Verfahrensgang
LG Wuppertal (Urteil vom 09.10.2009) |
Tenor
1. Das Verfahren wird mit Zustimmung des Generalbundesanwalts auf die Geiselnahme und die vier der Verurteilung zugrunde liegenden Taten der Vergewaltigung beschränkt.
2. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin wird das Urteil des Landgerichts Wuppertal vom 9. Oktober 2009 im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte der Geiselnahme in Tateinheit mit besonders schwerer Vergewaltigung in vier tateinheitlich zusammentreffenden Fällen schuldig ist.
Die weitergehenden Revisionen werden verworfen.
3. Die Revision des Angeklagten gegen das vorbezeichnete Urteil wird verworfen.
4. Die Kosten des Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft und die dem Angeklagten dadurch entstandenen notwendigen Auslagen werden der Staatskasse auferlegt. Die Nebenklägerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels und die dem Angeklagten dadurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen. Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Gründe
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Geiselnahme in Tateinheit mit besonders schwerer Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Hiergegen richten sich die Revisionen der Staatsanwaltschaft, der Nebenklägerin und des Angeklagten. Die Staatsanwaltschaft erstrebt mit ihrem Rechtsmittel eine Aufhebung des Urteils zum Nachteil des Angeklagten. Sie erhebt die allgemeine Sachrüge und wendet sich mit Einzelausführungen dagegen, dass das Landgericht nur von einer einzigen Tat im Rechtssinne ausgegangen ist und die Anordnung der Sicherungsverwahrung abgelehnt hat. Auch die Nebenklägerin rügt die Beurteilung des Konkurrenzverhältnisses zwischen den einzelnen Vergewaltigungstaten. Die Rechtsmittel führen sämtlich nur zur Änderung des Schuldspruchs, bleiben aber im Übrigen erfolglos. Die Revision des Angeklagten wendet sich allein gegen die Strafhöhe. Sie hat keinen Erfolg.
Rz. 2
Nach den Feststellungen des Landgerichts überfiel der Angeklagte in den Morgenstunden des 7. Mai 2009 die ihm bis dahin unbekannte sechzehnjährige Schülerin S. auf deren Weg zur Schule. Er bedrohte sie mit einem Messer, legte ihr eine Seilschlinge um den Hals und verbrachte sie gewaltsam in seine nahe gelegene Wohnung. Dort hielt er das Mädchen entsprechend seinem zuvor gefassten Plan fest. Er drohte ihr unter Vorhalten des Messers mit dem Tode, falls sie ihm nicht zum Willen sei, und fesselte sie zeitweise auch mit Handschellen und der Seilschlinge. Das hierdurch völlig verängstigte Opfer zwang er – wie von ihm von Anfang an beabsichtigt – im Verlauf dieses und der beiden folgenden Tage zu sexuellen Handlungen, bei denen es zum Geschlechtsverkehr und teilweise zum Oralverkehr kam und der Angeklagte auch jeweils versuchte, den Analverkehr auszuüben. Im Einzelnen kam es bereits während des ersten Tages zu drei, an den beiden Folgetagen jeweils zu einem mehrstündigen Übergriff. Dabei drohte der Angeklagte dem Mädchen stets mit der Tötung, bei der ersten Tat hielt er ihr dabei das Messer entgegen. Zwischen dem zweiten und dritten Übergriff fesselte er sein Opfer und verbrachte es zeitweise auf den Dachboden. Die Nacht musste es neben ihm im Bett verbringen. Zur Verhinderung der Flucht schloss der Angeklagte das Zimmer ab. Auch am zweiten Tag fesselte er das Mädchen, als er für einige Zeit außer Haus gehen wollte. Nach zwei weiteren Nächten gelang der Nebenklägerin am Vormittag des vierten Tages die Flucht, nachdem der Angeklagte die Wohnung hatte eilig verlassen müssen und dabei im Glauben, sein Opfer werde nunmehr allein unter der Drohung mit Rache im Hause zurückbleiben, auf eine Fesselung verzichtet hatte.
