Leitsatz (amtlich)
Eine Satzungsbestimmung, wonach der Aufsichtsrat nur beschlußfähig sein soll, wenn mindestens die Hälfte der an der Beschlußfassung teilnehmenden Aufsichtsratsmitglieder der Anteilseigner sind und sich unter ihnen der Vorsitzende des Aufsichtsrats befindet, ist unzulässig.
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des 15. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 20. Juni 1980 wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.
Tatbestand
Die Beklagte ist eine Aktiengesellschaft, deren Aufsichtsrat sich nach § 1 Abs. 1, § 7 Abs. 1 Nr. 2 MitbestG aus je acht Aufsichtsratsmitgliedern der Anteilseigner und der Arbeitnehmer zusammensetzt. Die letzteren sind die Kläger; die Klägerin zu 2 ist Stellvertreterin des Vorsitzenden. Am 29. Juni 1978 beschloß die Hauptversammlung mit der gesetzlichen Mehrheit eine Reihe von Satzungsänderungen, darunter folgende Fassung des § 12 Abs. 3:
„Der Aufsichtsrat ist beschlußfähig, wenn die Hälfte der Mitglieder, aus denen er insgesamt zu bestehen hat, an der Beschlußfassung teilnimmt, mindestens die Hälfte der an der Beschlußfassung Teilnehmenden Vertreter der Anteilseigner sind und sich unter ihnen der Vorsitzende des Aufsichtsrats befindet.”
Die Kläger halten diese Regelung aus aktien- und mitbestimmungsrechtlichen Gründen für unzulässig. Sie haben beantragt, ihre Nichtigkeit festzustellen.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat festgestellt, daß der satzungsändernde Hauptversammlungsbeschluß vom 29. Juni 1978 insoweit nichtig sei, als er die Beschlußfähigkeit des Aufsichtsrats davon abhängig macht, daß mindestens die Hälfte der Teilnehmer Vertreter der Anteilseigner sind und sich unter ihnen der Vorsitzende befindet. Mit der Revision, deren Zurückweisung die Kläger beantragen, möchte die Beklagte die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils erreichen.
Entscheidungsgründe
I. Die Kläger erblicken in dem satzungsändernden Hauptversammlungsbeschluß vom 29. Juni 1978 insofern einen Verstoß gegen das Mitbestimmungsrecht, als danach die Beschlußfähigkeit des Aufsichtsrats an weitergehende Voraussetzungen als die des § 28 MitbestG in Verbindung mit § 108 Abs. 2 Satz 4 AktG geknüpft sein soll. Nach der zutreffenden Ansicht des Berufungsgerichts (Urteilsabdr. in NJW 1980, 2137; LG-Urt.: NJW 1980, 236) machen sie damit in zulässiger Weise einen Nichtigkeitsgrund im Sinne des § 241 Nr. 3 AktG geltend. Die gegenteilige Auffassung der Revision verkennt das besondere gesellschaftspolitische Gewicht, das der Gesetzgeber dem Mitbestimmungsgesetz als einem auf das Allgemeinwohl ausgerichteten Gesetz beigemessen hat (BVerfGE 50, 290, 350 f). Das schließt es grundsätzlich aus, einzelnen seiner materiell- rechtlichen Bestimmungen das öffentliche Interesse im Sinne von § 241 Nr. 3 AktG abzusprechen. Dies gilt jedenfalls für die hier infrage kommenden Vorschriften der §§ 25 ff MitbestG, die als in sich geschlossenes System von Normen über Rechte, Pflichten und innere Ordnung des Aufsichtsrats ein Kernstück des Gesetzes bilden.
