Beteiligte
Bundesversicherungsanstalt für Angestellte |
Tenor
Das Verfahren wird ausgesetzt.
Dem Europäischen Gerichtshof wird gemäß Art 177 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt:
Gebietet Europarecht die Anrechnung einer Kindererziehungszeit nach deutschem Recht vor dem 1. Januar 1986, wenn die Kindererziehung zwar in einem anderen Mitgliedstaat (hier: Frankreich) stattgefunden hat, der erziehende Elternteil jedoch in der Bundesrepublik Deutschland bis zum Eintritt des Mutterschutzes und auch nach dem Ende des Mutterschaftsurlaubs als Grenzgänger versicherungspflichtig beschäftigt war?
Gründe
I
Die Beteiligten streiten über die Vormerkung (Feststellung) von Kindererziehungszeiten bzw Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung für künftige Rentenansprüche.
Die 1951 geborene Klägerin verlegte im Mai 1981 ihren Wohnsitz aus der Bundesrepublik Deutschland nach F. (Frankreich) und hält sich seither mit ihrem Ehemann und ihrem im August 1984 in S. geborenen Sohn Christophe laufend in Frankreich auf. Sie war in der Bundesrepublik Deutschland – nach der Verlegung ihres (ausschließlichen) Wohnsitzes nach Frankreich als Grenzgängerin – bis März 1985 versicherungspflichtig beschäftigt, unterbrochen durch die Zeit des Mutterschutzes und Mutterschaftsurlaubs von Juli 1984 bis Februar 1985. Seither war die Klägerin weder in Deutschland noch in Frankreich versicherungspflichtig beschäftigt.
Den im September 1994 gestellten Antrag auf Feststellung von Kindererziehungszeiten bzw Berücksichtigungszeiten wegen Erziehung des in Frankreich erzogenen Sohnes lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 12. September 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21. August 1996 ab, weil wegen der Erziehung des Kindes im Ausland die Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Das SG Berlin hat die Klage durch Urteil vom 11. August 1997 abgewiesen und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt: Wegen des alleinigen Wohnsitzes in Frankreich habe die Klägerin ihren Sohn im Ausland erzogen. Diese Auslandserziehung stehe einer Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland nicht gleich (§ 56 Abs 1 Satz 2 Nr 2 iVm Abs 3 Satz 2 und 3 SGB VI). Auch hätten weder sie noch ihr Ehemann während der Erziehung ihres Sohnes oder unmittelbar vor dessen Geburt Pflichtbeitragszeiten in der Bundesrepublik Deutschland wegen einer in Frankreich ausgeübten Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit gehabt (Abs 3 Satz 3 aaO). Ebensowenig habe in Deutschland ein Rumpfarbeitsverhältnis während eines Auslandseinsatzes vorgelegen. Der Klägerin seien deutsche Rentenanwartschaften nicht im wesentlichen wegen der Kindererziehung entgangen, sondern wegen ihres Entschlusses, den gewöhnlichen Aufenthalt in das Ausland zu verlegen. Die Anwendung der Nr 19 des Anhangs VI Buchstabe C der EWGV 1408/71 auf die Klägerin scheitere schon daran, daß diese Regelung nicht für Erziehungszeiten vor dem 1. Januar 1986 gelte; deren analoge Anwendung auf frühere Kindererziehungszeiten komme ebensowenig in Betracht wie eine Gleichstellung der Auslandserziehung über Art 3 Abs 1 EWGV 1408/71. Schließlich sei es auch kein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot, wenn der deutsche Gesetzgeber die Anrechnung von Kindererziehungszeiten grundsätzlich von einer Erziehung im Inland abhängig mache.
