Verfahrensgang
Hessisches LSG (Beschluss vom 16.12.2016; Aktenzeichen L 3 U 58/14) |
SG Wiesbaden (Entscheidung vom 26.06.2012; Aktenzeichen S 19 U 163/10) |
Tenor
Der Antrag der Klägerin, ihr für das Verfahren der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des Hessischen Landessozialgerichts vom 16. Dezember 2016 Prozesskostenhilfe zu bewilligen und Rechtsanwalt ... Dr. W. F., F., beizuordnen, wird abgelehnt.
Gründe
I
Am 21.1.2010 stieß die Klägerin als beschäftigte Busfahrerin mit der linken Hüfte gegen eine klappbare Durchgangsschranke im Eingangsbereich des Busses und zog sich eine Hüftprellung links zu. Am 27.4.2010 wurde ein Einriss der Hüftgelenkslippe (Labrum) links festgestellt, den weder der behandelnde Orthopäde Prof. Dr. P. (Arztbrief vom 14.5.2010 und Stellungnahme vom 14.7.2010) noch der Beratungsarzt der BG Dr. G. auf den Unfall zurückführte. Hierauf gestützt brach die Beklagte die eingeleitete Heilbehandlung ab. Unfallbedingt sei nur von einer Prellung des linken Hüftgelenks mit Arbeitsunfähigkeit bis 9.2.2010 auszugehen (Bescheid vom 2.6.2010 und Widerspruchsbescheid vom 1.12.2010). Mit der dagegen erhobenen Klage hat die rechtskundig vertretene Klägerin beantragt, unter Aufhebung der Bescheide der Beklagten "die Folgen des Arbeitsunfalls vom 21.01.2010 als Arbeitsunfall anzuerkennen und mit einer MdE von mindestens 20 v.H. zu entschädigen", und sich ua auf den Arztbrief des Dr. M., Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie am Klinikum F., vom 16.6.2010 berufen, wonach "eine eindeutige Labrumläsion an der Hüfte nach einem Arbeitsunfall" vorliege. Dem hat der niedergelassene Orthopäde Dr. Mü. im Sachverständigengutachten vom 20.6.2011 und seiner ergänzenden Stellungnahme vom 13.9.2011 widersprochen und einen Zusammenhang zwischen dem Unfall und der Labrumverletzung verneint. Das SG hat die Klage abgewiesen, die zuletzt darauf gerichtet war, unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide "die Labrumläsion als weitere Folge des Unfalls vom 21.1.2010 festzustellen und die Beklagte zu verurteilen, wegen dieser Folgen Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung über den 9.2.2010 hinaus zu gewähren" (Urteil vom 26.6.2012). Mit diesem Ziel hat die Klägerin Berufung eingelegt und nach Hinweis der Senatsvorsitzenden, "dass zutreffender Antrag hier ein Feststellungsantrag wäre, und zwar dahingehend eine Labrumsläsion der linken Hüfte als weiteren Gesundheitserstschaden anzuerkennen", beantragt, "die Labrumsläsion als weiteren Gesundheitsschaden anzuerkennen". Nachdem die Beklagte einen "Arbeitsunfall vom 21.1.2010 mit einer Prellung an der linken Hüfte … anerkannt" hatte, hat das LSG die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Beschluss vom 16.12.2016).
Zur Durchführung des Beschwerdeverfahrens gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Beschluss hat die Klägerin beim BSG beantragt, ihr Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt Dr. W. F., F., zu bewilligen. Diesem hat der Präsident des BSG mit Bescheid vom 21.7.2017 eine Tätigkeit als Rechtsanwalt vor dem BSG bis zum 30.6.2019 untersagt und die sofortige Vollziehung dieser Untersagung angeordnet.
II
Der zulässige Antrag auf Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts ist abzulehnen, weil eine Nichtzulassungsbeschwerde keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 73a Abs 1 S 1 SGG iVm § 114 Abs 1 S 1, § 121 Abs 1 ZPO). Es ist nicht zu erkennen, dass ein nach § 73 Abs 4 SGG zugelassener Prozessbevollmächtigter in der Lage wäre, eine Beschwerde der Klägerin erfolgreich zu begründen.
1. Es ist nicht erkennbar, dass eine Zulassung der Revision auf § 160 Abs 2 Nr 1 SGG gestützt werden könnte. Grundsätzliche Bedeutung im Sinne dieser Vorschrift hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung hat. Die Frage muss außerdem klärungsbedürftig sein. Das ist grundsätzlich nicht der Fall, wenn die Antwort darauf von vornherein praktisch außer Zweifel steht oder die Frage bereits höchstrichterlich entschieden ist (vgl BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 70). Rechtsfragen, die in diesem Sinne grundsätzliche Bedeutung haben könnten, sind nicht ersichtlich.
2. Der Zulassungsgrund der Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) könnte ebenfalls nicht mit Erfolg geltend gemacht werden. Divergenz (Abweichung) bedeutet Widerspruch im Rechtssatz oder - anders ausgedrückt - das Nichtübereinstimmen tragender abstrakter Rechtssätze, die den miteinander zu vergleichenden Entscheidungen zu Grunde gelegt worden sind. Sie kommt nur dann in Betracht, wenn das LSG einen tragenden abstrakten Rechtssatz in Abweichung von einem vorhandenen abstrakten Rechtssatz des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG aufgestellt hat (BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 72 mwN). Dieses ist vorliegend nicht ersichtlich.
3. Schließlich ist auch nicht erkennbar, dass ein Verfahrensmangel vorliegen könnte, der gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG zur Zulassung der Revision führen kann. Nach Halbs 2 dieser Bestimmung kann der geltend gemachte Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 S 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
a. Beteiligte, die - wie die Klägerin - im Berufungsverfahren anwaltlich vertreten waren, können mit der Rüge des Übergehens eines Beweisantrags nur gehört werden, wenn sie einen derartigen Beweisantrag - im hier maßgeblichen Sinn der ZPO - nach Erhalt der Anhörungsmitteilung (§ 153 Abs 4 S 2 SGG) erstmals stellen, wiederholen oder nochmals ausdrücklich in Bezug nehmen und damit aufrechterhalten. Ohne eine solche förmliche Antragstellung ist regelmäßig davon auszugehen (vgl § 202 S 1 SGG iVm § 295 Abs 1 ZPO), dass sie ihr ursprüngliches Beweisverlangen nicht mehr weiterverfolgen, sondern fallengelassen haben (stRspr, vgl BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 31 S 52; BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 11 RdNr 7). Im sozialgerichtlichen Verfahren hat der Beweisantrag einerseits Warnfunktion, weil er der Tatsacheninstanz unmittelbar vor der Entscheidung signalisiert, dass ein Beteiligter die gerichtliche Aufklärungspflicht noch für defizitär hält (vgl dazu BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 9 S 21 und Nr 31 S 52), und andererseits Beweis- und Klarstellungsfunktion, weil er dem Rechtsmittelgericht ohne gesonderte Ermittlung die Feststellung erlaubt, welche Anträge nach dem Ergebnis des Sach- und Streitstands und der Auffassung eines Beteiligten noch zu behandeln gewesen sind (vgl BSG Beschluss vom 25.9.2007 - B 13 R 377/07 B - Juris RdNr 6; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 9 S 21). Der Anwaltsschriftsatz vom 11.4.2016, mit dem die Klägerin auf die Anhörungsmitteilung des LSG vom 16.2.2016 reagierte, enthält weder einen prozessordnungskonformen Beweisantrag noch eine ausdrückliche Bezugnahme auf einen bestimmten Beweisantrag in der Berufungsbegründungsschrift vom 6.10.2014 oder in einem anderen Schriftsatz. Insbesondere liegt keine ausdrückliche und konkrete Bezugnahme auf die beiden Beweisgesuche vor, die sie unter Gliederungspunkt II. 1 auf Seite 5 ihrer Antragsschrift vom 11.4.2017 schildert, und die an der angegebenen Fundstelle in dem Schriftsatz vom 6.10.2014 mit dem wiedergegebenen Wortlaut nicht aufzufinden sind.
