Leitsatz (amtlich)
Bei der Schätzung eines unfallbedingten Verdienstausfalls ist nicht nur darauf abzustellen, daß der Verletzte im Hinblick auf sein Alter und die Überbesetzung des erstrebten Berufs (Hochschulbereich) sein Berufsziel auch ohne den Unfall nicht erreicht haben würde, sondern es ist auch zu berücksichtigen, daß es ihm in der Vergangenheit stets gelungen ist, eine berufliche Existenz auf geringem Niveau durchzusetzen.
Verfahrensgang
OLG Köln (Entscheidung vom 23.10.1987) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 3. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 23. Oktober 1987 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an den 27. Zivilsenat des Berufungsgerichts zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Klägerin macht gegen die Beklagten aus dem Verkehrsunfall vom 2. März 1973, bei dem sie u.a. eine Oberschenkelfraktur sowie einen Kieferbruch erlitten hat, Ansprüche auf Ersatz von Verdienstausfall und Schmerzensgeld geltend. Es steht rechtskräftig fest, daß der Ersatzanspruch für den Verdienstausfall dem Grunde nach zu 3/4 gerechtfertigt ist und der Klägerin ein Schmerzensgeld unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens von 1/4 zusteht. Ferner ist ein Verdienstausfallschaden der Klägerin bis zum 31. März 1975 außer Streit. Vorliegend geht es um den von der Klägerin geltend gemachten Verdienstausfall für die Zeit vom 1. April 1975 bis 31. Dezember 1981 und um die Höhe des Schmerzensgeldes.
Die am 5. Juli 1921 geborene Klägerin hatte nach einer Tätigkeit als staatlich geprüfte Sozialarbeiterin in England 1959 noch das Studium der Soziologie aufgenommen. Nach Abschluß des Studiums im Jahre 1965, bei dem sie die akademischen Grade des Bachelor und Master of Science erwarb, war sie zunächst bis 31. Juli 1972 im wesentlichen als "research fellow" im akademischen Bereich in Großbritannien, daneben auch in Österreich wissenschaftlich tätig. Ende 1972 hatte sie in der Bundesrepublik Deutschland einen zunächst auf ein Jahr befristetes Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft für eine Forschungsarbeit am Institut von Prof. Dr. K. an der Universität K. erhalten.
Die Klägerin ist der Auffassung, daß sie durch den Verkehrsunfall nicht nur ihre damalige Tätigkeit im Rahmen des Stipendiums der Deutschen Forschungsgemeinschaft, sondern auch die sichere Aussicht auf eine feste Anstellung im akademisch-wissenschaftlichen Bereich als Soziologin verloren habe. Ursache hierfür sei insbesondere die Immobilität infolge der Beinverletzung gewesen, die erst im April 1975 mit der Entfernung des Küntschernagels behoben worden sei. Als Folge des Ausbleibens des erwartenen beruflichen Fortkommens seien dann psychische Beeinträchtigungen depressiv-neurotischer Ausprägung hinzugekommen.
Die Beklagten haben einen Verdienstausfall für die Zeit nach dem 31. März 1975 sowie den geltend gemachten Schmerzensgeldanspruch der Höhe nach bestritten.
Das Landgericht hat der Klägerin für die Zeit bis zum 31. März 1975 Ersatz von Verdienstausfall und Schmerzensgeld von 15.000,00 DM zugesprochen, die darüber hinausgehende Klage auf Ersatz von Verdienstausfall bis zum 31. Dezember 1981 sowie auf ein Schmerzensgeld über den 31. März 1975 hinaus jedoch abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die hiergegen eingelegte Berufung der Klägerin als unbegründet zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren, soweit ihm bisher nicht entsprochen worden ist, weiter.
Entscheidungsgründe
I.
Das Berufungsgericht hat die Klägerin als beweisfällig dafür gehalten, daß das Ausbleiben ihres beruflichen Fortkommens für die Zeit ab April 1975 noch auf den Verkehrsunfall zurückzuführen ist. Es führt dazu im wesentlichen aus: Für die Zeit nach dem 31. März 1975 könne nach dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. M. von unfallbedingten Beschwerden somatischer Art und eine darauf beruhende Minderung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin nicht ausgegangen werden. Daß die unfallbedingte Unterbrechung ihrer Arbeit zu diesem Zeitpunkt ein erfolgreiches Fortkommen als Wissenschaftlerin verhindert habe, sei von der Klägerin nicht dargetan worden. Auch ohne den Unfall würde sie 1974, spätestens 1975 Einnahmen aus dem Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft verloren haben. Prof. Dr. K. sei 1974 emeritiert und hätte nichts für sie tun können. Für eine einigermaßen erfolgversprechende akademische Karriere hätte sie jedenfalls in Deutschland eine Habilitation benötigt. Auch im Hinblick auf das Alter der Klägerin, das seinerzeitige Überangebot an akademisch ausgebildeten Soziologen und die drastische Verringerung der Studentenzahlen in diesem Fach habe für sie keinerlei Aussicht bestanden, nach Ablauf des Forschungsstipendiums beruflich unterzukommen. Da die Depressionen der Klägerin nach ihrem eigenen Vortrag auf das Ausbleiben des erwarteten beruflichen Fortkommens, dieses indes nicht auf den Unfall zurückzuführen sei, könne die Klägerin ihre Ersatzansprüche auch hierauf nicht stützen.