II. Sachlich kann die Revision im Ergebnis ebenfalls keinen Erfolg haben.
1. Fraglich ist allerdings, ob sich die Nichtigkeit der streitigen Regelung schon damit begründen läßt, § 28 MitbestG in Verbindung mit § 108 Abs. 2 Satz 4 AktG regele die Beschlußfähigkeit des Aufsichtsrats für die von § 1 Abs. 1 MitbestG erfaßten Unternehmen abschließend; er sei daher nicht nur als Mindestregelung zu verstehen, sondern verbiete auch jede satzungsmäßige Verschärfung der Anforderungen an die Beschlußfähigkeit (so Säcker, JZ 1980, 82, 84 ff; Raiser, NJW 1980, 209 ff; Hanau/Ulmer, MitbestG, 1981, § 28 Rdn. 4 m.w.N.). Aus Text und Entstehungsgeschichte des Gesetzes läßt sich dies nicht zwingend herleiten (vgl. hierzu Canaris, DB 1981, Beil. 14 S. 6 f m.w.N.). Entgegen den Ausführungen des Berufungsgerichts besteht auch nicht notwendig ein Widerspruch zwischen dem Zweck des § 108 Abs. 2 Satz 4 AktG, den Aufsichtsrat im Unternehmensinteresse auch dann funktionsfähig zu erhalten, wenn er durch den Ausfall von Mitgliedern zeitweise nicht mehr vorschriftsmäßig besetzt ist, und der streitigen Satzungsklausel. Denn diese betrifft gar nicht den in § 108 Abs. 2 Satz 4 AktG behandelten Fall einer zeitweiligen Unterbesetzung des Aufsichtsrats, sondern sie soll ersichtlich auch dann zum Zuge kommen, wenn der Aufsichtsrat die volle Sollstärke aufweist und nur nicht alle amtierenden Mitglieder an einer gerade anstehenden Abstimmung teilnehmen. Ein Beschlußhindernis, das allein hierin begründet liegt, wird im Gegensatz zu einer Unterbesetzung des Aufsichtsrats durch eine neue Sitzung, notfalls mit Hilfe schriftlicher Stimmabgabe (§ 108 Abs. 3 AktG), in der Regel schnell und leicht zu beheben sein.
Ob sich § 28 und § 29 Abs. 2 MitbestG ein allgemeines Prinzip der Funktionsfähigkeit des Aufsichtsrats entnehmen läßt, das, über die Rechtslage nach dem Aktiengesetz (vgl. BGHZ 76, 191, 193 f) und den unmittelbaren Regelungsbereich jener Vorschriften hinausreichend, Satzungsbestimmungen der vorliegenden Art entgegensteht (so Hanau/Ulmer aaO § 25 Rdn. 11), kann offenbleiben. Denn § 12 Abs. 3 der Satzung ist in dem vom Berufungsurteil betroffenen Teil schon aus anderen Gründen nichtig.
2. Mit Recht sieht das Berufungsgericht nämlich in der Koppelung der Beschlußfähigkeit an die Teilnahme einer bestimmten Anzahl von Aufsichtsratsmitgliedern der Anteilseigner und des Vorsitzenden einen klaren Verstoß gegen den Grundsatz, daß alle Mitglieder des Aufsichtsrats, wenn sie erst einmal, gleichviel von welcher Seite, in dieses Amt berufen sind, die gleichen Rechte und Pflichten haben. Dieser tragende aktienrechtliche Grundsatz ist, wie schon in § 4 Abs. 3 MontanMitbestG, so auch über § 25 Abs. 1 Nr. 1 in das Mitbestimmungsgesetz von 1976 eingegangen, das ihn auch dort, wo es ihn aus besonderen Gründen für ganz bestimmte Fälle durchbricht, als Regel voraussetzt. Mit ihm ist es zunächst unvereinbar, daß der Aufsichtsrat beschlußunfähig sein soll, wenn weniger als die Hälfte der Beteiligten Aufsichtsratsmitglieder der Anteilseigner sind, wogegen seine Beschlußfähigkeit nicht darunter leiden soll, daß die Zahl der abstimmenden Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer unter der Hälfte aller Teilnehmer liegt. Damit wird der Anwesenheit der von den Arbeitnehmern gewählten Mitglieder für die Beschlußfähigkeit ein geringeres Gewicht beigemessen als derjenigen der anderen Mitglieder: Sie sollen nicht zählen, wenn sie die Mehrheit bilden, während eine mehrheitliche Teilnahme von Aufsichtsratsmitgliedern der Anteilseigner unschädlich sein soll.
Der Grundsatz der (individuellen) Gleichbehandlung aller Aufsichtsratsmitglieder und die Frage einer Gleichbehandlung der beiden Gruppen im Aufsichtsrat sind zwar verschiedene Dinge (Rittner, DB 1980, 2493, 2502). Aber eine Regelung, die, wie hier, einseitig den Angehörigen der einen Gruppe im Gegensatz zu denen der anderen bei zahlenmäßigem Überwiegen das Recht abspricht, auf eine Entscheidung dringen und dann ihre Stimmen auf die Waagschale werfen zu können, entwertet im Ergebnis zugleich das Stimmrecht jedes einzelnen Mitglieds der Gruppe im Verhältnis zu dem der anderen Mitglieder.