b. Es ist auch nicht ersichtlich, dass die erste Anhörungsmitteilung vom 16.2.2016 oder die zweite "Anhörung" vom 29.11.2016 die Anforderungen des § 153 Abs 4 S 2 SGG nicht erfüllt haben könnten. Die Anhörungspflicht gemäß § 153 Abs 4 S 2 SGG gebietet es, die Berufungsklägerin unmissverständlich über die Absicht des Gerichts zu informieren, ohne mündliche Verhandlung im Beschlussverfahren zu ihren Ungunsten zu entscheiden (BSG Urteil vom 25.11.1999 - B 13 RJ 25/99 R - SozR 3-1500 § 153 Nr 9 S 27), weil die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich gehalten werde (BSG Beschluss vom 11.11.2015 - B 12 KR 14/15 B - Juris RdNr 7). Ferner ist der Berufungsklägerin Gelegenheit zur Stellungnahme einzuräumen. Weitergehende Anforderungen an den Inhalt einer Anhörungsmitteilung verlangt § 153 Abs 4 S 2 SGG nicht (vgl BSG Urteile vom 22.4.1998 - B 9 SB 19/97 R - SozR 3-1500 § 153 Nr 7 S 19 und vom 25.11.1999 - B 13 RJ 25/99 R - SozR 3-1500 § 153 Nr 9 S 27 sowie Beschluss vom 16.3.1994 - 9 BV 151/93 - Juris RdNr 3; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 153 RdNr 19; Littmann in Lüdtke/Berchtold, SGG, 5. Aufl 2017, § 153 RdNr 33; Fock in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl 2014, § 153 RdNr 25; vgl ähnlich zur gleichlautenden Regelung des § 130a iVm § 125 Abs 2 S 3 VwGO: zB BVerwG vom 21.12.1993 - NVwZ-RR 1994, 362 und vom 21.3.2000 - BVerwGE 111, 69, 73 f). Bei rechtskundig vertretenen Beteiligten - wie der Klägerin - genügt der Hinweis, es komme eine Entscheidung nach § 153 Abs 4 SGG in Betracht (BSG Urteile vom 7.11.2000 - B 2 U 14/00 R - USK 2000-76 und vom 20.10.1999 - B 9 SB 4/98 R - SozR 3-1500 § 153 Nr 8 S 23). Dass das LSG diese Vorgaben nicht beachtet haben könnte, ist nicht ersichtlich. Im Übrigen hat der Senat bereits entschieden, dass es für eine wirksame Anhörung nach § 153 Abs 4 S 2 SGG unschädlich ist, wenn zunächst nur der Berichterstatter - und nicht bereits der gesamte Senat - eine Entscheidung im vereinfachten Beschlussverfahren befürwortet und die Beteiligten entsprechend anhört (BSG Urteil vom 7.11.2000 - B 2 U 14/00 R - USK 2000-76; vgl auch BSG Urteil vom 20.10.1999 - B 9 SB 4/98 R - SozR 3-1500 § 153 Nr 8 S 22). Ebenfalls hat der Senat bereits entschieden, dass eine Fristsetzung entbehrlich ist (BSG Beschluss vom 21.9.2010 - B 2 U 145/10 B - SozR 4-1500 § 153 Nr 10 RdNr 7); die Zustellung eines Anhörungsschreibens ist indes nur bei Fristsetzung erforderlich (§ 63 Abs 1 S 1 SGG). Unter Berücksichtigung der Senatsrechtsprechung (BSG Beschluss vom 21.9.2010 - B 2 U 145/10 B - SozR 4-1500 § 153 Nr 10 RdNr 8) ist auch nicht erkennbar, dass der Zeitraum, in dem eine Äußerung zur zweiten Anhörungsmitteilung vom 29.11.2016 möglich gewesen ist, unangemessen kurz gewesen sein könnte.
