunz, Scheffen, Dr. Kullmann, Dr. Ankermann, Dr. Deinhardt
Fundstellen
Haufe-Index 1742396 |
Nachschlagewerk BGH |
IPRspr. 1978, 18 |