Entscheidungsstichwort (Thema)
Beurteilung des Verschuldensgrades bei einer alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit eines Pkw-Führers und einer alkoholtypischen Unfallfolge
Leitsatz (amtlich)
Setzt sich ein Kraftfahrer, der sich bewußt durch übermäßigen Alkoholgenuß in den Zustand absoluter Fahruntüchtigkeit versetzt hat, dennoch ans Steuer eines Kraftwagens, dann entfällt der Vorwurf grober Fahrlässigkeit nicht schon deshalb, weil sein Entschluß zu fahren durch die alkoholbedingte Enthemmung und Herabsetzung seiner Kritikfähigkeit begünstigt worden ist.
Normenkette
RVO § 640
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des 13. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 15. Mai 1972 wird zurückgewiesen.
Die Kosten der Revision fallen dem Beklagten zur Last.
Tatbestand
Der Beklagte ist Inhaber eines Bäckereigeschäfts, aus dem am Nachmittag des 11. Februar 1965 Brot ausgefahren werden sollte. Es war in Aussicht genommen, daß seine Ehefrau das Ausfahren übernehmen und mit einem fälligen Arztbesuch verbinden sollte. Der Beklagte selbst trank an diesem Tage erhebliche Mengen Alkohol, unter anderem zuhause fast zwei 1/2-Flaschen Rumverschnitt und in einer Gastwirtschaft auch noch alkoholische Getränke. Er wollte damit, wie er sich eingelassen hat, eine starke Erkältung bekämpfen.
Am Nachmittag fuhr der Beklagte - angeblich weil er seine Ehefrau im Hause nicht gefunden hatte - doch selbst mit dem von ihm mit Brot beladenen Kombiwagen weg. Beifahrer war sein im Betrieb aushelfender Schwager. Auf der Fahrt geriet er auf einer regenfeuchten, aber ordnungsmäßigen Asphaltstraße bei vollem Tageslicht in einer leichten, übersichtlichen Linkskurve nach rechts von der Fahrbahn ab und gegen einen Baum. Dabei wurde sein Beifahrer getötet. Der 55 Minuten nach dem Unfall erhobene Blutalkoholgehalt des Beklagten betrug 2,2 %o;.
Da der Unfall des Getöteten als Berufsunfall anerkannt ist, erbringt die klagende Berufsgenossenschaft Leistungen für die Hinterbliebenen. Sie macht gegen den Beklagten Rückgriffsansprüche gemäß § 640 RVO geltend.
Das Landgericht hat der Klage stattgegeben, das Oberlandesgericht die Berufung des Beklagten zurückgewiesen. Die Revision erstrebt weiterhin Klagabweisung.
Entscheidungsgründe
I.
1.
Das Berufungsgericht stellt fest, daß der Unfall auf der alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit des Beklagten beruhte. Es meint, angesichts der Verkehrslage, die ein nüchterner Kraftfahrer ohne weiteres hätte meistern können, spreche dafür schon der erste Anschein.
Hinweise auf einen atypischen Verlauf seien weder vorgetragen noch feststellbar.
Diese tatrichterliche Feststellung läßt keinen Rechtsfehler erkennen. Sie konnte sich überdies auf die Ausführungen des im Parallelprozeß (Klage der LVA) erhobenen medizinischen Gutachten stützen, wonach dem Unfall eine typisch alkoholbedingte Fehlverhaltensweise zugrundeliegt.
2.
Die Revision meint, damit habe sich das Berufungsgericht über den in der Rechtsprechung des erkennenden Senats ständig betonten Grundsatz hinweggesetzt, daß der Anwendung des Anscheinsbeweises bei Feststellung der groben Fahrlässigkeit Grenzen gezogen sind. Das hat das Berufungsgericht indessen nicht verkannt. Richtig geht es davon aus, daß sich dieser Grundsatz nur auf die Feststellung der subjektiven Seite der groben Fahrlässigkeit bezieht (vgl. etwa Senatsurteil vom 21. April 1970 - VI ZR 226/68 - LM RVO § 640 Nr. 4 = VersR 1970, 568 mit Hinw. auf die frühere Rspr.).