Rz. 3
Das Landgericht hat das Tatgeschehen als Geiselnahme gemäß § 239b Abs. 1 1. Alt. StGB sowie als vier Taten der Vergewaltigung beurteilt (die erste Tat gemäß § 177 Abs. 1 Nr. 1 und 2, Abs. 2 Nr. 1, Abs. 4 Nr. 1 StGB; drei weitere Taten gemäß § 177 Abs. 1 Nr. 1 und 2, Abs. 2 Nr. 1 StGB; der fünfte festgestellte Übergriff – der dritte im Verlauf des ersten Tages – war nach Auffassung des Landgerichts nicht Gegenstand der Anklage). Diese seien „als eine Tat im Sinne einer natürlichen Handlungseinheit zu betrachten”, wobei das Dauerdelikt der Geiselnahme die während seiner Begehung verwirklichten weiteren Straftaten zur Tateinheit verklammere. Es hat die Strafe dem Strafrahmen des § 239b Abs. 1 StGB (fünf Jahre bis 15 Jahre) entnommen und unter Berücksichtigung der im Tatzeitraum begangenen Vergewaltigungen eine Strafe von zwölf Jahren und sechs Monaten verhängt. Von der Anordnung der Sicherungsverwahrung hat das Landgericht abgesehen, da die formellen Voraussetzungen nach § 66 Abs. 2 bzw. Abs. 3 Satz 2 StGB nicht vorlagen.
I. Revision der Staatsanwaltschaft
Rz. 4
Die Revision führt lediglich zur Änderung des Schuldspruchs. Im Übrigen hat die Überprüfung des Urteils keinen Rechtsfehler zu Gunsten oder zu Lasten (§ 301 StPO) des Angeklagten ergeben.
Rz. 5
1. Die Feststellungen des Landgerichts beruhen auf dem Geständnis des Angeklagten und einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung (vgl. BGH, Urteil vom 9. Juni 2005 – 3 StR 269/04, NJW 2005, 2322, 2326). Es ist von Rechts wegen nicht zu beanstanden, dass das Landgericht der Einlassung des Angeklagten gefolgt ist, er habe die dauerhafte Einsperrung der Nebenklägerin von Anfang an geplant, um diese wiederholt sexuell missbrauchen zu können.
Rz. 6
2. Nach den Feststellungen hat der Angeklagte die Nebenklägerin entführt, um sie in seiner Wohnung durch Todesdrohung zur Duldung der darauf folgenden sexuellen Übergriffe zu nötigen, § 239b Abs. 1 1. Alt. StGB (vgl. BGH, Großer Senat für Strafsachen, Beschluss vom 22. November 1994 – GSSt 1/94, BGHSt 40, 350). Daneben hat der Angeklagte die Nebenklägerin im Verlauf der mehrtägigen Geiselnahme bei insgesamt fünf Gelegenheiten jeweils durch Gewalt und durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für das Leben zum Beischlaf und ähnlichen, das Opfer besonders erniedrigenden sexuellen Handlungen genötigt (§ 177 Abs. 1 Nr. 1 und 2, Abs. 2 Nr. 1 StGB). Die eingesetzte Gewalt bestand darin, dass er das Opfer über den gesamten Tatzeitraum eingesperrt hatte, um sie am Weglaufen zu hindern und damit die sexuellen Übergriffe zu ermöglichen (vgl. BGH, Beschluss vom 23. November 1993 – 1 StR 739/93, BGHR StGB § 177 Abs. 1 Gewalt 10; BGH, Urteil vom 9. März 1993 – 5 StR 1/93, NStZ 1993, 340; BGH, Beschluss vom 1. Oktober 1998 – 4 StR 347/98, NStZ 1999, 83; BGH, Beschluss vom 9. März 2000 – 4 StR 513/99, NStZ 2000, 419; BGH, Urteil vom 2. Oktober 2002 – 2 StR 153/02, NStZ-RR 2003, 42).
Rz. 7
In jedem dieser Fälle hat der Angeklagte bei der Tat ein Messer als Drohmittel verwendet (§ 177 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1, Abs. 4 Nr. 1 StGB). Zwar ist nur für den ersten sexuellen Übergriff festgestellt, dass der Angeklagte mit dem Messer ausdrücklich drohte, indem er das Opfer fragte, ob er es „immer noch halten müsse”, und es sodann auf die unmittelbar neben dem Bett stehende Kommode legte. Aus dem Zusammenhang der Urteilsgründe ergibt sich indes, dass er in den weiteren Fällen mit dem Einsatz des Messers, welches während sämtlicher Übergriffe an diesem Ort verblieb, jeweils konkludent drohte und das Opfer dies auch entsprechend der Vorstellung des Angeklagten als Drohung empfand.