c. Die Klägerin rügt überdies, das LSG habe "vorliegend auch die Entscheidungsform des Beschlusses nach § 153 Abs 4 SGG nicht wählen" dürfen, weil seine Ermessensentscheidung ("kann"), im vereinfachten Beschlussverfahren vorzugehen, auf einer groben Fehleinschätzung beruhe. Ob dies der Fall ist, muss - worauf die Antragsbegründung zu Recht hinweist - anhand der gesamten Umstände des Falles beurteilt werden, wobei das Berufungsgericht vor allem auch die Funktion und Bedeutung der mündlichen Verhandlung als "Kernstück" des gerichtlichen Verfahrens zu berücksichtigen hat (BSG Beschluss vom 24.5.2012 - B 9 SB 14/11 B - SozR 4-1500 § 153 Nr 14 RdNr 9; Bienert, NZS 2012, 885, 888; Sommer in Roos/Wahrendorf, SGG, 2014, § 153 RdNr 30). Eine grobe Fehleinschätzung liegt indes nur vor, wenn bei Abwägung aller zu berücksichtigenden Einzelfallumstände die Wahl des Verfahrens nach § 153 Abs 4 SGG unter keinen Umständen zu rechtfertigen ist (BSG Urteil vom 2.5.2001 - B 2 U 29/00 R - SozR 3-1500 § 153 Nr 13 S 38 und Beschluss vom 11.12.2002 - B 6 KA 13/02 B - Juris RdNr 9). Insbesondere ist bei der im Prozesskostenhilfeverfahren gebotenen summarischen Betrachtung nicht erkennbar, dass der vorliegende Fall in tatsächlicher Hinsicht außergewöhnlich schwierig wäre und/oder komplizierte Rechtsfragen aufwirft. Im Rahmen der Würdigung aller hier vorliegenden Umstände ist auch zu berücksichtigen, dass das LSG am 11.8.2015 einen Erörterungstermin durchgeführt hat, in dem die Klägerin und ihr Rechtsanwalt Gelegenheit hatten, sich umfassend zu äußern. Damit sind auch keine Verstöße gegen die Grundsätze des fairen Verfahrens, der Gewährung rechtlichen Gehörs und des gesetzlichen Richters ersichtlich, die in diesem Zusammenhang ebenfalls gerügt werden.
d. Soweit die Klägerin schließlich bemängelt, das Berufungsgericht habe nicht bzw nicht in vollem Umfang über den im Streit befindlichen prozessualen Anspruch (Streitgegenstand) entschieden und deshalb § 123 SGG verletzt, weil es ihr Begehren auf Fortsetzung bzw Wiederaufnahme des Heilverfahrens übergangen habe, ist angesichts des Prozessverlaufs nicht erkennbar, dass dieses Begehren am Schluss des Berufungsverfahrens noch zur Entscheidung gestanden haben könnte. Dabei kann offenbleiben, ob die rechtskundig vertretene Klägerin einen prozessualen Anspruch auf Fortsetzung des Heilverfahrens über den 9.2.2010 hinaus bereits im Zeitpunkt der Klageerhebung nicht verfolgte, als sie ua beantragte, "die Folgen des Arbeitsunfalls vom 21.01.2010 als Arbeitsunfall anzuerkennen und mit einer MdE von mindestens 20 v.H. zu entschädigen". Ebenfalls braucht nicht entschieden zu werden, ob eine Klageänderung (§ 99 Abs 3 Nr 2 SGG) vorlag, auf die sich die Beklagte rügelos einließ (§ 99 Abs 2 SGG), als die Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem SG ua beantragte, "die Beklagte zu verurteilen, wegen dieser Folgen Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung über den 9.2.2010 hinaus zu gewähren". Denn im Berufungsverfahren hat die Klägerin nach Hinweis der Senatsvorsitzenden mit anwaltlichem Schriftsatz vom 30.9.2015 zuletzt beantragt, "die Labrumsläsion als weiteren Gesundheitsschaden anzuerkennen". Dies war im Übrigen schon deshalb sachgerecht, weil Heilbehandlung (§§ 27 ff SGB VII) in der gesetzlichen Unfallversicherung in Form von Sachleistungen gewährt wird, die einer Zuerkennung durch Grundurteil von vornherein nicht zugänglich sind (vgl zB BSG Urteil vom 7.9.2004 - B 2 U 46/03 R - SozR 4-2700 § 2 Nr 3 = Juris RdNr 11). Zu Recht hat die Klägerin auch keine sekundären Freistellungs- oder Zahlungsansprüche geltend gemacht, geschweige denn substantiiert und beziffert, weil ihr die gesetzliche Krankenkasse Heilbehandlung (zB in Form der Arthroskopie des linken Hüftgelenks) gewährt hat und ihr etwaiger Anspruch gegen die Beklagte damit als erfüllt gölte (vgl § 107 SGB X).
4. Da der Klägerin Prozesskostenhilfe nicht zu bewilligen war, hat sie nach § 73a Abs 1 S 1 SGG iVm § 121 Abs 1 ZPO auch keinen Anspruch auf Beiordnung eines Rechtsanwalts.
Fundstellen
Dokument-Index HI11261087 |