Darum geht es hier aber nicht; der personale Schuldvorwurf gegen den Kläger betrifft den Umstand, daß er in Kenntnis seiner Fahruntüchtigkeit ein Kraftfahrzeug in Betrieb genommen hat. Für die weitere Feststellung, daß dieses vorwerfbare Verhalten für den eingetretenen Schaden ursächlich geworden ist, gelten die allgemeinen Beweisgrundsätze. Auch die Regeln des Anscheinsbeweises durften hier angewandt werden.
II.
Steht demnach fest, daß der Beklagte den Unfall durch seine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit verursacht hat, dann hängt die Entscheidung nur davon ab, ob das Berufungsgericht sein Verhalten ohne Rechtsirrtum als grobe Fahrlässigkeit eingestuft hat.
Die tatrichterliche Feststellung grober Fahrlässigkeit kann nach ständiger Rechtsprechung vom Revisionsgericht nur darauf nachgeprüft werden, ob das Berufungsgericht deren Rechtsbegriff verkannt oder Beweisgrundsätze verletzt hat. Dies trifft nicht zu.
Daß der Beklagte, indem er sich im Zustande absoluter Fahruntüchtigkeit ans Steuer gesetzt hat, objektiv gegen die Grundsätze der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt gröblich verstieß, ist offensichtlich und außer Streit. Das Berufungsgericht verkennt auch nicht, daß daneben die strengen Voraussetzungen für die subjektive (personale) Seite der groben Fahrlässigkeit festgestellt werden müssen. Auch sie bejaht es indessen im Ergebnis ohne Rechtsirrtum.
1.
Der Beklagte hat - aufgrund von über die einzelnen Verfahren hin wechselnden Darstellungen über den Zeitpunkt seines Alkoholkonsums - behauptet, er habe sich bei Fahrtantritt im Vollrausch befunden, und hat sich dabei vor allem darauf berufen, daß er im Strafverfahren in Ermangelung eines Beweises für das Gegenteil nicht wegen fahrlässiger Tötung, sondern wegen fahrlässiger Volltrunkenheit verurteilt worden ist.
Dem ist das Berufungsgericht nicht gefolgt.
a)
Es geht zunächst davon aus, der Beklagte trage die Beweislast dafür, daß er bei Antritt der Fahrt (voll) unzurechnungsfähig war. Einen solchen Beweis sieht es nicht als erbracht an, was auch die Revision nicht in Zweifel zieht.
Gegen die vom Berufungsgericht für richtig gehaltene Beweislastverteilung könnten allerdings Bedenken bestehen. Nach § 827 BGB trägt zwar der Schädiger die Beweislast dafür, daß seine Verantwortlichkeit durch Störung der Geistestätigkeit überhaupt ausgeschlossen ist (der Begriff der verminderten Zurechnungsfähigkeit ist dem Zivilrecht fremd - BGH Urt. v. 15. November 1966 - II ZR 156/64 = VersR 1967, 125, 126). Die Anwendung dieses Grundsatzes auf die im Rahmen des § 640 RVO wichtige Frage, in welchem Grade eine bestehende Störung die subjektive Vorwerfbarkeit der Tat beeinflußt, dürfte jedenfalls nicht dazu führen, daß dem Rückgriffsgläubiger seine Beweislast für die Voraussetzungen des Anspruchs, nämlich der Nachweis grober Fahrlässigkeit, abgenommen wird.
b)
Der Senat muß diese Frage hier nicht abschließend entscheiden. Denn das Berufungsgericht hat sich aufgrund des erwähnten Gutachtens ausdrücklich davon überzeugt, daß sich der Beklagte bei Fahrtantritt nicht in einem Zustand voller Unzurechnungsfähigkeit befunden hat. Damit kann die Frage der Beweislast in diesem Zusammenhang dahinstehen.
