Leitsatz (amtlich)
›Grobe Fahrlässigkeit setzt auch in subjektiver Hinsicht ein gegenüber einfacher Fahrlässigkeit gesteigertes Verschulden voraus.
Die entsprechende Anwendung von § 827 BGB enthebt den Versicherer nicht der ihm nach § 61 VVG obliegenden Beweislast auch für die subjektiven Voraussetzungen grober Fahrlässigkeit.‹
Verfahrensgang
OLG Frankfurt am Main |
LG Darmstadt |
Tatbestand
Die Klägerin ist Halterin eines Pkw Mercedes 350 SLC, der bei der Beklagten kaskoversichert ist. Mit diesem Pkw verursachte der damals fast 69 Jahre alte Inhaber der Klägerin am 27. Juni 1980 gegen 13.30 Uhr in F. einen Verkehrsunfall. Er hatte sich am Vortage einer zahnärztlichen Behandlung unterzogen. Dabei waren ihm mehrere Spritzen verabreicht worden. Er verbrachte die Nacht deshalb unruhig und nahm am 27. Juni gegen 1.00 Uhr eine Schlaftablette "Phanodorm". Am Morgen fühlte er sich so schlecht, daß er zunächst nicht aufstehen konnte, obgleich er zu einer dringenden geschäftlichen Besprechung mit seinem Pkw nach F. fahren wollte. Gegen 10.00 Uhr verließ er das Bett, mußte sich aber sofort wieder in einen Sessel setzen, weil ihn erneutes Unwohlsein befiel. Im Laufe des Vormittags nahm er dann weitere Medikamente ein. Als gegen 12.15 Uhr noch keine wesentliche Besserung eingetreten war, trank er zwei Gläser Portwein zu je 100 cmü, um seinen Kreislauf anzuregen. Bald darauf fühlte er sich besser und trat mit seinem Pkw die Fahrt zu der geschäftlichen Besprechung nach F. an. Unterwegs befiel ihn erneute Übelkeit und Unwohlsein. Er hielt deshalb in einer Straße in F. in einer Parkbucht an und öffnete das Wagenfenster, um frische Luft einzulassen. Nach knapp einer Stunde fühlte er sich besser und setzte seine Fahrt fort. Dabei stieß er kurz hintereinander gegen zwei ordnungsgemäß auf der rechten Straßenseite geparkte Fahrzeuge. Bei Fahrtantritt hatte der Inhaber der Klägerin eine Blutalkoholkonzentration zwischen 0,7 und 0,9%o, zur Zeit des Unfalls von 0,5 %o.
Die Klägerin hat für die Reparatur ihres Fahrzeuges 7.121,09 DM aufgewendet. Die Beklagte hat die Erstattung dieses Betrages verweigert, weil der Inhaber der Klägerin den Versicherungsfall grob fahrlässig herbeigeführt habe. Dagegen hat die Klägerin eingewendet, ihr Inhaber sei wegen der kumulativen Wirkung einer Cerebral-Sklerose, der damit zusammenhängenden Hirndurchblutungsstörung sowie der Alkohol- und Tabletteneinnahme beim Ausfahren aus der Parkbucht zurechnungsunfähig gewesen.
Die Klage auf Verurteilung zur Zahlung von 7.121,09 DM nebst Zinsen haben Landgericht und Oberlandesgericht abgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision hat im Ergebnis keinen Erfolg.
Das Berufungsgericht konnte sich - sachverständig beraten - nicht davon überzeugen, daß der Inhaber der Klägerin bei Antritt der Fahrt in O. sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befunden habe und damit unzurechnungsfähig im Sinne des § 827 BGB gewesen sei. Zwar lasse sich für diesen Zeitpunkt eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit nicht ausschließen, sie sei sogar zu einem hohen Grad wahrscheinlich; es verblieben jedoch Zweifel, die einer Feststellung der Zurechnungsunfähigkeit entgegenstünden. Andererseits sieht es der Berufungsrichter als erwiesen an, daß der Inhaber der Klägerin bei Antritt der Fahrt absolut fahruntauglich war. Aus der Fahruntüchtigkeit könne indessen nicht auf die Zurechnungsunfähigkeit geschlossen werden; die beiden Rechtsbegriffe unterschieden sich in ihren Voraussetzungen grundlegend voneinander. Diese Ausführungen werden von der Revision nicht angegriffen. Sie lassen auch keinen Rechtsfehler erkennen.
Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt davon ab, ob der Inhaber der Klägerin den Versicherungsfall durch grobe Fahrlässigkeit herbeigeführt hat. In diesem Falle ist die Beklagte nach § 61 VVG von der Verpflichtung zur Leistung frei. Das bejaht das Berufungsgericht. Es wendet dabei § 827 BGB entsprechend an und hält die Klägerin für beweispflichtig dafür, daß die Verantwortlichkeit ihres Inhabers durch Störung der Geistestätigkeit überhaupt ausgeschlossen gewesen sei. Abgesehen davon habe der Inhaber der Klägerin bei Fahrtantritt grob fahrlässig gehandelt. Objektiv habe er in besonders schwerwiegender Weise gegen die Anforderungen der im Straßenverkehr erforderlichen Sorgfalt verstoßen, indem er sich entschlossen habe, sein Kraftfahrzeug im öffentlichen Straßenverkehr zu führen, obwohl er zu diesem Zeitpunkt fahruntauglich gewesen sei. Er habe damit nicht beachtet, was jedem unter den gegebenen Umständen habe einleuchten müssen. Aber auch subjektiv treffe ihn ein besonders hohes Maß an Verschulden. Ihm seien als Apotheker in besonderem Maße die negativen Folgen des Zusammenwirkens seines relativ hohen Alters, seiner schlechten körperlichen Verfassung verbunden mit der Einnahme von Medikamenten und Alkoholgenuß bekannt gewesen. Diese Verhalten sei objektiv nicht entschuldbar. Dabei müsse eine verminderte Zurechnungsfähigkeit unberücksichtigt bleiben; denn es entspreche höchstrichterlicher Rechtsprechung, daß auch bei verminderter Zurechnungsfähigkeit sogar ein vorsätzliches Handeln und damit erst recht auch ein grob fahrlässiges Handeln möglich sei. Selbst wenn aber die Durchblutungsstörungen im Gehirn eine Minderung der Einsichts- und Kritikfähigkeit zur Folge gehabt hätten, so hätte der Inhaber der Klägerin durch verstärkte Anspannung seiner restlichen Kritikfähigkeit Vorkehrungen dagegen treffen müssen, sich durch Alkoholgenuß in den Zustand absoluter Fahruntauglichkeit zu versetzen und in diesem Zustand die Fahrt mit dem Pkw anzutreten. Die Möglichkeit, daß er ein Kraftfahrzeug führen werde, habe nicht ferngelegen, weil er schon am Morgen des Unfalltages vorgehabt habe, zu einer geschäftlichen Besprechung nach Frankfurt zu fahren und weil er dies Vorhaben nicht aufgegeben habe.
Das hält jedenfalls im Ergebnis der rechtlichen Nachprüfung stand. Die tatrichterliche Feststellung grober Fahrlässigkeit kann nach ständiger Rechtsprechung vom Revisionsgericht nur darauf nachgeprüft werden, ob das Berufungsgericht den Rechtsbegriff verkannt oder Beweisgrundsätze verletzt hat. Das ist nicht der Fall. Daß der Inhaber der Klägerin, in dem er sich im Zustande absoluter Fahruntüchtigkeit ans Steuer setzte, objektiv gegen die Grundsätze der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt gröblich verstieß, bedarf keiner näheren Begründung und wird von der Revision auch nicht in Zweifel gezogen. Das Berufungsgericht verkennt auch nicht, daß daneben die strengen Voraussetzungen für die subjektive (personale) Seite der groben Fahrlässigkeit festgestellt werden müssen. Auch sie bejaht es indessen im Ergebnis ohne Rechtsirrtum.
Allerdings begegnet es Bedenken, daß der Tatrichter bei der Prüfung der subjektiven Seite der groben Fahrlässigkeit die Frage zur Zurechnungsfähigkeit völlig ausklammert. Es entspricht zwar allgemeiner Meinung, daß § 827 BGB im Rahmen des § 61 VVG entsprechend anzuwenden ist (BGB-RGRK/Steffen, 12. Aufl. § 827 Rdn. 2; MünchKomm/Mertens, § 827 Rdn. 8; Bruck/Möller, VVG 8. Aufl. § 61 Anm. 41; Prölss/Martin, VVG 23. Aufl. § 61 Anm. 4; vgl. auch BGH Urteil vom 6. Juli 1967 - II ZR 16/65 = VersR 1967, 944). Nach § 827 BGB trägt der Schädiger die Beweislast dafür, daß seine Verantwortlichkeit durch Störung der Geistestätigkeit ausgeschlossen ist. Damit ist jedoch nicht gesagt, daß bei einer entsprechenden Anwendung der Vorschrift der Versicherer der ihm nach § 61 VVG obliegenden Beweislast auch für die subjektiven Voraussetzungen grober Fahrlässigkeit enthoben wäre (siehe für den vergleichbaren Fall des § 640 RVO: BGH Urteil vom 7. Mai 1974 - VI ZR 138/72 = NJW 1974, 1377 = LM RVO § 640 Nr. 13 = VersR 1974, 