Rz. 8
3. Auch die Beurteilung des Konkurrenzverhältnisses durch das Landgericht hält im Ergebnis rechtlicher Überprüfung stand.
Rz. 9
a) Bei jedem der Übergriffe zwang der Angeklagte die Nebenklägerin jeweils zur Vornahme oder Duldung verschiedener sexueller Handlungen. Wegen des unmittelbaren Ineinanderübergehens der abgenötigten Handlungen und des fortdauernd eingesetzten Nötigungsmittels liegt dabei in jedem Fall trotz der Mehrheit der abgenötigten Handlungen nur eine Tat der besonders schweren Vergewaltigung vor.
Rz. 10
b) Für das Verhältnis der Vergewaltigungstaten zueinander gilt Folgendes:
Rz. 11
aa) Zwischen den vier Taten besteht nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bereits deshalb Tateinheit, weil die objektiven Ausführungshandlungen teilweise identisch sind. Alle Vergewaltigungen sind mittels eines einheitlichen, durchgehend und ohne Zäsuren im Geschehensablauf eingesetzten Nötigungsmittels, nämlich der Einsperrung des Opfers zu dem Zweck, sexuelle Übergriffe an ihm vornehmen zu können, begangen worden (vgl. BGH, Beschluss vom 23. November 1993 – 1 StR 739/93, BGHR StGB § 177 Abs. 1 Gewalt 10; BGH, Urteil vom 9. März 1993 – 5 StR 1/93, NStZ 1993, 340; BGH, Beschluss vom 1. Oktober 1998 – 4 StR 347/98, NStZ 1999, 83; BGH, Beschluss vom 9. März 2000 – 4 StR 513/99, NStZ 2000, 419; BGH, Urteil vom 2. Oktober 2002 – 2 StR 153/02, NStZ-RR 2003, 42; BGH, Beschluss vom 10. Februar 2005 – 3 StR 15/05; LK-Rissing-van Saan, 12. Aufl., § 52 Rn. 20 mwN).
Rz. 12
bb) Da somit schon unter dem Aspekt der rechtlichen Handlungseinheit nur eine Tat im Sinne des § 52 Abs. 1 StGB vorliegt, kommt es nicht mehr darauf an, ob die verschiedenen vom Angeklagten begangenen Gesetzesverletzungen auch unter dem Gesichtspunkt der natürlichen Handlungseinheit oder der Klammerwirkung eines durchgängig verwirklichten Dauerdelikts zur Tateinheit verbunden werden. Im Hinblick auf die von der Beschwerdeführerin gegen die Rechtsfigur der Tateinheit aufgrund Klammerwirkung erhobenen Einwände bemerkt der Senat lediglich, dass auch dieser Fall keinen Anlass geben könnte, hiervon Abstand zu nehmen (vgl. zum Zusammentreffen von Vergewaltigung mit Geiselnahme insoweit BGH, Urteil vom 10. Dezember 2008 – 2 StR 338/08, bei Pfister, NStZ-RR 2009, 361, 365 Nr. 35; BGH, Urteil vom 8. November 2007 – 3 StR 320/07, BGHR StGB § 52 Abs. 1 Klammerwirkung 10). Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin können die während der Geiselnahme begangenen Straftaten im Schuldspruch voll – nämlich als durch „in mehreren tateinheitlich zusammentreffenden Fällen” begangen – erfasst werden. Zutreffend hat der Generalbundesanwalt dargelegt, dass auch bei der Bestrafung eine Berücksichtigung der weiteren Taten möglich ist – wie nicht zuletzt die hohe, an die Höchstgrenze einer zeitigen Freiheitsstrafe heranreichende Strafe beweist, die das Landgericht gegen den noch jungen, bislang nicht bestraften Angeklagten verhängt hat.