Eine solche Ungleichbehandlung kann die Revision auch nicht damit rechtfertigen, daß sie lediglich dazu führe, das im Gesetz selbst angelegte „leichte Übergewicht” der Anteilseignerseite gegen Zufälligkeiten abzusichern und so die gesetzliche Ordnung des mitbestimmten Aufsichtsrats voll zu verwirklichen. Dabei kommt es nicht darauf an, inwieweit das Gesetz Differenzierungen in der Behandlung von Aufsichtsratsmitgliedern aus sachlichen Gründen zuläßt. Unterscheidungen, die an die Zugehörigkeit zu der einen oder anderen Gruppe anknüpfen, sind jedenfalls unzulässig, es sei denn, sie seien im Gesetz ausdrücklich vorgesehen. Solche ausdrücklichen Vorschriften enthalten § 27 Abs. 2 und 3 sowie § 32 MitbestG und, wenn man das Zweitstimmrecht des Vorsitzenden – was nicht notwendig der Fall zu sein braucht – den Anteilseignern zurechnet, § 29 Abs. 2, § 31 Abs. 4 und 5 MitbestG. Sie sollen einerseits dem Gedanken der nahezu gleichberechtigten und gleichgewichtigen Mitbestimmung der Arbeitnehmer, andererseits den Erfordernissen des Verfassungsrechts und der Funktionsfähigkeit der Unternehmen Rechnung tragen. Diese Vorschriften betreffen ganz bestimmte und genau umschriebene Tatbestände und sind als Bestandteile einer in sich abgeschlossenen Regelung einer Erweiterung durch die Satzung, jedenfalls im Sinne eines allgemeinen „Ungleichgewichts der Gruppen”, so wie es die Revision versteht, nicht zugänglich (Raiser, NJW 1980, 209, 211).
3. Im Ergebnis zutreffend hält das Berufungsgericht den beanstandeten Beschluß auch insoweit für nichtig, als die beanstandete Neufassung des § 12 Abs. 3 der Satzung die Teilnahme des Aufsichtsratsvorsitzenden zur unabdingbaren Voraussetzung für das Zustandekommen eines Beschlusses macht. Es meint, diese Klausel nur so auslegen zu können, daß der Vorsitzende sich unter den an der Beschlußfassung teilnehmenden Vertretern der Anteilseigner befinden müsse, der Aufsichtsrat also stets beschlußunfähig sei, wenn sein Vorsitzender nicht zu den von den Aktionären bestellten Mitgliedern gehöre. So verstanden, wäre die Bestimmung schon deshalb nichtig, weil § 27 MitbestG die Wählbarkeit zum Vorsitzenden nicht auf Aufsichtsratsmitglieder der Anteilseigner beschränkt. Das verkennt auch die Revision nicht. Sie meint aber, die Bestimmung sei nicht mit dem Berufungsgericht im Sinne einer notwendigen Koppelung von Teilnahme und Gruppenzugehörigkeit des Vorsitzenden zu verstehen; die Worte „unter ihnen” bezögen sich vielmehr auf die „an der Beschlußfassung Teilnehmenden” und nicht auf die unmittelbar vorausgehenden Worte „Vertreter der Anteilseigner”. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts wäre eine solche mit dem Wortlaut zu vereinbarende Deutung nicht ausgeschlossen, wenn sie dazu führen könnte, der Klausel einen gesetzmäßigen Inhalt zu geben. Aber auch in dieser Auslegung ist die Bestimmung unzulässig, weil sie die Rechtsstellung des Vorsitzenden gesetzwidrig verstärkt (Geßler in Geßler/Hefermehl/Kropff, AktG, § 108 Anm. 21, 35; Mertens in Köln. Komm. z. AktG § 108 Anm. 42 f, 52; Säcker, JZ 1980, 82, 86; a.M. Meyer-Landrut in Großkomm. z. AktG, 3. Aufl. § 108 Anm. 10).
Nach § 29 Abs. 2, § 31 Abs. 4 und 5 MitbestG hat der Vorsitzende lediglich die Befugnis, zur „Pattauflösung” bei erneuter Abstimmung eine Zweitstimme einzusetzen. Dabei geht das Gesetz, das in erster Linie auf loyale Zusammenarbeit und nicht auf Konflikt angelegt ist, davon aus, daß zunächst versucht werden soll, zu einheitlichen Auffassungen zu kommen (BVerfGE 50, 290, 324, 329 f). Erst wenn dies nicht gelingt, hat der Vorsitzende im Rahmen seines pflichtmäßigen Ermessens die Möglichkeit, ist aber nicht dazu gezwungen, in einer neuen Abstimmung, wenn nötig, seine Zweitstimme abzugeben, um eine Entscheidung herbeizuführen.