Die Revision meint zu Unrecht, daß das Berufungsgericht aufgrund des Gutachtens zu dieser Feststellung nicht habe kommen dürfen. Allerdings geht das Gutachten von der damaligen Darstellung des Beklagten aus, wonach er den größten Teil des Alkohols erst kurz vor der Fahrt zu sich genommen und sich deshalb noch in der Resorptionsphase befunden habe. Von dieser Darstellung ist aber der Beklagte schon im Parallelprozeß unter dem Eindruck des Gutachtens abgegangen; auch für das gegenwärtige Verfahren muß von dieser geänderten Einlassung ausgegangen werden. Damit ist revisionsmäßig zu unterstellen, daß der Beklagte auch im Zeitpunkt des Fahrtbeginns einen Blutalkoholspiegel aufwies, der von dem nach dem Unfall festgestellten jedenfalls nicht allzusehr abwich.
Ob das Berufungsgericht nur der Kürze wegen diese Erwägung nicht näher ausgeführt hat, kann dahinstehen. Der Senat vermag selbst zu entscheiden, daß ein Blutalkoholgehalt in der Größenordnung von 2,2 %o; sei einem eher korpulenten Gewohnheitstrinker (als Letzteres bezeichnet sich der Beklagte selbst) nach der Lebenserfahrung keine Volltrunkenheit zu verursachen pflegt. Daß hier Umstände vorlagen, die eine Ausnahme von diesem Erfahrungssatz rechtfertigen könnten, ist fehlerfrei im angefochtenen Urteil in Verbindung mit dem in Bezug genommenen Gutachten verneint. An beiden Stellen findet sich der überzeugende Hinweis auf die Tatsache, daß sich der Beklagte vor Fahrtantritt noch seiner eigenen Fahrunfähigkeit bewußt war: er trägt selbst vor, er habe sich zur Fahrt nur entschlossen, weil er seine Ehefrau nicht habe auffinden können.
Damit erweist sich der Angriff der Revision gegen die tatsächliche Feststellung des Berufungsgerichts im Ergebnis nicht als durchgreifend. Von einer ausführlicheren Begründung sieht der Senat ab (Art. 1 Nr. 4 BGHEntlG).
2.
Die Revision kann aber auch keinen Erfolg haben, soweit sie meint, das Berufungsgericht habe im Rahmen seiner tatrichterlichen Würdigung das Verschulden des Beklagten jedenfalls nicht als grobes werten dürfen.
Das Berufungsgericht hat nicht verkannt, daß nach dem Gutachten (und übrigens auch nach der Lebenserfahrung) beim Beklagten für den Zeitpunkt des Fahrtantritts eine erhebliche Beeinträchtigung seiner Geistestätigkeit im Sinne einer Enthemmung und Herabsetzung der Kritikfähigkeit angenommen werden muß. Dadurch wurde es aber an der Feststellung grober Fahrlässigkeit rechtlich nicht gehindert. Der erkennende Senat hat schon in seinem Urteil vom 30. November 1971 (VI ZR 100/70 - NJW 1972, 475, 476 = VersR 1972, 277) erklärt, daß, wer sich in durch Alkoholgenuß absolut fahruntüchtigem Zustand ans Steuer setzt, in der Regel grob fahrlässig handelt. Daß dieser Grundsatz Ausnahmen zuläßt, hat der Senat allerdings gerade in dem dort entschiedenen Fall bestätigt. Der jetzt vorliegende Sachverhalt ergibt aber nichts, was eine solche Ausnahme rechtfertigen könnte.
a)
Das Führen eines Kraftfahrzeugs nach Genuß von Alkohol in einer Menge, die die Fahrtüchtigkeit mit Sicherheit ausschließt, gehört zu den schwersten Verkehrsverstoßen überhaupt. Für jeden Kraftfahrer ist es offenkundig, daß er dies unbedingt vermeiden muß; die Vermeidung ist auch - mindestens im Normalfall - mit Sicherheit möglich.