Rz. 13
cc) Da alle Vergewaltigungen nur eine Tat im materiellen Sinn darstellen, sind sie sämtlich auch Gegenstand der Anklage (st. Rspr.; vgl. Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl., § 264 Rn. 6 mwN). Das Landgericht wäre deshalb im Rahmen seiner Kognitionspflicht gehalten gewesen, den Angeklagten nach Erteilung eines rechtlichen Hinweises auch wegen des fünften – erst durch die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung zutage getretenen – Übergriffs abzuurteilen. Um die Anklage zu erschöpfen, hat der Senat mit Zustimmung des Generalbundesanwalts insoweit eine Verfahrensbeschränkung gemäß § 154a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 StPO vorgenommen.
Rz. 14
c) Zu der (besonders schweren) Vergewaltigung steht die Geiselnahme in Tateinheit. Die objektiven Ausführungshandlungen sind auch hier teilweise identisch. Die bei der Entführung des Opfers angewendete Gewalt und das Verbringen an einen Ort, an dem es dem ungehemmten Einfluss des Täters weiterhin ausgesetzt war, war zugleich Teil der Gewalt, mit der der Angeklagte sodann die sexuellen Handlungen erzwang (vgl. BGH, Urteil vom 9. April 2003 – 2 StR 421/02).
Rz. 15
d) Zur Klarstellung des begangenen Unrechts (vgl. BGH, Urteil vom 24. September 1998 – 4 StR 272/98, BGHSt 44, 196, 198) sind im Schuldspruch die einzelnen Übergriffe als tateinheitlich zusammentreffende Fälle der besonders schweren Vergewaltigung zu bezeichnen. Dies ist für die Fälle der gleichartigen Tateinheit anerkannt (vgl. Meyer-Goßner, aaO § 260 Rn. 26). Für die Fälle mehrfacher Verwirklichung des Vergewaltigungstatbestands im Wege fortlaufender Gewaltanwendung kann nichts anderes gelten. Der Senat hat deshalb den Schuldspruch entsprechend geändert.
Rz. 16
4. Die Strafzumessung weist ebenfalls keinen Rechtsfehler auf.
Rz. 17
5. Zutreffend hat das Landgericht auch von der Anordnung der Sicherungsverwahrung abgesehen.
Rz. 18
Die formellen Voraussetzungen, unter denen das Gesetz die Maßregelverhängung ermöglicht, liegen nicht vor. In Betracht käme bei dem unbestraften Angeklagten die Anordnung allein nach § 66 Abs. 2 oder Abs. 3 Satz 2 StGB. Wie der Generalbundesanwalt in seiner Zuleitungsschrift ausführlich dargelegt hat, setzen nach ganz herrschender Auffassung in Rechtsprechung und Literatur beide Varianten allerdings voraus, dass der Täter drei bzw. zwei rechtlich selbständige Taten begangen haben muss (vgl. BGH, Urteil vom 21. September 1951 – 2 StR 415/51, BGHSt 1, 313, 316; BGH, Beschluss vom 14. Dezember 2001 – 3 StR 458/01, NStZ 2002, 313; LK-Rissing-van Saan/Peglau, 12. Aufl., § 66 Rn. 81 mwN). An dieser Auffassung ist festzuhalten. Hierfür sprechen der Wortlaut der Vorschrift, die Systematik des Strafgesetzbuchs, die Gesetzgebungsgeschichte und auch der Sinn und Zweck der Norm.
Rz. 19
a) § 66 Abs. 2 StGB setzt voraus, dass der Angeklagte drei vorsätzliche Straftaten begangen hat, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verwirkt hat, und er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt wird. § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB fordert, dass der Angeklagte zwei Straftaten aus dem Katalog des § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB begangen hat, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verwirkt hat und wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt wird. Bereits der Wortlaut „Taten”) deutet darauf hin, dass der Angeklagte jeweils mehrere rechtlich selbständige Taten begangen haben muss.
Rz. 20
b) Hierfür spricht auch der Vergleich mit anderen Vorschriften. So wird in § 53 Abs. 1 StGB der Begriff „mehrere Straftaten” für die Bezeichnung mehrerer selbständiger Taten verwendet, bei deren gleichzeitiger Aburteilung eine Gesamtstrafe zu bilden ist. Auch der Begriff des „Verwirkens” wird vom Gesetz hier gebraucht für die Bezeichnung der Festsetzung einer Einzelstrafe für eine selbständige Tat als Grundlage der Gesamtstrafenbildung. Demgegenüber beschreibt § 52 Abs. 1 StGB die tateinheitliche Begehung von Straftaten als die Verletzung mehrerer Strafgesetze oder die mehrmalige Verletzung desselben Strafgesetzes jeweils durch eine Handlung. In diesen Fällen wird nur auf eine Strafe „erkannt”. Nach der Gesetzessystematik verweisen § 66 Abs. 2 und § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB somit auf § 53 Abs. 1 und nicht auf § 52 Abs. 1 StGB.
Rz. 21
c) Nichts anderes ergibt sich aus der Gesetzgebungsgeschichte. Das zweispurige Sanktionensystem – und damit auch die Sicherungsverwahrung – fanden Eingang in das Strafgesetzbuch durch das „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung” vom 24. November 1933 (RGBl. I S. 995 – Gewohnheitsverbrechergesetz). Dieses sah für „gefährliche Gewohnheitsverbrecher” in § 20a RStGB eine Strafschärfung und in § 42e RStGB die obligatorische Anordnung der Sicherungsverwahrung vor. § 20a Abs. 2 RStGB knüpfte die Einstufung eines Angeklagten als „gefährlichen Gewohnheitsverbrecher” an die Begehung von mindestens drei Taten. Dabei musste es sich – um die Bezeichnung als „Gewohnheitsverbrecher” zu rechtfertigen – um drei selbständige Taten handeln. Hiervon ist auch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs seit jeher ausgegangen. Deshalb sind Einzelakte einer fortgesetzten Handlung auch nicht als vorsätzliche Taten im Sinne des § 20a Abs. 2 StGB angesehen worden (BGH, Urteil vom 21. September 1951 – 2 StR 415/51, BGHSt 1, 313, 314). Auch bei der Reform des Rechts der Sicherungsverwahrung durch das 1. StrRG zum 1. April 1970 ist § 42e Abs. 2 StGB, die Vorschrift, die Sicherungsverwahrung ohne vorangegangene Verurteilung und Strafverbüßung ermöglichte, als Ausnahmevorschrift für besonders gelagerte Fälle, der Begehung mehrerer selbständiger Taten, angesehen worden (vgl. Erster Schriftlicher Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, BT-Drucks. V/4094 S. 20 f.). Auch bei der Ausdehnung der Sicherungsverwahrung durch das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten im Jahr 1998 hat sich hieran nichts geändert. Auch § 66 Abs. 3 StGB folgt der bis dahin bekannten Differenzierung bei den formellen Voraussetzungen in Täter mit Vorstrafe und Vorverbüßung (§ 66 Abs. 3 Satz 1 StGB) und solche mit einer Mehrzahl von selbständigen Taten, bei denen auf die Vorverurteilung und Vorverbüßung verzichtet werden kann (§ 66 Abs. 3 Satz 2 StGB). Überlegungen, schon nach Begehung von nur einer Tat im Rechtssinn ohne vorangegangene Verurteilung und Strafverbüßung die Sicherungsverwahrung zu ermöglichen, sind nicht angestellt worden (vgl. die Stellungnahmen der Sachverständigen Prof. Dr. Schöch und Prof. Dr. Weigend, Protokoll der 93. Sitzung des Rechtsausschusses am 8. September 1997, S. 10, 22). Eine solche Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Sicherungsverwahrung ist erst im Zusammenhang mit der Schaffung der nachträglichen Sicherungsverwahrung diskutiert worden. Die im Gesetzgebungsverfahren angehörten Sachverständigen haben sich eindeutig dagegen ausgesprochen und ausgeführt, dass die Reduzierung auf eine Tat als formelle Voraussetzung der Sicherungsverwahrung zu einer erheblichen Unsicherheit bei der Feststellung der materiellen Voraussetzungen – Hang und Gefährlichkeit – führen würde (vgl. die Stellungnahmen der Sachverständigen PD Dr. Kinzig, Prof. Dr. Leygraf und Dr. Schäfer, Protokoll der 47. Sitzung des Rechtsausschusses am 5. Mai 2004, S. 14, 15 ff., 22).
