Entscheidungsstichwort (Thema)

Klärungsbedürftige Rechtsfrage

 

Orientierungssatz

Bei der Frage, ob die Erfahrungssätze des "Königsteiner Merkblattes" zur gerechten Ermittlung der MdE auch weiterhin zu beachten sind, handelt es sich nicht um eine klärungsbedürftige Rechtsfrage, sondern um eine Tatsachenfrage.

 

Normenkette

SGG § 160 Abs 2 Nr 1, § 160a Abs 2 S 3

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 07.11.1988; Aktenzeichen L 6 U 52/87)

 

Gründe

Streitig ist, ob die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger wegen der Folgen einer Berufskrankheit (Lärmschwerhörigkeit) Verletztenrente zu gewähren, insbesondere, ob die Schwerhörigkeit eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von wenigstens 20 vH bedingt (ablehnender Bescheid der Beklagten vom 13. März 1985; abweisendes Urteil des Sozialgerichts -SG- vom 13. Januar 1987; zusprechendes Urteil des Landessozialgerichts -LSG- vom 7. November 1988). Das LSG ist zu dem Ergebnis gelangt, der berufsbedingte Gehörschaden des Klägers sei mit einer MdE um 20 vH zu bewerten. Es ist insoweit den Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. K.    gefolgt, der die Meinung vertreten hat, die herkömmliche Anwendung der Tabelle 2 des "Königsteiner Merkblattes", nach der sich eine MdE um 15 vH ergebe, führe zu einer Benachteiligung des Versicherten. Diese Benachteiligung beruhe auf technisch und durch Normierung bedingten Veränderungen der Sprachaudiometrie seit Erstellung der Tabelle, so daß dem Korrekturvorschlag von Feldmann (1988) gefolgt werden sollte. Danach sei von einem "gewichteten Gesamtwortverstehen" auszugehen, woraus sich in Verbindung mit den Tabellen 1 und 2 des "Königsteiner Merkblattes" ein Hörverlust von beiderseits 40 % und demzufolge eine MdE von 20 vH ergebe. Diesen Ausführungen hat sich das LSG angeschlossen.

Mit ihrer hiergegen gerichteten Nichtzulassungsbeschwerde macht die Beklagte geltend, die Sache habe grundsätzliche Bedeutung iS von § 160 Abs 2 Nr 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Bei der Beurteilung der zahlreichen Fälle von Lärmschwerhörigkeit habe sich im Interesse einer gerechten Ermittlung der MdE die Notwendigkeit von einheitlichen Untersuchungs- und Bewertungsmethoden ergeben. Diese seien in dem "Königsteiner Merkblatt" (Empfehlungen des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften für die Begutachtung der berufsbedingten Lärmschwerhörigkeit, BG 1977, 268) niedergelegt und würden als Erfahrungssätze allgemein anerkannt und auch von den Sozialgerichten beachtet (vgl BSG, Urteil vom 15. Dezember 1982 - 2 RU 55/81 -). Für die Ermittlung des Hörverlustes sei danach das Gesamtwortverstehen (Ziffer 4b des Merkblatts) maßgeblich. Das LSG habe nicht dargelegt, warum es der korrigierten Methode von Feldmann gefolgt sei. Im Interesse einer weiterhin einheitlichen MdE-Bewertung sei daher folgende Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung: Sind die von der Rechtsprechung und dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum in jahrzehntelanger Entwicklung herausgearbeiteten Erfahrungssätze - wie sie im "Königsteiner Merkblatt" ihren Niederschlag gefunden haben - auch weiterhin zu beachten? Oder kommt für jeden Einzelfall nur die Ermittlung eines gewichteten Gesamtwortverstehens als einzig richtige Methode in Betracht? Im übrigen sei die Revision auch wegen einer Abweichung von der zitierten Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) zuzulassen.

Die Beschwerde ist unzulässig, weil keiner der in § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG genannten Zulassungsgründe hinreichend bezeichnet worden ist (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG).

Nach § 160 Abs 2 Nr 1 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. In der Beschwerdebegründung muß nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt werden. Die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache ist gegeben, wenn zu erwarten ist, daß die Revisionsentscheidung die Rechtseinheit in ihrem Bestand erhalten oder die Weiterentwicklung des Rechts fördern wird (vgl Weyreuther, Revisionszulassung und Nichtzulassungsbeschwerde in der Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte, RdNr 84 mwN). Es muß eine klärungsbedürftige Rechtsfrage aufgeworfen sein, welche bisher revisionsgerichtlich noch nicht - ausreichend - geklärt ist (s ua BSG SozR 1500 § 160 Nr 17; BSG, Beschluß vom 16. Dezember 1986 - 2 BU 173/86 -). Diesen Anforderungen genügt die Beschwerde nicht, weil es sich bei der von der Beklagten aufgeworfenen Frage nicht um eine Rechtsfrage, sondern um eine Tatsachenfrage handelt. Die Beklagte möchte nämlich nicht geklärt wissen, ob und inwieweit die Sozialgerichte in verfahrensrechtlicher Hinsicht grundsätzlich an allgemeine Erfahrungssätze gebunden sind; vielmehr geht es ihr um die Frage, ob bei der Feststellung der MdE bestimmte versicherungsmedizinische Bewertungsmaßstäbe zu beachten sind, insbesondere, ob die MdE bei lärmbedingter Schwerhörigkeit unter Berücksichtigung des "Königsteiner Merkblattes" festzustellen ist. Die Beantwortung dieser Frage hängt aber von dem jeweiligen Stand der medizinischen Wissenschaft und damit von tatsächlichen Gegebenheiten ab.

Aus diesem Grunde ist auch die Divergenzrüge nicht hinreichend bezeichnet. In dem von der Beschwerde genannten Urteil des BSG vom 15. Februar 1982 (2 RU 55/81, Meso B 40/24) sowie in dem Beschluß vom 25. August 1982 (2 BU 181/81) hat der erkennende Senat nicht entschieden, das "Königsteiner Merkblatt" sei als rechtlich verbindliche Grundlage für die MdE-Einschätzung bei berufsbedingter Lärmschwerhörigkeit anzusehen. Er hat lediglich ausgesprochen, die Beachtung versicherungsmedizinischer Erfahrungssätze sei in derartigen Fällen - obwohl für die Entscheidung im Einzelfall nicht bindend - verfahrensrechtlich nicht zu beanstanden; die MdE habe deshalb auch unter Berücksichtigung des "Königsteiner Merkblattes" festgestellt werden dürfen. Diesen Ausführungen des BSG hat die Beklagte keine abweichenden rechtlichen Darlegungen des LSG gegenüber gestellt. Vielmehr schließt sie allein aus der Tatsache, daß das LSG das "Königsteiner Merkblatt" nach der von Feldmann vorgeschlagenen Korrektur angewendet hat, das LSG sei von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abgewichen. Ob das LSG dem Vorschlag von Feldmann hat folgen dürfen, ohne die Grenzen seines Rechts auf freie richterliche Beweiswürdigung zu überschreiten, war im Hinblick auf § 160 Abs 2 Nr 3 SGG nicht zu prüfen.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1648494

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