Entscheidungsstichwort (Thema)
Elterliche Sorge: Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts bei bestehender Körperbehinderung der Kindesmutter
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Aufhebung des gemeinsamen Aufenthaltsbestimmungsrechts als Teilbereich der elterlichen Sorge ist geboten bei geringer Kooperationsfähigkeit und massiven persönlichen Problemen der Kindeseltern.
2. Lag die Hauptlast der rein praktischen Versorgung der Kinder aufgrund einer starken Körperbehinderung der Mutter in der Vergangenheit eindeutig beim Vater, kann dies im Hinblick auf den Grundsatz der Kontinuität für ihn sprechen.
3. Die Berücksichtigung der Auswirkungen der gesundheitlichen Beeinträchtigung der Kindesmutter muss bei der Ermittlung der dem Kindeswohl am besten entsprechenden Lösung als Teilaspekt der bestehenden Realität Berücksichtigung finden.
4. Angesichts der körperlichen Beeinträchtigungen der Kindesmutter kann nicht außer Betracht bleiben, dass insbesondere kleinere Kinder – im vorliegenden Fall Zwillinge – im Alter von sechs Jahren – Bedürfnisse nach Körperkontakt haben, die sie nicht in vollem Umfang oder nur schwerlich befriedigen kann.
Normenkette
BGB § 1671 Abs. 1, 2 Nr. 2
Verfahrensgang
AG Cottbus (Beschluss vom 09.04.2010; Aktenzeichen 97 F 183/09) |
Tenor
Die Beschwerde der Kindesmutter gegen den Beschluss des AG Cottbus vom 9.4.2010 (97 F 183/09) wird zurückgewiesen.
Das Beschwerdeverfahren ist gerichtskostenfrei; außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
Der Wert des Beschwerdeverfahrens wird auf 3.000 EUR festgesetzt.
Gründe
I. Die Kindeseltern haben 1995 geheiratet, nachdem sie zuvor bereits zwei Jahre zusammengelebt haben. Am ... Januar 2004 wurden die Zwillinge S. und D. H. geboren. Im Mai 2009 haben sich die Kindeseltern getrennt; das Verfahren auf Scheidung ihrer Ehe ist beim AG Cottbus anhängig.
Die Kindesmutter leidet von Geburt an einer neuralen Muskelatrophie, einer Erbkrankheit, unter der auch bereits ihre Mutter litt. Diese Krankheit führt zu einer Bewegungseinschränkung der Arme und Beine. Als die Kindeseltern sich etwa 1990 kennenlernten, konnte die Beschwerdeführerin noch selbständig gehen und ihren erlernten Beruf als Bürokauffrau ausüben. Inzwischen ist sie auf einen Rollstuhl angewiesen, weil die Feinmotorik ihrer Hände und Füße eingeschränkt ist. Sie bedarf bei vielfachen Verrichtungen des Alltags, wie etwa dem An- und Auskleiden, dem Wechsel zwischen Rollstuhl und Bett und der Körperhygiene fremder Hilfe. Diese Pflege hat, neben der Versorgung der beiden gemeinsamen Kinder, bis zur Trennung der Ehemann allein geleistet. Eine Erwerbstätigkeit kann die Kindesmutter nicht mehr ausüben; sie bezieht Erwerbsunfähigkeitsrente. Für die nächsten 15 Jahre erwartet sie keine Änderung ihres Gesundheitszustandes.
Im Jahre 2001 haben die Kindeseltern ein behindertengerechtes Einfamilienhaus errichtet, dessen Belastung sich auf monatlich rund 600 EUR beläuft. Bezüglich dieses Familienheims ist/war parallel ein gerichtliches Verfahren auf Wohnungszuweisung anhängig.
In Kenntnis der Erkrankung der Ehefrau haben sich die Eheleute H. nach reiflicher Überlegung ihren Kinderwunsch erfüllt. An der Erkrankung der Mutter leiden die Zwillinge S. und D. nicht. Bei dem Sohn wurde jedoch Mukoviszidose, eine gleichfalls erblich bedingte Erkrankung, die insbesondere die Atemwege und den Verdauungsapparat befällt, festgestellt. Bislang hat D. nur leichte Symptome dieser Erkrankung, was täglich mehrfaches Inhalieren erfordert. S. ist ein gesundes und altersgerecht entwickeltes Mädchen. Nach der Geburt der Zwillinge hat der Vater eine dreijährige Erziehungszeit genommen. Aufgrund der Körperbehinderung der Mutter wurden die beiden Kleinkinder vorrangig durch den Vater versorgt, wobei die Eheleute in Übereinstimmung jedoch bemüht waren, die Kindesmutter, etwa durch auf den Schoß nehmen eines Babys, soweit als möglich einzubeziehen.
Nach der Erziehungszeit absolvierte der Kindesvater zunächst eine Umschulung zum Informationselektroniker. Die Zwillinge besuchten seinerzeit einen Ganztagskindergarten, derzeit - nach ihrer Einschulung - einen Kinderhort. Trotz dieser schwierigen Familienkonstellation hat der Kindesvater stets Hilfen Dritter abgelehnt und sowohl die Versorgung der Kinder wie auch die Pflege seiner Frau grundsätzlich allein bewerkstelligt. Mit Zunahme der ohnehin schon bestehenden Belastungen durch Hinzutreten der Berufstätigkeit stieg jedoch seine Unzufriedenheit mit seiner Lebenssituation. Im März 2009 erklärte er der Kindesmutter, die häusliche Situation wie in der Vergangenheit nicht mehr aufrechterhalten zu können und sich trennen zu wollen. Die bevorstehende Trennung stürzte beide Ehepartner in eine tiefe Krise. Die Ehefrau war zutiefst verletzt und verunsichert hinsichtlich ihres weiteren Lebensweges; der Ehemann fühlte sich moralisch in der Pflicht, gleichzeitig aber physisch und psychisch nicht mehr in der Lage, weiterhin die bisherigen Belastungen zu tragen. In dieser Situation kam es anlässlich von Besuchen der...