Leitsatz (amtlich)
Zu den Voraussetzungen, unter denen der Tatrichter ein Sachverständigengutachten zum Hergang eines Verkehrsunfalls einholen muß.
Normenkette
BGB § 823; ZPO § 286
Verfahrensgang
OLG Oldenburg (Oldenburg) (Aktenzeichen 11 U 16/97) |
LG Oldenburg (Aktenzeichen 4 O 2495/96) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 11. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 6. Februar 1998 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Die Klägerin verlangt Schadensersatz wegen eines Verkehrsunfalls. Die Erstbeklagte befuhr am 17. Juni 1993 mit einem bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherten Pkw gegen 23.10 Uhr eine Landstraße. Nachdem sie mit eingeschaltetem Abblendlicht eine Rechtskurve durchfahren hatte, erfaßte der Pkw die Klägerin, die sich zuvor wegen eines alkoholisierten Bekannten in einem rechts von der Fahrbahn gelegenen Straßengraben aufgehalten und nach Ersteigen der Böschung soeben die Fahrbahn betreten hatte, um zu der gegenüberliegenden Gaststätte zu gelangen. Hierbei erlitt die Klägerin schwere Verletzungen mit Dauerschäden.
Sie macht geltend, die Erstbeklagte sei mit einer für die örtlichen Verhältnisse zu hohen Geschwindigkeit von mehr als 70 km/h gefahren und habe nichts unternommen, um die Kollision zu vermeiden. Sie selbst habe den Pkw vor Betreten der Fahrbahn wegen der Kurve nicht wahrnehmen können. Sie hat unter Berücksichtigung eines hälftigen Mitverschuldens beantragt, die Beklagten als Gesamtschuldner zur Zahlung von 14.529,82 DM sowie eines angemessenen Schmerzensgeldes von mindestens 75.000 DM zu verurteilen und ihre gesamtschuldnerische Verpflichtung zum Ersatz des Zukunftsschadens vorbehaltlich eines Anspruchsübergangs auf Dritte festzustellen.
Beide Vorinstanzen haben die Klage ohne Beweisaufnahme abgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe
I.
Nach Auffassung des Berufungsgerichts hat das Landgericht zu Recht festgestellt, daß die Klägerin den Unfall grob fahrlässig verursacht habe. Unabhängig von der Fahrgeschwindigkeit der Erstbeklagten stehe fest, daß die Klägerin die Fahrbahn entgegen § 25 Abs. 3 Satz 1 StVO betreten habe, als der herannahende Pkw bereits gut sichtbar gewesen sei. Dies folge schon aus dem unstreitigen Vorbringen der Parteien, wonach die Klägerin bis zum Erreichen des Kollisionspunktes auf der Fahrbahn nur eine Strecke von 1 m bis 1,5 m zurückgelegt habe. Selbst wenn sie dabei überdurchschnittlich langsam gegangen sein sollte, müsse sich das beleuchtete Fahrzeug der Erstbeklagten bei Betreten der Fahrbahn dem Kollisionspunkt bereits bis auf 30 m bis 40 m genähert haben. Bei dieser Sachlage hätte die Klägerin die durch den Pkw drohende Gefahr erkennen können und es unterlassen müssen, die Fahrbahn zu betreten.
Hingegen könne ein schuldhaftes Verhalten der Erstbeklagten nicht festgestellt werden, da der feststehende Sachverhalt einen Schuldvorwurf nicht rechtfertige, die Einzelheiten des Unfallhergangs nicht aufgeklärt seien und Ansatzpunkte für die weitere Aufklärung fehlten. Die Fahrgeschwindigkeit der Erstbeklagten sei nicht exakt zu bestimmen, weil objektive Befunde nicht vorhanden und die Angaben der Parteien zu diesem Punkt widersprüchlich seien. Auch aus der Art der Verletzungen der Klägerin ließen sich keine Rückschlüsse auf die Fahrgeschwindigkeit der Erstbeklagten ziehen. Wegen des untypischen und nicht näher aufklärbaren Unfallverlaufs lasse sich auch nicht feststellen, daß die Klägerin weniger schwerwiegende Verletzungen erlitten hätte, wenn die Erstbeklagte mit geringerer Geschwindigkeit gefahren wäre.
Selbst bei einer deutlichen Überschreitung der beim Fahren auf Sicht zulässigen Geschwindigkeit sei ein Schuldvorwurf nicht gerechtfertigt. In diesem Fall sei die Geschwindigkeit für den Unfall nicht ursächlich gewesen, weil auch bei Einhaltung der beim Fahren mit Abblendlicht zu beachtenden Geschwindigkeit von etwa 50 km/h bis 60 km/h (§ 3 Abs. 1 Satz 4 StVO) der Unfall für die Erstbeklagte nicht vermeidbar gewesen wäre. Sie habe nämlich auch im Hinblick auf die gegenüberliegende Gaststätte und selbst dann, wenn sie die Klägerin schon beim Ersteigen der Böschung des Grabens wahrgenommen habe, nicht damit zu rechnen brauchen, daß diese trotz des herannahenden Pkw die Fahrbahn betreten werde. Auch sei die Erstbeklagte weder wegen der Kurve noch wegen des allgemeinen Sichtfahrgebots (§ 3 Abs. 1 Satz 4 StVO) verpflichtet gewesen, eine geringere als die von ihr eingeräumte Geschwindigkeit von 50 km/h bis 60 km/h einzuhalten, die auch bei Abblendlicht nicht überhöht gewesen sei.
Von einem Sachverständigengutachten seien keine weiteren Aufschlüsse zu erwarten. Hinreichende Anhaltspunkte seien weder für die Fahrgeschwindigkeit der Erstbeklagten noch für die Gehgeschwindigkeit der Klägerin vorhanden. Außerdem stehe der Kollisionsort auf der Fahrbahn nicht fest und insbesondere nicht die Wegstrecke, die die Klägerin bis zum Erreichen des Kollisionsorts zurückgelegt habe. Deren Angaben zur Lage des Kollisionsorts seien unzuverlässig. Da sie an den Unfallverlauf keine konkrete Erinnerung habe, müsse es sich bei ihrer Behauptung, sie habe 1 m bis 1,5 m auf der Fahrbahn zurückgelegt, um eine Schätzung handeln, die nicht auf ihrer eigenen Wahrnehmung beruhe und deshalb nur spekulativ sei.
Die den Beklagten zuzurechnende Betriebsgefahr trete angesichts des Verschuldens der Klägerin selbst dann zurück, wenn die Betriebsgefahr des Pkw durch eine 50 km/h überschreitende Geschwindigkeit erhöht gewesen sei. Das Maß des Verschuldens der Klägerin, die nicht nur den Pkw habe wahrnehmen, sondern auch seine Geschwindigkeit einschätzen müssen, sei nämlich um so größer, je höher die Geschwindigkeit des Pkw und je größer die von ihm ausgehende Gefahr gewesen sei.
II.
Diese Ausführungen halten revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand, weil das Berufungsurteil nicht von hinreichenden tatsächlichen Feststellungen getragen wird und Widersprüche aufweist.
1. Soweit die Revision allerdings einen durchgreifenden Fehler des Berufungsurteils darin sehen will, daß die Erstbeklagte eine Geschwindigkeit von 70 km/h zugestanden habe und dieses Geständnis vom Berufungsgericht übersehen worden sei, kann dem nicht gefolgt werden. Auch wenn die Erstbeklagte im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren ihre Geschwindigkeit mit 70 km/h angegeben hat, hat sie im vorliegenden Rechtsstreit in Erwiderung auf die Klageschrift, in der die Klägerin eine Geschwindigkeit von mindestens 70 km/h genannt hat, vorgetragen, ihre Geschwindigkeit habe auf keinen Fall über 70 km/h gelegen und wörtlich hinzugefügt „es mögen auch 60 km/h oder vielleicht nur 50 km/h gewesen sein”. Bei dieser Sachlage kann ein Geständnis der Erstbeklagten im Sinne des § 288 ZPO über eine Fahrgeschwindigkeit von 70 km/h nicht angenommen werden.
2. Mit Recht rügt die Revision jedoch, daß das Berufungsgericht zum Unfallhergang und insbesondere zu der von der Erstbeklagten gefahrenen Geschwindigkeit kein Sachverständigengutachten eingeholt hat.
a) Gegenüber der Auffassung des Berufungsgerichts, daß es hierfür an Anknüpfungstatsachen fehle, verweist sie auf die Feststellung im Berufungsurteil, wonach keine Brems- oder Blockierspuren festgestellt worden seien sowie auf den für das Revisionsverfahren als richtig zu unterstellenden Vortrag der Klägerin, daß die Bremsleuchten am Pkw erst nach der Kollision aufgeleuchtet hätten und der Pkw sodann 20 m zurückgesetzt worden sei. Die Revision will hieraus herleiten, daß die Beklagte noch mit einer erheblich schnelleren Geschwindigkeit als 70 km/h gefahren sei. Dies hat die Klägerin in den Tatsacheninstanzen behauptet und durch Sachverständigengutachten unter Beweis gestellt, das auch ergeben werde, daß sie mit dem Überqueren der Fahrbahn begonnen habe, als der Pkw noch nicht in Sicht gewesen sei.
Angesichts dieser Beweisantritte und der dargestellten Anknüpfungstatsachen sieht die Revision mit Recht einen Verstoß gegen § 286 ZPO darin, daß sich das Berufungsgericht wie bereits das Landgericht hinsichtlich des Unfallhergangs mit Vermutungen und Unterstellungen begnügt hat, anstatt durch Einschaltung eines Sachverständigen und erforderlichenfalls auch durch Anhörung des von der Klägerin für das Aufleuchten der Bremslichter und das Zurücksetzen des Pkw nach der Kollision benannten Zeugen W. die gebotene Sachverhaltsaufklärung vorzunehmen.
Mit Recht beanstandet die Revision ferner, daß das Berufungsgericht ohne Hinzuziehung eines Sachverständigen oder die andernfalls erforderliche Darlegung eigener Sachkunde (vgl. Senatsurteil vom 2. März 1993 - VI ZR 104/92 - VersR 1993, 749) zum Ergebnis gelangt ist, auch aus der Art der Verletzungen der Klägerin ließen sich keine Rückschlüsse auf die Fahrgeschwindigkeit der Erstbeklagten ziehen. Gleiches gilt für die Auffassung des Berufungsgerichts, es lasse sich nicht feststellen, daß die Klägerin weniger schwerwiegende Verletzungen erlitten hätte, wenn die Erstbeklagte langsamer gefahren wäre.
b) Überdies erweist sich die Begründung, mit der das Berufungsgericht die Einholung eines Sachverständigengutachtens abgelehnt hat, in einem wichtigen Punkt als widersprüchlich. Insoweit heißt es nämlich in dem angefochtenen Urteil, daß insbesondere nicht feststehe, welche Wegstrecke die Klägerin auf der Fahrbahn bis zum Erreichen des Kollisionsorts zurückgelegt habe. In diesem Zusammenhang meint das Berufungsgericht, die von der Klägerin angegebene Strecke von 1 m bis 1,5 m sei „spekulativ”, während eben diese Gehstrecke an anderer Stelle des Urteils, nämlich zu Beginn der Entscheidungsgründe, aufgrund des unstreitigen Parteivorbringens festgestellt worden ist. Dieser Widerspruch ist offensichtlich und hat einen durchgreifenden Mangel bei der Tatsachenfeststellung zur Folge (§ 286 ZPO).
c) Als fehlerhaft erweist sich auch die vom Berufungsgericht geäußerte Auffassung, unabhängig von der Fahrgeschwindigkeit der Erstbeklagten stehe fest, daß die Klägerin die Fahrbahn zu einer Zeit betreten habe, als der herannahende Pkw bereits gut sichtbar gewesen sei. Woraus sich diese Feststellung ergeben soll, ist nicht erkennbar. Der Verweis des Berufungsgerichts auf die Berechnung im erstinstanzlichen Urteil vermag die erforderliche Feststellung nicht zu ersetzen, weil das Landgericht ebenfalls keine Feststellung getroffen, sondern lediglich auf zwei verschiedene Sachverhaltsvarianten abgestellt hat. Weshalb das Berufungsgericht eine dieser Varianten zum Nachteil der Klägerin für feststehend erachtet, ist dem angefochtenen Urteil nicht zu entnehmen. Im übrigen liegt auf der Hand, daß der Zeitpunkt, in dem die Klägerin den Pkw erstmals erkennen konnte, keinesfalls unabhängig von dessen Fahrgeschwindigkeit sein kann.
3. Durchgreifenden Bedenken begegnet schließlich auch die Auffassung des Berufungsgerichts, daß selbst bei deutlicher Überschreitung der beim erforderlichen Fahren auf Sicht zulässigen Geschwindigkeit durch die Erstbeklagte ein Schuldvorwurf nicht gerechtfertigt sei, weil in diesem Fall die überhöhte Geschwindigkeit für den Unfall nicht ursächlich gewesen wäre.
a) Das Berufungsgericht begründet dies damit, daß der Unfall auch bei Einhaltung der beim Fahren mit Abblendlicht zu beachtenden Geschwindigkeit von 50 km/h bis 60 km/h für die Erstbeklagte nicht vermeidbar gewesen wäre, weil sie mit einem Betreten der Fahrbahn durch die Klägerin auch dann nicht habe rechnen müssen, wenn sie diese beim Ersteigen der Böschung des Grabens wahrgenommen habe. Indessen muß ein Kraftfahrer in besonderen Fällen auch außerhalb geschlossener Ortschaften auf Fußgänger achten, die sich auf dem Bankett aufhalten (vgl. Senatsurteil vom 10. Januar 1989 - VI ZR 99/88 - VersR 1989, 490). Die Revision verweist insoweit auf die unbestrittene Sachdarstellung der Klägerin, wonach sich auf der anderen Seite der Fahrbahn, nämlich vor der Gaststätte, acht bis zehn Personen aufhielten. Unter diesen Umständen kann bei der Frage, welche Geschwindigkeit die Erstbeklagte angesichts der örtlichen und zeitlichen Gegebenheiten einhalten durfte, nicht unberücksichtigt bleiben, daß sie bereits wegen dieser Fußgänger vor der deutlich erkennbaren Gaststätte mit unbesonnenem Verhalten rechnen mußte, so daß sie aus diesem Grund entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts eine Pflicht zur Beobachtung beider Fahrbahnränder traf.
b) Soweit das Berufungsgericht meint, die Erstbeklagte habe auch im Hinblick auf das Durchfahren einer Kurve unmittelbar vor der Unfallstelle keinen Anlaß gehabt, eine geringere als die von ihr eingeräumte Geschwindigkeit von 50 km/h bis 60 km/h einzuhalten, bedarf dies keiner abschließenden Beurteilung, weil insoweit noch tatsächliche Feststellungen über die von der Erstbeklagten tatsächlich eingehaltene Geschwindigkeit in Betracht kommen.
4. Mangels hinreichender tatsächlicher Feststellungen kann auch nicht abschließend zu den Ausführungen des Berufungsgerichts Stellung genommen werden, wonach die den Beklagten zuzurechnende Betriebsgefahr des Pkw gänzlich hinter dem Verschulden der Klägerin zurücktrete. Schon jetzt ist allerdings darauf hinzuweisen, daß diese Auffassung sich als fehlerhaft erweisen könnte, wenn die Betriebsgefahr des Pkw durch eine überhöhte und den Sichtverhältnissen nicht angepaßte Geschwindigkeit wesentlich erhöht gewesen sein sollte (OLG Celle, ZfS 1991, 150; Jagusch/Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 34. Aufl., StVO § 3 Rdn. 55 c). Im übrigen wird das Berufungsgericht zu beachten haben, daß bei der Frage eines Mitverschuldens der Klägerin zu deren Lasten nur solche Umstände berücksichtigt werden dürfen, die einwandfrei festgestellt sind.
Unterschriften
Groß, Dr. Lepa, Dr. Müller, Dr. Dressler, Dr. Greiner
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 23.02.1999 durch Holmes, Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen
Haufe-Index 539026 |
NJW 1999, 1860 |
Nachschlagewerk BGH |
MDR 1999, 674 |
NZV 1999, 242 |
VRS 1999, 6 |
VersR 1999, 644 |
ZfS 1999, 283 |