Hierüber geht die von den Klägern bekämpfte Satzungsbestimmung weit hinaus. Dafür ist nicht entscheidend, daß der Vorsitzende nach ihr praktisch ein Vetorecht in der Weise ausüben könnte, daß er absichtlich, um die Beschlußfassung zu blockieren, einer Sitzung fernbleibt und hierdurch den Aufsichtsrat als Entscheidungsorgan zeitweise lahmlegt. Denn pflichtwidrige Verhaltensweisen können bei der Beurteilung, welchen Freiraum für eigene Gestaltungen das, wie ausgeführt, vorrangig auf Kooperation abgestellte Mitbestimmungsgesetz den Gesellschaften noch belassen hat, nicht den Ausschlag geben; Mißbräuchen läßt sich rechtlich auf andere Weise begegnen (Heinsius, AG 1977, 218, 284; Preusche, AG 1980, 125, 128; Canaris aaO S. 7 f; vgl. auch BVerfGE 50, 290, 374 f). Es ist aber auch an eine weder gewollte noch vorausgesehene und deshalb im Wege der Stimmbotenschaft nicht zu behebende Verhinderung des Vorsitzenden zu denken. Sie würde bei der vorliegenden Regelung einen Beschluß des Aufsichtsrats ohne Rücksicht auf die Zusammensetzung des verbleibenden Teilnehmerkreises und selbst dann unmöglich machen, wenn es sonst unabhängig von der Anwesenheit des Vorsitzenden zu einer Einigung oder wenigstens zu einem Mehrheitsbeschluß käme. Damit würde der stimmberechtigten Teilnahme des Vorsitzenden ein ungleich größeres Gewicht beigelegt, als ihr im Verhältnis zu der anderer Mitglieder zukommt. Zugleich wäre damit die Funktion des in § 27 MitbestG vorgeschriebenen Stellvertreters bei Beschlußsitzungen weitgehend ausgeschaltet. Das widerspräche insofern dem Gesetz, als dieses dem Stellvertreter zwar die Zweitstimme versagt (§ 29 Abs. 2 Satz 3, § 31 Abs. 4 Satz 3 MitbestG), dabei aber gedanklich gerade voraussetzt, daß der Stellvertreter bei Verhinderung des Vorsitzenden auch solche Sitzungen leiten und zu Ende führen kann, in denen Beschlüsse zu fassen sind.
4. Die Ansicht der Revision, die Arbeitnehmerseite habe keinen rechtlich geschützten Anspruch darauf, das unplanmäßige Übergewicht einer Zufallsmehrheit infolge Abwesenheit von Aufsichtsratsmitgliedern der Anteilseigner bei einer Beschlußfassung ausnutzen zu können, geht von einer unzutreffenden Sicht aus. Die Nichtigkeit der beanstandeten Satzungsbestimmung folgt nicht aus einem Rechtsanspruch auf die Chance, mit Hilfe einer Zufallsmehrheit den Standpunkt der Arbeitnehmerseite durchzusetzen, sondern aus dem Recht eines jeden Mitglieds auf gleichberechtigte und gleichgewichtige Teilnahme an den Sitzungen des Aufsichtsrats. Ob es in einer Gesellschaft jemals zu einer Lage kommt, in der die Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer infolge zufälligen zahlenmäßigen Überwiegens durch geschlossene Stimmabgabe einen bestimmten Beschluß durchzusetzen vermögen, ist ungewiß und hängt nicht von ihrem Willen ab. Tritt aber einmal dieser Fall ein, so bedeutet der dann unter Umständen entgegen dem Standpunkt der Anteilseigner ergehende Mehrheitsentscheid noch keinen unzulässigen Eingriff in die verfassungsmäßig geschützte Rechtsstellung der Anteilseigner, dem durch eine Ungleichbehandlung von Mitgliedern in der Form der vorliegenden Satzungsbestimmung begegnet werden müßte. Denn das leichte Übergewicht der Anteilseigner, das vor allem durch § 27 Abs. 1 und 2, § 29 Abs. 2 und § 31 MitbestG gesichert und bei Zustimmungsvorbehalten durch das Letztentscheidungsrecht der Hauptversammlung nach § 111 Abs. 4 Satz 3 AktG noch verstärkt ist, wird dem Grundsatz nach nicht durch die Möglichkeit infrage gestellt, daß die Aufsichtsratsmitglieder der Anteilseigner sich im Einzelfall bei einer Abstimmung trotz der Zulässigkeit schriftlicher Stimmabgabe (§ 108 Abs. 3 AktG) einmal nicht durchsetzen können (BVerfGE 50, 290, 328 ff).
Fundstellen
Haufe-Index 647959 |
BGHZ, 151 |
NJW 1982, 1530 |
ZIP 1982, 442 |