Mit der vom SG zugelassenen Sprungrevision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 56 Abs 3 Satz 2 und 3 SGB VI und macht im wesentlichen geltend: Es stelle eine planwidrige Regelungslücke dar, wenn einem deutschen Arbeitnehmer bei einem Aufenthalt im Ausland in einem ausschließlich inländischen Beschäftigungsverhältnis keine Kindererziehungszeiten anzurechnen seien, während dies nach der gesetzlichen Regelung der Fall sei, wenn er wegen einer im Ausland ausgeübten Beschäftigung inländische Pflichtbeitragszeiten habe. In den Anhang VI Buchstabe C der EWGV 1408/71 sei die Nr 19 deshalb eingefügt worden, weil die EG-Kommission seinerzeit einen Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht darin gesehen habe, daß die Zeit der Kindererziehung im Ausland für deutsche Arbeitnehmer nicht als Versicherungszeit gegolten habe. Deshalb sprächen Sinn und Zweck dieser eingefügten Vorschrift für eine Begünstigung auch der Versicherten, die wie sie inländische Versicherungszeiten aufwiesen. Auch aus dem Gleichstellungsgebot des Art 3 Abs 1 EWGV 1408/71 ergebe sich ihr Anspruch auf Anrechnung der Kindererziehungszeiten. Wenn nämlich Ausländer nicht schlechter gestellt werden dürften als Inländer, dann dürften auch Inländer, die sich im Ausland aufhielten, durch ihr eigenes Land nicht schlechter gestellt werden als Inländer, die sich im Inland aufhielten. Ein anderes Verständnis der Regelung der eingefügten Nr 19 des Anhangs VI Buchstabe C EWGV 1408/71 verstoße gegen das Willkürverbot des Art 3 Abs 1 GG. Es sei kein Grund dafür ersichtlich, daß die Rückwirkung der Regelung auf den gewählten Zeitraum und die Regelung selbst auf den dort genannten Personenkreis beschränkt worden sei. Die Anerkennung der Kindererziehung als Versicherungszeit könne nicht davon abhängig gemacht werden, ob Erziehungsurlaub in Anspruch genommen worden sei oder nicht.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 11. August 1997 aufzuheben und die Beklagte unter Änderung ihres Bescheids vom 12. September 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21. August 1996 zu verurteilen, für ihren am 22. August 1984 geborenen Sohn Christophe eine Kindererziehungszeit vom 1. September 1984 bis 31. August 1985 sowie eine Berücksichtigungszeit wegen Kindererziehung vom 22. August 1984 bis 31. August 1994 vorzumerken.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
II
Der Senat hält die aus dem Entscheidungssatz ersichtliche Frage iS von Art 177 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGVtr) für klärungsbedürftig.
Das SG geht zutreffend davon aus, daß die Klägerin nach nationalem Recht keinen Anspruch auf Vormerkung einer Kindererziehungszeit bzw einer Berücksichtigungszeit wegen Kindererziehung für die Erziehung ihres in Frankreich erzogenen Sohnes Christophe hat (1). Sie hat auch in Frankreich keinen Anspruch auf rentenrechtliche Berücksichtigung von Zeiten der Kindererziehung erworben (2). Dieses Ergebnis könnte gegen das Verbot der Diskriminierung (Art 6 EGVtr) verstoßen und die Klägerin – mittelbar – in ihrer Freizügigkeit beschränken, Art 48, 51 EGVtr (3).
1. Nach deutschem Recht gelten Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung für Zeiten der Erziehung eines Kindes in dessen ersten drei Lebensjahren als gezahlt (§ 56 Abs 1 Satz 1 SGB VI idF vor Rechtsänderung durch Art 4 Nr 4 des Gesetzes zu Korrekturen in der Sozialversicherung und zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte vom 19. Dezember 1998, BGBl I 3843 ff, 3846); für Geburten vor dem 1. Januar 1992 schränkt § 249 Abs 1 SGB VI diese Regelung auf die ersten zwölf Kalendermonate nach Ablauf des Monats der Geburt ein. Gemäß § 56 Abs 1 Satz 2 SGB VI wird eine Kindererziehungszeit für einen Elternteil angerechnet, wenn die Erziehungszeit diesem Elternteil zuzuordnen ist, die Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erfolgt ist oder einer solchen gleichsteht und der Elternteil von der Anrechnung nicht ausgeschlossen ist. Gemäß § 56 Abs 3 Satz 1 SGB VI ist eine Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erfolgt, wenn der erziehende Elternteil sich mit dem Kind dort gewöhnlich aufgehalten hat. Daß diese Voraussetzung nicht erfüllt ist, hat das SG bindend (§ 163 SGG) festgestellt; Revisionsrügen hinsichtlich dieser Feststellungen hat die Klägerin nicht vorgebracht.
Gemäß § 56 Abs 3 Satz 2 und 3 SGB VI steht die Auslandserziehung einer Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland nur unter bestimmten – einschränkenden – Voraussetzungen gleich. § 56 Abs 3 Satz 2 und 3 SGB VI lautet:
„Einer Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland steht gleich, wenn der erziehende Elternteil sich mit seinem Kind im Ausland gewöhnlich aufgehalten hat und während der Erziehung oder unmittelbar vor der Geburt des Kindes wegen einer dort ausgeübten Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit Pflichtbeitragszeiten hat. Dies gilt bei einem gemeinsamen Aufenthalt von Ehegatten im Ausland auch, wenn der Ehegatte des erziehenden Elternteils solche Pflichtbeitragszeiten hat oder nur deshalb nicht hat, weil er zu den in § 5 Abs 1 und 4 (SGB VI) genannten Personen gehörte oder von der Versicherungspflicht befreit war.”
Nach § 57 SGB VI ist ferner
„die Zeit der Erziehung eines Kindes bis zu dessen vollendetem 10. Lebensjahr bei einem Elternteil eine Berücksichtigungszeit, soweit die Voraussetzungen für die Anrechnung einer Kindererziehungszeit auch in dieser Zeit vorliegen.”
Nach dem Wortlaut des § 56 Abs 3 Satz 2 und 3 iVm § 56 Abs 1 SGB VI erfüllt die Klägerin die Voraussetzungen für die Anrechnung einer Kindererziehungszeit für ihren Sohn Christophe nicht – und damit gleichermaßen nicht die Voraussetzungen des § 57 SGB VI für eine Anrechnung von Berücksichtigungszeiten.
Die Regelung in § 56 Abs 3 Satz 2 und 3 SGB VI kann nach nationalem Recht nicht im Sinne der Klägerin ausdehnend ausgelegt werden. Zwar hat das BSG entschieden, daß die Voraussetzungen des § 56 Abs 3 Satz 2 und 3 SGB VI auch erfüllt sind, wenn der Erziehende bzw sein Ehegatte während einer Auslandsbeschäftigung – bei Bestehen zumindest eines Rumpfarbeitsverhältnisses im Inland – weiterhin in das deutsche Arbeits- und Erwerbsleben integriert gewesen ist (Urteile vom 17. November 1992 - 4 RA 15/91 - BSGE 71, 227 = SozR 3-2600 § 56 Nr 4 und vom 16. Juni 1994 - 13 RJ 31/93 -). Diese Fallgestaltung kann jedoch der bei der Klägerin vorliegenden (reine Inlandsbeschäftigung bei Auslandsaufenthalt) nicht gleichgesetzt werden. Insbesondere kann das Wort „dort” in § 56 Abs 3 Satz 2 SGB VI bezogen auf die im Ausland ausgeübte Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit nicht in ein „hier” (Inland) umgedeutet oder – den Gesetzestext korrigierend – einfach weggelassen werden. Denn der Gesetzgeber will als Ausfluß des in Deutschland geltenden Territorialitätsprinzips ausschließlich die Erziehungsleistung in der Bundesrepublik Deutschland honorieren, weil sonst das hier bestehende Alterssicherungssystem zu einer Benachteiligung der Personen führen würde, die sich innerhalb der Familie der Kindererziehung widmeten. Infolgedessen knüpft der Gesetzgeber für den Erwerb von Pflichtbeitragszeiten wegen Kindererziehung bewußt an die Person des Erziehenden und an den Erziehungsort Bundesrepublik Deutschland an, weil grundsätzlich nur hier für die Zeit der Kindererziehung der Nachteil in der Altersversorgung eintreten kann (BSG Urteile vom 17. November 1992 - 4 RA 15/91 - BSGE 71, 227 = SozR 2600 § 56 Nr 4, vom 10. September 1997 - 5 RJ 2/97 - und vom 28. September 1998 - B 4 RA 9/98 R -).
Die so verstandene gesetzliche Regelung verstößt nicht gegen den Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG, wie das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entschieden hat: Es sei keine Verpflichtung des Gesetzgebers erkennbar, Zeiten der Kindererziehung im Ausland dem Versicherten in der Rentenversicherung der Bundesrepublik Deutschland anzurechnen. Systemgerechter Anknüpfungspunkt für die mitgliedschaftliche Einbeziehung in nationale Sicherungssysteme seien ein inländisches Beschäftigungsverhältnis und der gewöhnliche Aufenthalt einer Person im jeweiligen Staatsgebiet. An diesem historisch gewachsenen Schutzbereich der Sozialversicherung und insbesondere der gesetzlichen Rentenversicherung habe sich der Gesetzgeber bei der territorialen Begrenzung der Anrechnung von Kindererziehungszeiten in sachgerechter Weise orientiert (BVerfG Beschluß vom 2. Juli 1998 - 1 BvR 810/90 - NJW 1998, 2963 = NZS 1998, 518). Hier war die Klägerin zwar in das deutsche Sozialversicherungssystem integriert; jedenfalls mangelt es aber an dem gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland während der Erziehungszeit.
2. Die mangelnde Anrechenbarkeit von Kindererziehungs- und -berücksichtigungszeiten in der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung führt zu einer Lücke im Versicherungsleben der Klägerin. Denn ihr wird auch nach französischem Recht für die Zeit der Erziehung ihres Sohnes Christophe keine Kindererziehungszeit gutgeschrieben.
In Frankreich wird weiblichen Versicherten eine Gutschrift von zwei zusätzlichen Versicherungsjahren für jedes Kind gewährt, das sie über zumindest neun Jahre vor dessen 16. Geburtstag aufgezogen haben (vgl Buczko, DAngVers 1983, 319 ff, 322; Igl in: Alterssicherung im Rechtsvergleich, Bd 11 ≪1991≫, 244; Hohnerlein, ZSR 1992, 589 ff, 595 f; Kaufmann, DAngVers 1996, 72 ff, 77). Da nur versicherte Frauen in den Genuß der Kindererziehungsjahre kommen, ist für deren Anrechnung das Bestehen einer (Vor-)Versicherung Voraussetzung. Anders als in Deutschland hängt damit die Anrechnung von Kindererziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung nicht grundsätzlich vom Aufenthalt im eigenen Staatsgebiet ab (Territorialitätsprinzip), sondern regelmäßig vom (vorherigen) Bestehen einer versicherten Beschäftigung (Beschäftigungsprinzip).
Dies wiederum führt zu dem widersprüchlichen Ergebnis, daß eine Grenzgängerin, die ihren Wohnort in Frankreich nimmt, aber in Deutschland arbeitet, weder in Deutschland noch in Frankreich einen Anspruch auf Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten hat, während eine Grenzgängerin, die ihren Wohnort in Deutschland nimmt, aber in Frankreich arbeitet, nach den Rechtsnormen beider Vertragsstaaten Anspruch auf Anrechnung vorerwähnter Zeiten hat.
3. Ausgehend von der in Art 6 EGVtr, mittelbar aber wegen der Garantie der Freizügigkeit auch in Art 48, 51 EGVtr angelegten Problematik der mittelbaren Diskriminierung hatte die EG-Kommission im August 1989 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland eingeleitet. Sie sah in der territorialen Begrenzung der Anerkennung von Kindererziehungszeiten eine verschleierte Diskriminierung jedenfalls der Personen, die vor und nach der anerkennungsfähigen Kindererziehungszeit in der Bundesrepublik Deutschland eine versicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt haben (Funk, VSSR 1994, 119 ff, 129; Igl/Fuchsloch, SGb 1993, 393 ff, 396; Schulte/Zacher, Wechselwirkungen zwischen dem europäischen Sozialrecht und dem Sozialrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1991, 47 ff, 55 f). Zur Abwendung dieses Vertragsverletzungsverfahrens schloß die Bundesrepublik Deutschland mit der EG-Kommission einen Kompromiß (vgl Igl/Fuchsloch, aaO; Ruland, Deutsches und europäisches Rentenversicherungsrecht, DRV 1990, 709 ff, 716); in dessen Folge wurde die Anlage VI Buchstabe C der EWGV 1408/71 durch die EWGV 2195/91 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr L 206 vom 29. Juli 1991) mit Wirkung vom 1. Januar 1986 um folgende Nr 19 erweitert:
„Als Versicherungszeit wegen Kindererziehung nach den deutschen Rechtsvorschriften gilt auch die Zeit, in der die Erziehung eines Kindes durch den betroffenen Arbeitnehmer in einem anderen Mitgliedstaat erfolgt, soweit dieser Arbeitnehmer nach § 6 Abs 1 Mutterschutzgesetz nicht beschäftigt werden darf oder Erziehungsurlaub gemäß § 15 Bundeserziehungsgeldgesetz nimmt und er nicht eine geringfügige Beschäftigung gemäß § 8 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV) ausgeübt hat.”
Damit werden nur ganz bestimmte ausländische Kindererziehungszeiten deutschen gleichgestellt: Erfaßt werden nur Zeiten ab 1986 und nur für solche Personen, die vor dem Auslandsaufenthalt in einem Arbeitsverhältnis standen, das der deutschen Sozialversicherungspflicht unterfällt. Auf die Klägerin ist die Regelung des Anhangs VI Buchstabe C Nr 19 zur EWGV 1408/71 nicht anwendbar. Zum einen gilt sie erst ab 1. Januar 1986; die hier streitige Zeit der Kindererziehung lag vor diesem Zeitpunkt (vgl hierzu BSG Urteil vom 28. August 1991 - 13/5 RJ 16/90 - SozR 3-2200 § 1251a Nr 20). Zum anderen kann die Regelung auch unabhängig davon nicht voll zum Erfolg des Begehrens der Klägerin führen. Denn § 6 MuSchG findet nach § 1 MuSchG nur Anwendung auf Personen, die in einem Beschäftigungsverhältnis stehen (was bei der Klägerin nur bis März 1985 der Fall war); Erziehungsurlaub nach § 15 BErzGG konnte erst ab 1. Januar 1986 genommen werden, weil das BErzGG erst an diesem Tag in Kraft getreten ist.
Die Regelung der Nr 19 im Anhang VI Buchstabe C EWGV 1408/71 hat in der Literatur Kritik erfahren (vgl zB Igl/Fuchsloch, SGb 1993, 393 ff, 397; Zuleeg-Feuerhahn, ZSR 1992, 568 ff, 584; Eichenhofer, SGb 1994, 353 ff, 357; Funk, VSSR 1994, 119 ff, 129). Sie sei wenig sachgerecht und nur durch finanzpolitische Erwägungen begründbar. Denn bereits 1989 sei im Rentenreformgesetz 1992 (RRG 1992) eine Rechtsänderung mit Wirkung ab 1. Januar 1992 verabschiedet worden, wonach Zeiten der Kindererziehung bei Leistungsfällen ab Januar 1992 auch für Zeiten vor dem 1. Januar 1986 als Beitragszeiten zur Rentenversicherung angerechnet werden (§ 249 Abs 1, 4 und 5 SGB VI). Damit stelle sich ua die grundsätzliche Frage, ob eine Koppelung der mitgliedstaatlichen Kindererziehungszeit mit der Inanspruchnahme von Erziehungsurlaub sachgerecht sei. Denn die Inanspruchnahme von Erziehungsurlaub setze eine bestehende Erwerbstätigkeit voraus (vgl § 15 BErzGG), während die rentenrechtliche Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten nach dem RRG 1992 ebenso wie das Erziehungsgeld für inländische Eltern nicht an eine Erwerbstätigkeit geknüpft sei (so insbesondere Igl/Fuchsloch, SGb 1993, 313 ff, 397).
Durch die EWGV 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 zur Änderung und Aktualisierung der EWGV 1408/71 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr L 28 vom 30. Januar 1997) hat Anhang VI Buchstabe C Nr 19 der EWGV 1408/71 jedoch keine Änderung erfahren. Der Wortlaut der Nr 19 gilt unverändert fort.
Nach der bestehenden Rechtslage gerät die Klägerin somit in eine Sicherungslücke, weil das in Deutschland geltende Territorialitätsprinzip und das in Frankreich geltende Beschäftigungsprinzip nicht miteinander vereinbar sind. Der Anwendbarkeit von Gemeinschaftsrecht kann nicht entgegengehalten werden, daß die Klägerin sich als deutsche Staatsangehörige gegenüber dem deutschen Rentenversicherungsträger auf das Diskriminierungsverbot und die Freizügigkeit der Arbeitnehmer beruft. Denn sie rügt gerade, daß sie als Grenzgängerin benachteiligt worden sei, so daß es sich nicht um einen rein internen Sachverhalt handelt, sondern der Sachverhalt den erforderlichen Bezug zum Ausland bzw zum Gemeinschaftsrecht hat (vgl EuGH Urteile vom 18. Oktober 1990 - C-297/88 und C-197/89 - Slg 1990, 3763, 3791 sowie vom 26. Januar 1999 - C-18/95 -). Allerdings könnte hinsichtlich der bestehenden deutschen innerstaatlichen Regelung eine „versteckte” oder „verschleierte” Diskriminierung deswegen zu verneinen sein, weil § 56 Abs 3 Satz 2 und 3 SGB VI wesensmäßig nicht in verstärktem Maße Personen trifft, die nicht die Staatsangehörigkeit des die Norm erlassenden Mitgliedstaates besitzen (vgl Ruland, DRV 1990, 709 ff, 714). Bei der Klägerin handelt es sich aber um eine deutsche Staatsangehörige, die aufgrund ihrer Wohnsitznahme in Frankreich keine Kindererziehungszeiten in ihrer Rentenbiographie gutgeschrieben erhält. Zu prüfen wäre deshalb, ob eine Diskriminierung (nur) in der Regelung Frankreichs liegt, die der Klägerin die Vorversicherungszeiten aus der deutschen Rentenversicherung nicht anrechnet. Sollte dies der Fall sein, stellt sich weiterhin die Frage, welche Folgen dies für die Ansprüche der Klägerin gegen die deutsche Rentenversicherung hat. Unklar ist auch die europarechtliche Einordnung von Kindererziehungszeiten; sie werden einerseits als Familienleistungen (Art 72 EWGV 1408/71) bezeichnet (vgl BSG Urteil vom 25. April 1990 - 4 RA 48/89 - nicht veröffentlicht), andererseits aber auch als Leistungen bzw Leistungselemente bei Alter diskutiert (Art 10 und Art 44 ff EWGV 1408/71; vgl BSG Urteil vom 17. Dezember 1991 - 13 RJ 3/91 - BSGE 70, 62, 70, 71 = SozR 3-5750 Art 2 § 62 Nr 6 S 30, 31; Igl/Fuchsloch, SGb 1993, 393, 400).
Abschließend ist darauf hinzuweisen, daß der Vorschlag der Kommission für eine EGV des Rates zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (1999/C 38/08), von der Kommission vorgelegt am 21. Dezember 1998 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr C 38 vom 12. Februar 1999, S 10 ff) eine grundlegende Änderung oder Neuordnung hinsichtlich der mitgliedstaatlichen Kindererziehungszeiten nicht erkennen läßt. Nach der Allgemeinen Begründung des Entwurfs ist es zwar innerhalb der Gemeinschaft grundsätzlich nicht gerechtfertigt, