Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Bindung an die Zulassung der Berufung. falsche Rechtsmittelbelehrung
Orientierungssatz
Die Bindungswirkung des § 144 Abs 3 SGG tritt nicht durch eine fehlerhafte Rechtsmittelbelehrung ein, sondern nur durch Berufungszulassung in der Urteilsformel; ausnahmsweise auch durch eine eindeutig ausgesprochene Zulassung in den Entscheidungsgründen (vgl BSG vom 29.6.1977 - 11 RA 94/76 = SozR 1500 § 161 Nr 16 und vom 26.4.1989 - 7 RAr 124/88 = Die Beiträge 1989, 288).
Normenkette
SGG § 144 Abs. 3
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger begehrt höheres Arbeitslosengeld (Alg) für die Zeit vom 19. August bis zum 25. Dezember 1996 mit der Begründung, sein Alg dürfe nicht um einen fiktiven Kirchensteuerabzug gekürzt werden, da er keiner kirchensteuererhebenden Religionsgemeinschaft angehöre.
Vom 26. Dezember 1996 bis zum 29. April 1997 bezog der Kläger Krankengeld sowie am 30. April 1997 erneut Alg, um zum 1. Mai 1997 eine Beschäftigung aufzunehmen. Die Klage gegen den Bewilligungsbescheid über Alg vom 30. August 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. August 2001 (das Widerspruchsverfahren hatte zwischenzeitlich geruht) hat das Sozialgericht (SG) Berlin mit Urteil vom 21. Januar 2003 abgewiesen. Die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) Berlin durch Beschluss vom 6. November 2003 zurückgewiesen und ausgeführt, die Berufung sei unzulässig und auch unbegründet. Der Beschwerdewert von DM 1.000,- bzw Euro 500,- werde nicht erreicht, es werde auch nicht über wiederkehrende oder laufende Leistungen "für bis zu einem Jahr" gestritten. Die Berufung sei auch in der Sache unbegründet; das LSG schließe sich der Rechtsauffassung des Bundessozialgerichts ≪BSG≫ (Urteil vom 21. März 2002 - B 7 AL 18/01 R -) an, wonach die Berücksichtigung des Kirchensteuer-Hebesatzes bei der Bestimmung der Leistungssätze für die Jahre bis 1999 verfassungsgemäß sei. Dem entspreche auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ≪BVerfG≫ (Beschluss vom 23. März 1994, BVerfGE 90, 226 ff).
Gegen die Nichtzulassung der Revision wendet sich der Kläger mit der vorliegenden Beschwerde. Als Verfahrensfehler macht er geltend, das LSG sei einem Beweisantrag nicht gefolgt. Ferner habe das LSG ihn zwar gemäß § 153 Abs 4 Satz 2 SGG formal angehört, sein Vorbringen im Schriftsatz vom 15. September 2003 aber nicht hinreichend gewürdigt. Außerdem sei das LSG gemäß § 144 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) an die ausdrückliche Zulassung in der Rechtsmittelbelehrung des sozialgerichtlichen Urteils gebunden gewesen und hätte die Berufung - jedenfalls nicht mit der angegebenen Begründung bzw ohne mündliche Erörterung - zurückweisen dürfen. Vor allem aber trägt der Kläger vor, § 111 Abs 1 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) sei insoweit verfassungswidrig, als diese Vorschrift auch für den fiktiven Abzug von Kirchensteuer eine typisierende Betrachtungsweise dergestalt anordne, dass bei allen Leistungsempfängern ein fiktiver Kirchensteuerabzug vorzunehmen sei, falls ein solcher Abzug bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfalle; er bezieht sich insoweit ua, unter teilweiser wörtlicher Wiedergabe, auf die Entscheidungsgründe des nicht rechtskräftigen Urteils des SG Chemnitz vom 6. August 2003 (Az S 6 AL 1077/01).
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist jedenfalls unbegründet.
1. Soweit der Kläger Verfahrensfehler des Berufungsgerichts geltend macht, hält er bereits die insoweit bestehenden Formvorschriften nicht ein. Nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG muss in der Beschwerdebegründung der Verfahrensmangel "bezeichnet" werden, dh dieser ist in den ihn (vermeintlich) zu begründenden Tatsachen substantiiert darzutun (BSG vom 29. September 1975, SozR 1500 § 160a Nr 14; stRspr). Diese Anforderungen erfüllt die Beschwerdebegründung nicht.