Um einen solchen Normalfall handelt es sich hier. Die Revision irrt, wenn sie meint, daß die Enthemmung und Kritikschwäche, die bei Fahrtantritt im Zustand der auf dem Genuß alkoholischer Getränke beruhenden absoluten Fahruntüchtigkeit allerdings stets gegeben ist, für sich allein eine andere Beurteilung erlaube. Wollte man ihr folgen, dann könnte gerade diese vielleicht schwerste Pflichtwidrigkeit des Kraftfahrers nie als grobe Fahrlässigkeit gewertet werden, eine Wertung, die ihr indessen regelmäßig zukommen wird. Die Möglichkeiten, einen solchen gefährlichen Verkehrsverstoß zu vermeiden, sind mehrstufig. Auch wenn der Kraftfahrer schon bei Trinkbeginn entschlossen ist, auf die anschließende Benutzung seines Fahrzeugs zu verzichten (das ist im Falle des Beklagten für das Revisionsgericht bindend festgestellt), muß er sich fortlaufend der allgemein bekannten Tatsache bewußt bleiben, daß die zunehmende Wirkung des Alkohols gerade diesen Entschluß gefährden kann. Der beginnenden Enthemmung hat er ständig durch verstärkte Anspannung seiner restlichen Kritikfähigkeit entgegenzuwirken und sich erforderlichenfalls noch rechtzeitig durch geeignete Maßnahmen selbst der Verfügung über das Fahrzeug zu begeben. Ist er schon von Anfang an zum Genuß von Alkohol in schwer berauschenden Mengen entschlossen, etwa weil er dies, wie hier der Kläger, für heilkräftig hält, dann sind solche Maßnahmen regelmäßig schon vor Trinkbeginn erforderlich, jedenfalls wenn das Aufkommen der nachträglichen Versuchung, das Fahrzeug doch und dann in fahruntüchtigem Zustand zu benutzen, nach den Gesamtumständen nicht ferne liegt.
Versäumt ein Kraftfahrer diese Möglichkeiten, sein objektiv gröblich verkehrswidriges Verhalten zu vermeiden, dann darf ihm in der Regel das Urteil der groben Fahrlässigkeit nicht erpart bleiben. Er könnte andernfalls diesen Vorwurf dadurch umgehen, daß er sein Versagen im Einzelfall rechtlich auf die verschiedenen Verantwortungsstufen in einer ihm günstigen Weise aufteilt. Das kann nicht rechtens sein.
b)
Der vorliegende Fall rechtfertigt keine Ausnahme. Der Beklagte hat aus von ihm für richtig gehaltenen therapeutischen Erwägungen vorsätzlich eine Alkoholmenge zu sich genommen, die zur absoluten Fahruntüchtigkeit führen mußte. Dies tat er, ohne pflichtgemäß Vorsorge dafür zu treffen, daß er gegebenenfalls nicht mehr in der Lage sein würde, das Fahrzeug, das aus geschäftlichen Gründen an diesem Tag noch benötigt wurde, schließlich doch selbst zu benutzen (was etwa durch Übergabe der Schlüssel an seine Ehefrau möglich gewesen wäre). Schließlich hat er sich bei Fahrtantritt über die ihm nach der bindenden Feststellung des Berufungsgerichts bewußt gewordenen Erkenntnis hinweggesetzt, daß er nach Genuß einer ihm genau übersehbaren, seine Fahrtüchtigkeit sicher ausschließenden Alkoholmenge eine Fahrt am Steuer seines Kraftfahrzeugs nicht mehr antreten durfte. Betrachtet man diesen Verlauf in seiner Gesamtheit, dann ist nichts ersichtlich, was das Berufungsgericht an der Feststellung der groben Fahrlässigkeit rechtlich hätte hindern können. Es erscheint im Gegenteil zweifelhaft, ob eine andere Bewertung des Verschuldens rechtlichen Bestand hätte haben können.
Unterschriften
Dr. Weber
Sonnabend
Dunz
Scheffen
Dr. Steffen
Fundstellen
Haufe-Index 1456126 |
NJW 1974, 1377 |