Entscheidungsstichwort (Thema)

Klage auf Schadensersatz wegen Verursachung eines Verkehrsunfalls

 

Leitsatz (amtlich)

Anforderungen an die Feststellung der subjektiven (personalen) Momente der groben Fahrlässigkeit;

hier: plötzliches Ausspuren eines Kraftfahrers.

 

Normenkette

RVO §§ 636-637, 640; BGB § 276 Abs. 1 S. 2

 

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 2. Oktober 1968 aufgehoben.

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil der 13. Zivilkammer des Landgerichts Stuttgart vom 21. Februar 1968 wird zurückgewiesen.

Der Klägerin fallen auch die Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zur Last.

 

Tatbestand

Der damals 19-jährige, als Baupraktikant bei der Firma W. in M. tätige Beklagte hatte am Abend des 29. April 1966 vier Bauhilfsarbeiter von einer Baustelle nach Hause zu bringen. Dazu benutzte er einen firmeneigenen Personenkraftwagen Mercedes 190, den er an diesem Tage zum ersten Male steuerte.

Auf der 5,3 m breiten, etwas welligen und rissigen Fahrbahn der Landesstraße 1066 geriet er, in Richtung M. fahrend, 250 m nach Beginn einer 700 m langen Geraden, die er mit 70-80 km/st befuhr, nach links. Um nicht mit einem entgegenkommenden Personenkraftwagen zusammenzustoßen, lenkte er nach rechts. Dort berührte er das Bankett, schleuderte - hinter dem inzwischen vorbeigefahrenen Gegenfahrzeug - nach links und überschlug sich dort mit seinem Fahrzeug im Straßengraben.

Die klagende Berufsgenossenschaft erbrachte für zwei der hierbei verletzten Arbeiter Versicherungsleistungen und hat für einen der beiden noch weiterhin solche zu erbringen. Sie macht im Wege der Leistungs- und Feststellungsklage gem. § 640 RVO Rückgriffsansprüche gegen den Beklagten geltend.

Der Beklagte wendet sich dagegen, daß ihm grobe Fahrlässigkeit in bezug auf die Herbeiführung des Unfalls zur Last gelegt wird.

Das Landgericht wies die Klage ab. Auf Berufung gab ihr das Oberlandesgericht statt. Die Revision des Beklagten erstrebt die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.

 

Entscheidungsgründe

I.

Das Berufungsgericht geht davon aus, daß der Beklagte zu dem Personenkreis gehört, dessen Haftung gem. §§ 636, 637 RVO beschränkt ist, und daß damit die allgemeinen Voraussetzungen eines Rückgriffs gem. § 640 RVO gegeben sind. Insoweit läßt das angefochtene Urteil keinen Rechtsirrtum erkennen; auch hat die Revision nichts erinnert.

II.

1.

Zu seiner Feststellung, daß der Beklagte den Unfall durch grobe Fahrlässigkeit herbeigeführt habe, erwägt das Berufungsgericht:

Zwar ließen sich die Regeln des Anscheinsbeweises im allgemeinen nicht für die Abgrenzung zwischen einfacher und grober Fahrlässigkeit heranziehen, da hier auch Umstände zu berücksichtigen seien, welche die subjektive Seite der Verantwortung beträfen. Hier aber bedürfe es keines Anscheinsbeweises, da sich schon aus den unstreitigen Umständen eine grob fahrlässige Fahrweise des Beklagten ergebe. Der Beklagte sei auf der 5,30 m breiten Straße so dicht vor einem, wie er, mit 70-80 km/st herannahenden Kraftfahrzeug auf die linke Fahrbahnseite geraten, daß er zur Vermeidung eines Zusammenstoßes schleunigst habe nach rechts steuern müssen. Da er dabei die Herrschaft über den Wagen verloren habe, sei die erste und entscheidende Unfallursache die, daß er ohne erkennbaren Anlaß in die Gegenfahrbahn geraten sei. Damit spreche der erste Anschein für das Verschulden des Beklagten.