Mit seiner Rüge, das LSG sei dem Beweisantrag im Berufungsschriftsatz vom 4. April 2003 auf Ermittlung der Anzahl der Kirchensteuerpflichtigen für das Jahr 1996 nicht gefolgt, bezeichnet der Kläger keinen Verfahrensfehler. Insoweit hätte er nicht nur vortragen müssen, ob und wodurch er seinen Beweisantrag nach Anhörung des LSG zum Verfahren nach § 153 Abs 4 SGG aufrechterhalten hat (BSG, 18. Dezember 2000, SozR 3-1500 § 160 Nr 31; Senatsbeschluss vom 26. Juni 2002 - B 7 AL 288/01 B). Es fehlt auch am Vortrag, inwieweit die Berufungsentscheidung auf dem Verfahrensmangel beruhen kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), dh inwieweit es nach der Rechtsauffassung des LSG auf das Ergebnis der beantragten Beweisaufnahme ankam. Hierzu äußert sich der Kläger nicht; er hat vielmehr vorgetragen, seine Berufung habe vor dem LSG (auch) deswegen keinen Erfolg gehabt, weil das LSG dieses Rechtsmittel nicht als zulässig angesehen habe. Legt man dies zu Grunde, konnte es aber bereits deshalb auf die beantragte Beweisaufnahme nicht ankommen.
Soweit die Beschwerde rügt, der Kläger sei vor der Entscheidung des LSG durch Beschluss gemäß § 153 Abs 4 SGG zwar "formal angehört", sein Vorbringen sei jedoch nicht hinreichend gewürdigt worden, ergibt sich hieraus schon deshalb kein Verfahrensmangel, weil die vorherige Anhörung nach § 153 Abs 4 Satz 2 SGG das LSG nicht verpflichtet, der Argumentation der angehörten Beteiligten zu folgen, also diese im Sinne des klägerischen Vortrags "hinreichend zu würdigen". Wenn das LSG seiner Entscheidung zu Grunde gelegt hat, der Berufungsgegenstand ergebe sich aus den im Verfahren unmittelbar streitigen Leistungen und nicht aus den Folgewirkungen für weitere Leistungszeiträume oder für andere Sozialleistungen (hier: Krankengeld), so hat es sich hiermit im Übrigen auch in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BSG befunden (vgl BSG 6. Februar 1997, SozR 3-1500 § 144 Nr 11 mwN; ebenso BSG 11. Mai 1999 - B 11/10 AL 1/98 R, DBlR Nr 4560a zu § 145 SGG).
Ebenso wenig ergibt sich ein Verfahrensfehler aus dem Vortrag des Klägers, das LSG sei an die Zulassung der Berufung durch das SG gebunden und habe die Berufung nicht "zurückweisen" dürfen, "jedenfalls nicht mit der angegebenen Begründung bzw ohne mündliche Erörterung". Die Bindungswirkung des § 144 Abs 3 SGG tritt nicht durch eine fehlerhafte Rechtsmittelbelehrung ein, sondern nur durch Berufungszulassung in der Urteilsformel; ausnahmsweise auch durch eine eindeutig ausgesprochene Zulassung in den Entscheidungsgründen (BSG 29. Juli 1977, SozR 1500 § 161 Nr 16; Senatsurteil vom 26. April 1989 - 7 RAr 124/88 -, Die Beiträge 1989, 288). Eine solche trägt der Kläger nicht vor.
2. Soweit der Kläger eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) geltend macht, ist die Beschwerde jedenfalls unbegründet. Er stellt sinngemäß die Rechtsfrage, ob § 111 Abs 1 AFG insoweit gegen höherrangiges Recht verstößt, als diese Vorschrift auch für den fiktiven Abzug von Kirchensteuer eine typisierende Betrachtungsweise dergestalt anordnet, dass bei allen Leistungsempfängern ein fiktiver Kirchensteuerabzug vorzunehmen ist, falls ein solcher Abzug bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfällt. Diese Rechtsfrage ist jedoch in der Rechtsprechung des BSG bereits geklärt.
In seinem Urteil vom 21. März 2002 (B 7 AL 18/01 R, DBlR Nr 4754 zu § 136 SGB III) hat sich der Senat der Rechtsprechung des 11. Senats des BSG angeschlossen, wonach die Berücksichtigung des Kirchensteuer-Hebesatzes bei der Bestimmung der Leistungssätze nach § 111 Abs 2 Satz 2 Nr 2 AFG jedenfalls für die Jahre bis 1999 verfassungsgemäß ist. Streitbefangen war bereits in dem damaligen Verfahren ua der beim Kläger maßgebliche Leistungszeitraum August bis Dezember 1996. Damit besteht insoweit eine einheitliche Rechtsprechung der beiden für das Arbeitsförderungsrecht zuständigen Senate des BSG.
Die vom Kläger gegen die Rechtsprechung des BSG und die ihr zu Grunde liegende Entscheidung des BVerfG vom 23. März 1994 (BVerfGE 90, 226 = SozR 3-4100 § 11 Nr 6) vorgetragenen Argumente vermögen den Senat nicht davon zu überzeugen, dass insoweit noch Klärungsbedarf besteht (vgl das Senatsurteil aaO sowie das BSG-Urteil vom 25. Juni 2002, SozR 3-4300 § 136 Nr 1, jeweils mwN).
Im Übrigen sei darauf hingewiesen, dass nach dem Dritten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23. Dezember 2003 (BGBl I 2848) mit Wirkung ab 1. Januar 2005 die Kirchensteuer bei der Ermittlung des Leistungsentgelts (Nettoarbeitsentgelts) nicht mehr als Rechengröße berücksichtigt wird.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen