Boykott des Aufsichtsrats durch dauerhaftes Fernbleiben?
Zum Hintergrund
Bleibt ein Mitglied eines dreiköpfigen Aufsichtsrats einer Sitzung fern, ist der Aufsichtsrat nicht beschlussfähig. Dies kann den Aufsichtsrat funktionsunfähig machen. Die Aktionäre können ein solches Aufsichtsratsmitglied zwar – auch ohne Vorliegen eines wichtigen Grundes – jederzeit abberufen, es bedarf jedoch der gesetzlich oder satzungsmäßig hierfür vorgesehenen, meist qualifizierten Mehrheiten. Der Aufsichtsrat selbst kann bei Vorliegen eines wichtigen Grundes in der Person eines Aufsichtsratsmitglieds – das dauerhafte Fernbleiben dürfte einen solchen wichtigen Grund darstellen – einen Antrag auf gerichtliche Abberufung stellen, sofern er beschlussfähig ist und wiederum die entsprechenden Mehrheiten gegeben sind. Die gerichtliche Ergänzung des Aufsichtsrats ist hingegen nur möglich, wenn der Aufsichtsrat über eine gewisse Zeit unterbesetzt ist, da ihm nicht die erforderliche Anzahl an Mitgliedern angehört.
Mit seiner Entscheidung beendet der BGH eine Diskussion in der Literatur, ob und inwieweit ein Aufsichtsratsmitglied, das die Arbeit des Gremiums durch Fernbleiben boykottiert, einem ausgeschiedenen Aufsichtsratsmitglied gleichgesetzt und der Aufsichtsrat gerichtlich ergänzt werden kann. So begrüßenswert diese Klarheit erscheinen mag, so sehr kann sie die Praxis vor unübersehbare Schwierigkeiten stellen und die Gesellschaft dauerhaft handlungsunfähig machen.
Zum Sachverhalt
Eine Aktiengesellschaft mit einem dreiköpfigen Aufsichtsrat hatte zwei Aktionäre, zwei Gesellschaften, die hälftig beteiligt waren. Ein Aufsichtsratsmitglied war die Mutter der Gesellschafter einer der Aktionäre und somit nahestehende Person. Diese Gesellschafter und das Aufsichtsratsmitglied bildeten eine Erbengemeinschaft. Als die Aktiengesellschaft Ansprüche gegenüber dieser Erbengemeinschaft geltend machen wollte, wozu der Vorstand der Zustimmung des Aufsichtsrats bedurfte, blieb das Aufsichtsratsmitglied den Aufsichtsratssitzungen fern. Damit war der Aufsichtsrat beschlussunfähig und die Gesellschaft handlungsunfähig.
Zur Beschlussfähigkeit
Gemäß § 108 Abs. 2 Satz 2 AktG ist der Aufsichtsrat vorbehaltlich einer anderweitigen gesetzlichen oder satzungsmäßigen Bestimmung nur beschlussfähig, wenn mindestens die Hälfte der Mitglieder, aus denen er nach Gesetz oder Satzung zu bestehen hat, an der Beschlussfassung teilnimmt. Auf den ersten Blick würden demnach zwei Mitglieder für die Beschlussfassung ausreichen. Wie nachfolgender Satz 3 der genannten Bestimmung jedoch zwingend festlegt, haben immer mindestens drei Mitglieder an der Beschlussfassung des Aufsichtsrats teilzunehmen. Umgekehrt gesprochen: Ein einzelnes Mitglied kann jede Beschlussfassung des Aufsichtsrats blockieren, indem es an der Beschlussfassung nicht teilnimmt, insbesondere den Sitzungen fernbleibt.
Selbst in größeren Gremien können dauerhaft abwesende Aufsichtsratsmitglieder die Beschlussfassung boykottieren, wenn Satzung oder Geschäftsordnung über die gesetzlichen Anforderungen hinausgehende oder sehr spezielle Teilnahme- und Mehrheitserfordernisse vorsehen.
Zu den Schwächen der Abhilfemöglichkeiten in der Praxis
1. Die Abberufung durch die Hauptversammlung
Ein Aufsichtsratsmitglied, das seinen Aufgaben nicht nachkommt, insbesondere an Sitzungen und Beschlussfassungen nicht teilnimmt, kann durch die Hauptversammlung jederzeit abberufen werden, § 103 Abs. 1 AktG. Auf die Untätigkeit kommt es dabei nicht einmal an, es bedarf also für die Abberufung keines Grundes. Eine – oftmals unüberwindbare – Hürde liegt lediglich darin, dass Mitglieder des Aufsichtsrats zwar mit einfacher Mehrheit gewählt, jedoch von Gesetzes wegen nur mit Dreiviertel der Stimmen abberufen werden können, sofern nicht die Satzung eine andere Mehrheit und weitere Erfordernisse bestimmt, was äußerst selten der Fall ist; es soll ein beliebiges „Hinein-Hinaus“ vermieden werden. Verfügt ein Aktionär oder ein Aktionärslager also über die einfache Mehrheit, kann der Aufsichtsrat zwar allein nach deren Vorstellung besetzt werden, eine Abberufung ist hingegen nur mit entsprechender Unterstützung weiterer Aktionäre möglich. Selten wird der Aufsichtsrat, insbesondere von kleinen Aktiengesellschaften, jedoch allein nach dem Willen des über die einfache Mehrheit verfügenden Mehrheitsaktionärs besetzt. Die Aktionäre versuchen vielmehr die Verhältnisse der Kapitalbeteiligungen oder Familienstämme und dergleichen abzubilden.
In der Konstellation mit zwei paritätisch beteiligten Aktionären wird neben zwei Repräsentanten dieser Anteilseigner oftmals ein neutrales Aufsichtsratsmitglied gewählt; alternativ teilen sich die Aktionärslager in entsprechenden Verabredungen die Besetzung des Aufsichtsrats einerseits und die des Vorstands andererseits auf. Der Boykott des Aufsichtsrats durch Fernbleiben von seinen Sitzungen stört diese Machtbalance empfindlich und kann in Streitfällen wegen der von Gesetzes wegen erforderlichen Dreiviertel-Mehrheit gerade nicht (mehr) durch die Abberufung dieses Mitglieds mittels Hauptversammlungsbeschluss gelöst werden.
2. Der Antrag des Aufsichtsrats auf gerichtliche Abberufung
Darüber hinaus bietet das Gesetz nur eine Abhilfemaßnahme an. Liegt in der Person des Aufsichtsratsmitglieds ein wichtiger Grund vor, kann dieses vom Gericht abberufen werden, § 103 Abs. 3 AktG. Die gerichtliche Abberufung setzt jedoch einen Antrag des Aufsichtsrats selbst voraus. Damit steht bereits die rechtliche Frage im Raum, wie der Aufsichtsrat diese Antragstellung beschließen soll, wenn er aufgrund des Fernbleibens eines Mitglieds gar nicht beschlussfähig ist. Ungeachtet dessen stellt sich weiter die praktische Frage, wie in den vorgenannten Konstellationen eine Mehrheit innerhalb des Aufsichtsrats zustande kommen soll, wenn ein entsprechender Teil der Aufsichtsratsmitglieder im Lager des boykottierenden Mitglieds steht. Damit ist auch dieses Schwert in den meisten Fällen wohl viel zu stumpf und scheidet als Abhilfemöglichkeit aus.
3. Die gerichtliche Ergänzung bei Unterbesetzung
Somit kommt es zu der hier entschiedenen Frage, ob und inwieweit der Aufsichtsrat gemäß § 104 Abs. 1 AktG gerichtlich ergänzt werden kann. Den Antrag hierzu kann nämlich unter anderem auch der Vorstand, ein einzelnes Aufsichtsratsmitglied oder ein einzelner Aktionär stellen. Bei einem Dauerboykott wird nach dieser Auffassung angenommen, dass dem Aufsichtsrat zumindest faktisch nicht die zur Beschlussfähigkeit nötige Zahl von Mitgliedern angehört.
Dieser Annahme ist der BGH nun entgegengetreten. Das dauerhafte Fernbleiben ist nicht mit dem Ausscheiden, etwa durch Tod oder Niederlegung, zu vergleichen. Damit bleibt nur die Möglichkeit der Abberufung durch die Hauptversammlung oder – bei Annahme eines wichtigen Grundes und Zustandekommen eines Antrags des Aufsichtsrats – durch das Gericht. Im Wege teleologischer Reduktion weitet der BGH im Zuge seiner Entscheidung die Beschlussfähigkeit des § 108 Abs. 2 Satz 3 AktG über seinen ausdrücklichen Wortlaut hinaus aus, indem er dem Aufsichtsrat zubilligt, über diesen Antrag auf gerichtliche Abberufung aus wichtigem Grund auch ohne Beteiligung des boykottierenden Mitglieds, d.h. durch nur zwei Mitglieder beschließen zu können. Ähnliche pragmatische, wenngleich dogmatisch nicht überzeugende Lösungen hatte der BGH bereits im Falle eines Stimmverbots eines Aufsichtsratsmitglieds geschaffen (vgl. BGH, Urteil v. 2.4.2007, II ZR 325/05).
Zur Bedeutung der Entscheidung für die Praxis:
Die Auffassung des BGH ist konsequent und entspricht dem Wortlaut und der Intention des Gesetzes. Gleichwohl hilft sie betroffenen Gesellschaften, die das boykottierte Aufsichtsratsmitglied nicht einfach abwählen und durch ein neues ersetzen können, sondern stattdessen auf gerichtliche Hilfe angewiesen sind, kaum.
Letztlich klafft in diesen Fällen eine Lücke im Gesetz, die der BGH durch seine Entscheidung gerade nicht geschlossen hat – ob bewusst oder unbewusst, wird nicht klar. Letzteres erscheint nicht ausgeschlossen. So verweist der BGH ausdrücklich darauf, dass der Blockade des Aufsichtsrats durch Abberufung des boykottierenden Aufsichtsratsmitglieds zu begegnen sei. Des Weiteren, so der BGH, könnten die verbleibenden Aufsichtsratsmitglieder einen Antrag zu Gericht stellen, das boykottierende Aufsichtsratsmitglied aus wichtigem Grund abzuberufen. Dies kommt in vielen Fällen jedoch nicht in Betracht, da die Stimm- oder Interessenverhältnisse unter den Aktionären oder Aufsichtsratsmitgliedern dies nicht zulassen. Umgekehrt gesprochen: Vorstand und Aufsichtsrat nehmen gerichtliche Hilfe in der Regel erst dann in Anspruch, wenn die Aktionäre oder der Aufsichtsrat als Gremium sich gerade nicht auf die Abberufung des boykottierenden Aufsichtsratsmitglieds oder einen Antrag zu Gericht auf Abberufung aus wichtigem Grund verständigen können. Der Antrag auf Ergänzung des Aufsichtsrats dürfte im Fall eines dauerhaft boykottierenden Aufsichtsratsmitglieds Ultima Ratio sein. Anders, als der BGH meint, dürfte die vom BGH beschriebene Lösung in einer Vielzahl der Fälle gerade nicht in Betracht kommen.
Oftmals sind die Machtverhältnisse wohlaustariert und jede Störung dieser Machtbalance kann substanziellen Streit auslösen und damit Schaden verursachen. Hierunter hat in erster Linie die Gesellschaft, allen voran der Vorstand zu leiden; man denke insbesondere an Geschäfte, für die er nach Gesetz, Satzung oder Geschäftsordnung der Zustimmung des Aufsichtsrats bedarf. Welcher Schaden entstehen kann, wenn ein Aufsichtsrat aufgrund dessen über längere Zeit nicht handlungsfähig ist und wichtige Beschlüsse nicht fassen kann oder aber unliebsame Aufsichtsratsmitglieder dies bis an die Grenze der Strafbarkeit missbrauchen, hat der BGH offensichtlich nicht bedacht.
Zur Konfliktvermeidung
Stattdessen sollte, soweit es möglich ist, bereits in der Satzung oder – sofern aus Gründen der Rechtssicherheit nicht möglich – in einer Aktionärsvereinbarung Vorsorge für den Fall getroffen werden, dass ein Aufsichtsratsmitglied mittels Fernbleibens die Aufsichtsratstätigkeit boykottiert, d. h. bei Vorliegen eines wichtigen Grundes in seiner Person abberufen werden kann, im Zweifel durch bestimmte Aktionäre, insbesondere durch das „gegnerische“ Lager. Zumindest jedoch sollte ein Anspruch darauf vereinbart werden, dass die Hauptversammlung es abberuft und durch ein neues ersetzt. Außerdem kommt die Festlegung einer von § 103 Abs. 1 Satz 2 AktG abweichenden Dreiviertel-Stimmenmehrheit in der Satzung in Betracht.
(BGH, Beschluss v. 9.1.2024, II ZB 20/22)
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