Das Berufungsgericht fährt fort:

Ob das Verhalten des Beklagten darüber hinaus als grob fahrlässig zu bewerten sei, hänge von den unstreitigen besonderen Umständen ab. Es sei zu fragen, ob diese Umstände die Annahme rechtfertigten, daß der Beklagte die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in besonderem Maße verletzt und das unbeachtet gelassen habe, was jedem hätte einleuchten müssen. Dies sei nicht zweifelhaft. Der Beklagte sei vor dem ihm entgegenkommenden Fahrzeug auf die Gegenfahrbahn geraten, obwohl er es auf eine Entfernung von mehreren hundert Metern habe sehen können und nach eigenem Vortrag auch gesehen habe. Darin liege objektiv ein besonders schwerer Fahrfehler und subjektiv eine grobe, weil selbst für einen Anfänger ohne weiteres vermeidbare Sorgfaltsverletzung. Das Verschulden des Beklagten müsse daher als grob fahrlässig gewertet werden.

2.

Diese Ausführungen halten der rechtlichen Prüfung nicht stand.

Die Revision bemängelt zu Recht, daß das Berufungsgericht entgegen den von ihm eingangs angeführten Rechtsgrundsätzen seine Überzeugung von einer groben Fahrlässigkeit des Beklagten doch auf einen vermeintlichen Beweis des ersten Anscheines stützt. Auch hat es entweder den Begriff der schweren subjektiven Vorwerfbarkeit verkannt oder doch deren an sich dem Tatrichter obliegende Feststellung auf Tatsachen gestützt, welche diese Feststellung nicht erlaubten.

Wie die Revision richtig bemerkt, müssen die Ausführungen des Berufungsgerichts im Sinne der Feststellung verstanden werden, daß der Beklagte den entgegenkommenden Kraftwagen schon auf mehrere hundert Meter nicht nur erkennen konnte, sondern auch erkannt hat. Wenn dann der Beklagte, der bei einem Zusammenstoß selbst aufs schwerste gefährdet werden mußte, doch noch in die Gegenfahrbahn gefahren ist, obwohl dafür kein Beweggrund, etwa eine leichtfertige Überholungsabsicht oder ähnliches, ersichtlich ist, dann spricht nicht ein typischer Geschehensablauf, sondern im Gegenteil sehr wenig dafür, daß er sich insoweit eine Verletzung seiner Verkehrspflichten zuschulden kommen ließ, die besonders kraß und auch von seiner Person aus gesehen unentschuldbar war und damit das gewöhnliche, in § 276 Abs. 1 Satz 2 BGB bestimmte Maß der Fahrlässigkeit erheblich überschritt (vgl. BGH Urt. v. 25. April 1957 - II ZR 145/56 - VersR 1957, 353 zu § 61 VVG Senatsurteil vom 24. Juni 1969 - VI ZR 36/68 - VersR 69, 848 mit Nachweisen, zu § 640 RVO std. Rspr.). Viel näher liegt es nach allgemeiner Erfahrung, daß der als Kraftfahrer wenig geübte und mit dem am Unfalltag voll ausgelasteten Fahrzeug bisher nicht vertraute Beklagte trotz des erkannten Gegenverkehrs technisch nicht in der Lage war, auf der unebenen Fahrbahn den Wagen auf der Spur zu halten.

Das Berufungsgericht hat keinerlei konkrete Feststellungen getroffen, die ein auch subjektiv schwer vorwerfbares Verhalten des Beklagten begründen könnten. Es hat z.B. nicht etwa festgestellt, daß der Beklagte sich leichtfertig in eine seine Fahrkenntnisse überfordernde Verkehrslage begeben hätte; dergleichen war auch nicht behauptet, vielmehr hat er die Fahrt unstreitig nicht aus eigenem Antrieb ausgeführt, sondern weil sie ihm aufgetragen war.

Bas Berufungsurteil ergibt also nicht, durch welches subjektiv schwer vorwerfbare Verhalten der Beklagte den Unfall verursacht haben soll. Es schließt vielmehr nur aus dem Gesamtverlauf, daß ihm irgendein solches Verhalten zur Last fallen müsse, obwohl dieser Gesamtverlauf einen anderen Hergang offensichtlich nicht ausschließt und auch das Berufungsgericht insoweit nur von Unwahrscheinlichkeit spricht.