853). Die Annahme grober Fahrlässigkeit setzt auf der subjektiven Seite voraus, daß die im Verkehr erforderliche Sorgfalt durch ein auch subjektiv unentschuldbares Verhalten in hohem Maße außer Acht gelassen worden ist (BGH-RGRK/Alff, 12. Aufl. § 277 Rdn. 4; BGH Urteile vom 11. Juli 1967 - VI ZR 14/66 = VersR 1967, 909; vom 19. Dezember 1979 - IV ZR 91/78 = NJW 1980, 887, 888 und ständig). Dabei ist auch in subjektiver Hinsicht ein gegenüber einfacher Fahrlässigkeit gesteigertes Verschulden nötig. Dafür ist eine Würdigung aller Umstände des Einzelfalles unerläßlich. Deshalb kann eine etwa erheblich verminderte Einsichts- und Hemmungsfähigkeit nicht außer Betracht bleiben. Daß nach feststehender Rechtsprechung (RGZ 108, 86; BGH Urteile vom 5. Juli 1965 - II ZR 192/63 = VersR 1965, 949, 950; vom 25. April 1966 - II ZR 148/64 = VersR 1966, 579 und vom 17. November 1966 - II ZR 156/64 = VersR 1967, 125, 126) vorsätzliches Handeln bis zum Erreichen des Zustandes des Ausschlusses der freien Willensbestimmung möglich ist, steht dem entgegen der Annahme des Berufungsrichters nicht entgegen. Denn anders als beim Vorsatz ist beim zivilrechtlichen Begriff der groben Fahrlässigkeit der Grad der subjektiven Vorwerfbarkeit von Bedeutung. Wollte man eine verminderte Zurechnungsfähigkeit bei der groben Fahrlässigkeit mit dem Berufungsgericht außer Betracht lassen, so erhielte die in § 827 Satz 1 BGB enthaltene Beweisregel einen Anwendungsbereich, der weit über ihren Wortlaut hinausginge. Das aber wäre mit dem Sinn der Regel nicht zu vereinbaren (BGHZ 39, 103, 108). Inwieweit für eine Anwendung der Beweisregel des § 827 Abs. 1 BGB im Rahmen des § 61 VVG bei Vorsatz Raum bleibt, bedarf hier keiner Entscheidung.
Die weiteren Feststellungen des Tatrichters tragen indessen seine Annahme grober Fahrlässigkeit auch auf der subjektiven Seite. Das Führen eines Kraftfahrzeuges in alkoholbedingt fahruntüchtigem Zustand gehört zu den schwersten Verkehrsverstößen überhaupt. Wer sich in absolut fahruntüchtigem Zustand an das Steuer eines Kraftfahrzeuges setzt, handelt grundsätzlich grob fahrlässig (BGB/RGRK Steffen, § 827 Rdn. 11; BGH Urteil vom 30. November 1971 - VI ZR 100/70 = NJW 1972, 475; Urteil vom 7. Mai 1974 aaO). Eine mildere Beurteilung auf der subjektiven Seite kommt hier nur wegen einer möglicherweise stark eingeschränkten Zurechnungsfähigkeit des Inhabers der Beklagten in Frage. Seine Zurechnungsfähigkeit war nach den Feststellungen des Tatrichters bei Antritt der Fahrt in Offenbach möglicherweise stark eingeschränkt oder gar aufgehoben. Das gilt jedoch nicht für die Zeit davor. Der Tatrichter stellt an anderer Stelle (Bl. 9 BU) fest, daß die cerebralen Durchblutungsstörungen allein nicht zu einem Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit geführt haben. Es mußten also der Tabletten- und Alkoholgenuß hinzukommen, damit möglicherweise eine Zurechnungsunfähigkeit eintrat. Daraus folgt, daß der Inhaber der Klägerin vor dem Tabletten- und Alkoholgenuß nicht zurechnungsfähig war. Davon geht auch der Tatrichter bei seiner Hilfserwägung Bl. 11 BU ersichtlich aus. Zu Recht setzt er dort mit dem Schuldvorwurf zu einer Zeit an, als der Inhaber der Klägerin noch nicht absolut fahruntauglich und möglicherweise zurechnungsunfähig war und fordert von ihm, er hätte Vorkehrungen dagegen treffen müssen, daß er nicht später die geplante Fahrt nach F. in fahruntauglichem Zustand antreten werde. Daß der Tatrichter dieses Unterlassen angesichts der Kenntnisse eines Apothekers vom Zusammenwirken der verschiedenen Faktoren auf seine Fahruntauglichkeit trotz seiner möglicherweise geminderten Einsichts- und Hemmungsfähigkeit für nicht entschuldbar hält, ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Da somit der Inhaber der Klägerin den Versicherungsfall durch grobe Fahrlässigkeit herbeigeführt hat, hat die Beklagte zu Recht die Leistung verweigert.
Fundstellen
Haufe-Index 2992768 |
NJW 1985, 2648 |
DRsp II(228)133c |
DAR 1985, 222 |
JZ 1985, 499 |
MDR 1985, 557 |
VRS 68, 424 |
VersR 1985, 440 |
ZfS 1985, 217 |
DRsp-ROM Nr. 1994/4455 |
DRsp-ROM Nr. 1994/4456 |