Rz. 22
d) Wegen ihrer grundsätzlich unbeschränkten Dauer greift die Sicherungsverwahrung wie keine andere Sanktion in das Freiheitsgrundrecht ein. Sie ist deshalb – ungeachtet der Ausweitungen ihres Anwendungsbereichs in den vergangenen 15 Jahren – eine Maßregel mit ultima-ratio-Charakter. Die Vorschriften sind daher grundsätzlich eng auszulegen (vgl. BGH, Urteil vom 14. Juli 1999 – 3 StR 209/99, BGHR StGB § 66 Abs. 3 i.d.F. 6. StrRG Katalogtat 1). Die Anordnung der Sicherungsverwahrung hängt von einer Gefährlichkeitsprognose ab. Die dieser innewohnenden Unsicherheiten sind hinzunehmen, solange die Prognose auf hinreichender Sachverhaltsaufklärung beruht und sich auf ein sorgfältig substantiiertes Prognosegutachten stützt. Dabei hängt die Qualität der Prognose entscheidend von der Breite der Prognosegrundlage ab. Die Prognose verliert an Plausibilität, wenn sie nur einen schmalen Ausschnitt der Wirklichkeit zur Grundlage hat (BVerfGE 109, 190 Rn. 180 f.). Mit jeder weiteren Absenkung der formellen Voraussetzungen ginge eine Verringerung der Tatsachengrundlage für die notwendige prognostische Einschätzung der Gefährlichkeit eines Angeklagten sowie für die Feststellung eines bei ihm vorliegenden Hangs zur Begehung erheblicher Straftaten einher.
Rz. 23
e) Zuletzt führt auch die Überlegung, es dürfe nicht von unerheblichen Abweichungen im Tatgeschehen abhängen, ob Tatmehrheit mit der Folge möglicher Sicherungsverwahrung oder Tateinheit anzunehmen sei, zu keinem anderen Ergebnis. Denn in Fällen, bei denen die (tatmehrheitlich begangenen) Taten in einem sehr engen zeitlichen und inneren Zusammenhang stehen, versteht es sich nicht von selbst, dass diese von einander trennbare Lebenssachverhalte darstellen, die jeder für sich als eine der erforderlichen Symptomtaten gewertet werden können und jeweils als selbständige Grundlage für die Prognose nach § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB i. V. m. § 66 Abs. 2 StGB in Betracht kommen (BGH, Beschluss vom 14. Dezember 2001 – 3 StR 458/01, NStZ 2002, 313).
Rz. 24
f) Nur ergänzend weist der Senat darauf hin, dass das Landgericht einen Hang im Sinne von § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB sowie eine darauf beruhende Gefährlichkeit des Angeklagten – möglicherweise beeinflusst dadurch, dass es zutreffend die formellen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung für nicht gegeben erachtet hat – nur unzureichend dargelegt hat. Es fehlt jede Erklärung, warum sich bei dem Angeklagten ein eingeschliffenes Verhaltensmuster im Hinblick auf Sexualdelikte ausgebildet haben sollte. Der jetzt 28-jährige Angeklagte ist strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten. Sein Lebenslauf ist unauffällig verlaufen. Beeinträchtigungen des privaten oder beruflichen Bereichs sind ebenso wenig festgestellt wie Reaktionen der Außenwelt, die dem Angeklagten Gelegenheit gegeben hätten, sein Persönlichkeitsmuster als stabil und eingeschliffen aufrechtzuerhalten.
II. Revision der Nebenklägerin
Rz. 25
Die Revision der Nebenklägerin, die sich zulässig nur gegen die Beurteilung der Konkurrenzfragen durch das Landgericht wenden kann (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Dezember 1999 – 1 StR 492/99, BGHR StPO § 400 Abs. 1 Zulässigkeit 9), bleibt aus den zur Revision der Staatsanwaltschaft insoweit genannten Gründen – von der Änderung des Schuldspruchs abgesehen – erfolglos.
III. Revision des Angeklagten
Rz. 26
Das Rechtsmittel des Angeklagten bleibt ohne Erfolg. Eine Überprüfung des allein angegriffenen Rechtsfolgenausspruchs hat, wie der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift zutreffend ausgeführt hat, auch unter Berücksichtigung der Beanstandungen der Revision keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
Unterschriften
Becker, Pfister, von Lienen, Sost-Scheible, Hubert
Fundstellen
Haufe-Index 2419663 |
NStZ-RR 2010, 365 |