Damit hat das Berufungsgericht, soweit es auch in personaler Hinsicht von schwerem Verschulden ausgeht, in Wahrheit doch nach den Regeln des Anscheinsbeweises vorgehen wollen. Dieser ist aber, wie das Berufungsgericht an sich nicht verkennt und der Bundesgerichtshof wiederholt ausgesprochen hat, jedenfalls in der Hegel kein taugliches Erkenntnismittel, soweit es gilt, die auch in subjektiver Hinsicht grobe Fahrlässigkeit von der gewöhnlichen zivilrechtlichen Fahrlässigkeit abzugrenzen (zu § 61 VVG Urt. v. 2. Dezember 1957 - II ZR 194/56 - VersR 1958, 16; Urt. v. 5. Dezember 1966 - II ZR 174/65 - VersR 1967, 127; zu § 48 LuftVG Senatsurteil vom 11. Juli 1967 - VI ZR 14/66 - VersH 1967, 909; vgl. dazu Sanden VersR 1967, 1018, Weingart VersK 1968, 427, 431 und Lohe VersR 1968, 323, 328; zu § 640 RVO vgl. ferner Senatsurteil vom 29. Oktober 1968 - VI ZK 169/67 - VersK 1969, 77).

Es braucht nicht entschieden zu werden, ob sich der Anscheinsbeweis bei der Feststellung der groben Fahrlässigkeit im Sinne des § 640 RVO schlechthin verbietet. Dazu müßte die von Dersch/Knoll Anm. 6 a zu § 640 RVO vertretene Meinung führen, daß insoweit auch heute noch ein Verschulden im strafrechtlichen Sinne zu fordern sei, eine Meinung, die sich auf den erzieherischen Charakter der Vorschrift (vgl. Senatsurteil vom 30. April 1968 - VI ZR 32/67 - VersR 1968, 641 und vom 24. Juni 1969 - VI ZR 36/68 - VersK 1969, 848) stützen könnte. Jedenfalls darf aus einem objektiv groben Pflicht- oder Verkehrsverstoß nicht schon allein deshalb auf ein entsprechendes grobes (personales) Verschulden geschlossen werden, weil ein solches oft damit einherzugehen pflegt. Damit würde verkannt, daß gerade die personale Schuldseite - die schwere subjektive Vorwerfbarkeit - die vom Kläger zu beweisende Bedingung für die ausnahmsweise Zulassung des Rückgriffs ist, welcher dazu führt, eine an sich abgeschlossene und im Kegelfall befriedigende Schadensabwicklung wieder aufzurollen.

Das angefochtene Urteil kann demnach keinen Bestand haben, selbst wenn man davon absieht, daß der zu Unrecht zur Anwendung gebrachte Anscheinsbeweis nach den eingangs erwähnten Umständen jedenfalls entkräftet wäre, weil eine noch unzulängliche Fahrtechnik des Beklagten, mangelnde Gewöhnung an das gesteuerte Fahrzeug und schadhafte Fahrbahndecke als Unfallursachen mindestens ernstlich in Betracht gezogen werden müssen und damit die Möglichkeit nicht ausgeräumt ist, daß nur leichte Fahrlässigkeit gegeben ist.

III.

Da weitere tatsächliche Feststellungen nicht in Frage stehen, kann das Revisionsgericht die ersetzende Entscheidung selbst treffen (§ 565 Abs. 2 Nr. 1 ZPO).

Allerdings ist noch der Beweisantrag der Klägerin unerledigt geblieben, daß die Fahrzeuginsassen das "Schwänzeln" vor dem Hinübergeraten des Mercedes auf die linke Fahrbahnhälfte nicht bemerkt hätten. Auf diesen Beweis kommt es aber nicht an, da auch ohne vorheriges "Schwänzeln" Verläufe denkbar bleiben, bei denen der Beklagte infolge ungenügender Fahrfertigkeit und damit leichter Fahrlässigkeit das Ausspuren des Fahrzeugs nach links nicht zu verhindern vermochte.

Damit ist angesichts der Beweispflicht der Klägerin für die Voraussetzungen einer groben Fahrlässigkeit davon auszugehen, daß der Beklagte nur wegen seiner Unerfahrenheit im Lenken von Kraftfahrzeugen überhaupt und seiner gänzlichen Unvertrautheit mit dem am Unfalltag gelenkten Fahrzeug das Ausspuren nicht zu vermeiden vermochte. Dies gereicht ihm zwar zum Verschulden, weil er für die im Verkehr objektiv erforderliche Sorgfalt einzustehen hat. Es fehlt aber diesem Hergang die schwere subjektive Vorwerfbarkeit, welche zum Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit gehört.

Daher ist auf die Revision des Beklagten das landgerichtliche Urteil wiederherzustellen.

 

Unterschriften

Pehle

Dr. Bode

Dr. Weber

Dunz

Scheffen

 

Fundstellen

Haufe-Index 1456423

JR 1970, 349

JZ 1970, 657

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