II.
Das Berufungsurteil hält den Angriffen der Revision nicht stand.
1.
Im Streitfall geht es allein darum, in welchem Umfang Unfallverletzungen zu dem für das Revisionsverfahren zugunsten der Klägerin zu unterstellenden Ausfällen in ihrem beruflichen Fortkommen und zu immateriellen Nachteilen aus ihren psychischen Beeinträchtigungen geführt haben, mithin um den Ursachenzusammenhang zwischen Haftungsgrund und Schaden. Für diese Feststellungen ist der Tatrichter durch § 287 ZPO freier gestellt. Das Berufungsgericht hat das offenbar auch nicht verkannt, wie seiner Bezugnahme auf das insoweit klare Urteil des Landgerichts zu entnehmen ist.
2.
Die Ermittlung des Ursachenzusammenhangs im Bereich der haftungsausfüllenden Kausalität ist zwar grundsätzlich dem Tatrichter vorbehalten. Dem freien tatrichterlichen Ermessen sind allerdings auch Grenzen gesetzt: Es darf nicht gegen Rechtssätze, Denkgesetze und Erfahrungssätze verstoßen und muß das Bemühen um die Berücksichtigung aller für die Beurteilung maßgeblichen Umstände erkennen lassen (vgl. Senatsurteile vom 8. Juni 1976 - VI ZR 216/74 = VersR 1976, 967, 968 und vom 24. Mai 1988 - VI ZR 159/87 - VersR 1988, 943 = NZV 1988, 139). Insoweit zeigt die Revision durchgreifende Verfahrensfehler auf.
a)
Auch das Berufungsgericht geht - wie das Landgericht - davon aus, daß die Klägerin jedenfalls bis zum 31. März 1975, d.h. über eine Zeit von zwei Jahren, durch ihre Unfallverletzungen an einer Wiederaufnahme ihrer beruflichen Tätigkeit gehindert gewesen ist. Davon, daß diese erhebliche zeitliche Unterbrechung der beruflichen Tätigkeit nicht wenigstens mitursächlich für die Nachteile in ihrem beruflichen Fortkommen auch in der Folgezeit gewesen ist, vermag sich das Berufungsgericht indes vor allem deshalb nicht zu überzeugen, weil für die Klägerin auch ohne den Unfall jedenfalls in der Bundesrepublik Deutschland wegen ihres Alters, ihres konkreten Ausbildungsstands, der allgemeinen Verhältnisse im Fach Soziologie und der besonderen Umstände durch die Emeritierung von Prof. Dr. K. keine hinreichende Chance einer festen akademischen Anstellung bestanden hätte.
aa)
Ohne Erfolg rügt die Revision, daß das Berufungsgericht bei seinen Überlegungen entscheidend auf die Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland und nicht auf berufliche Weiterkommensmöglichkeiten für die Klägerin in Großbritannien und Österreich abgestellt hat. Die freie tatrichterliche Stellung im Rahmen des § 287 ZPO befreit weder die Klägerin von der Darlegungslast für ihren Schaden, noch entbindet sie den Tatrichter in seinen Feststellungen von dem Vorbringen der Partei. Nachdem die Klägerin selbst stets auf ihre Existenzgrundlage in Deutschland abgehoben und auf ihre beruflichen Erfolge in Großbritannien und Österreich nur zum Beleg für ihre wissenschaftliche Qualifizierung und Eigeninitiative hingewiesen hat, mußte das Berufungsgericht nicht auch berufliche Einstellungen der Klägerin im Ausland in Erwägung ziehen; dies um so weniger, als das Gericht die Klägerin auf seine Sicht in dem ihren Antrag auf Prozeßkostenhilfe ablehnenden Beschluß ausdrücklich hingewiesen hat, ohne daß die Klägerin dies zum Anlaß für einen ergänzenden Vortrag genommen hätte.
bb)
Zu Recht bemängelt jedoch die Revision, daß das Berufungsgericht, wie sein Hinweis auf eine Habilitation als Voraussetzung für eine akademische Laufbahn in der Bundesrepublik zeigt, möglicherweise zu sehr auf den Hochschullehrerberuf fixiert gewesen ist und nicht hinreichend beachtet hat, daß als Grundlage für den Verdienstausfallschaden der Klägerin, zumal sie diesem selbst ein sehr niedriges Einkommensniveau zugrunde gelegt hat, auch die unfallbedingte Störung einer Fortsetzung ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit als Stipendiatin, Assistentin oder mit zeitlich begrenzten Vortrags- oder Forschungsaufträgen Beauftragte in Frage kommt. So wie das Landgericht für die Zeit nach dem mutmaßlichen Ende des Stipendiums der Deutschen Forschungsgemeinschaft am 31. Dezember 1974 es als hinreichend wahrscheinlich angesehen hat, die Klägerin würde auch ab 1. Januar 1975 bis zum 31. März 1975 ein bescheindenes Einkommen in Höhe des Stipendiums erzielt haben, wäre zu erwägen gewesen, ob hiervon auch - im Sinne der Sicherung eines derartigen Existenzminimums - für die Zeit nach dem 31. März 1975 ausgegangen werden kann. Zwar darf der Tatrichter auch im Rahmen des § 287 ZPO eine solche Schadensschätzung nicht ohne jedes sachliche Fundament "ins Blaue hinein" vornehmen. Zutreffend weist die Revision indes darauf hin, daß eine gewisse Basis hierfür im Vortrag der Klägerin gefunden werden kann. So ist urkundlich ein nahezu kontinuierliches berufliches Einkommen der Klägerin aus den letzten Jahren vor dem Unfall belegt, eine Tatsache, die dem vom Berufungsgericht so stark hervorgehobenen Gesichtspunkt, daß die Klägerin sich ohne den Unfall aufgrund ihres fortgeschrittenen Lebensalters und ihres in Entwicklung befindlichen beruflichen Werdegangs in einer schwierigen Lage befunden habe, an Überzeugungskraft nimmt. Daß es ihr auch vor dem Unfall immer wieder gelungen war, wenn auch jeweils zeitlich begrenzt, ihre berufliche Existenz fortführen zu können, ist ein für die Schadensschätzung zu berücksichtigender Umstand im Rahmen des § 287 ZPO. Dabei liegt es auf der Hand, daß zumal bei dem Alter der Klägerin auch für die Weiterführung einer beruflichen Karriere auf so bescheidenem Niveau eine unfallbedingte berufliche Ausgliederung von erheblichem Einfluß sein konnte. Hiermit hätte das Berufungsgericht sich auseinandersetzen müssen.
3.
Auf dem aufgezeigten Verfahrensfehler beruht das Berufungsurteil. Es ist nicht auszuschließen, daß das Berufungsgericht bei Berücksichtigung auch der Kontinuität der beruflichen Laufbahn der Klägerin bis zum Unfall und den von ihr vorgetragenen Belegen selbst aus der Zeit nach dem Unfall für ihr berufliches Engagement und ihr Durchsetzungsvermögen es für hinreichend wahrscheinlich gehalten hätte, daß die Klägerin ohne den Unfall im Rahmen des gewählten Berufs eine Grundlage für die Sicherung wenigstens eines Existenzminimums gefunden hätte, und daß die unfallbedingte Ausgliederung aus ihrem Beruf mit ihren notwendig nachteiligen Auswirkungen auf ihre Bewerbungschancen bei ihrem Alter für das Ausbleiben dieser beruflichen Erwartung wenigstens mitursächlich gewesen ist. In diesem Fall können auch die psychischen Belastungen, selbst wenn sie erst durch die beruflichen Mißerfolge ausgelöst worden sind, nicht länger als nicht unfallursächlich angesehen werden.
Dem vom Berufungsgericht unter Bezugnahme auf das landgerichtliche Urteil in diesem Zusammenhang angeführten Gesichtspunkt des fehlenden Rechtswidrigkeitszusammenhangs wegen unangemessener Erlebnisverarbeitung kann nach den Grundsätzen, die der erkennende Senat zu den Fällen einer sog. Rentenneurose entwickelt hat, nur ausnahmsweise und nur nach sachverständiger Beratung des Gerichts durch einen Psychiater Bedeutung zukommen (vgl. Senatsurteil vom 12. November 1985 - VI ZR 103/84 = NJW 1986, 777, 779 m.w.N.). Im übrigen erhalten die Parteien Gelegenheit, in der wiedereröffneten Tatsacheninstanz zu der Unfallursächlichkeit der Depressionen weiter vorzutragen.
Wegen der aufgezeigten Verfahrensfehler war das Berufungsurteil - ohne daß es eines Eingehens auf die von der Revision gerügten, unangebrachten Bleistiftvermerke in den Akten bedarf - aufzuheben und die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Dabei hat der Senat von der Möglichkeit des § 565 Abs. 1 Satz 2 ZPO Gebrauch gemacht.
Fundstellen
Haufe-Index 3018872 |
NJW-RR 1989, 606-607 (Volltext mit red. LS) |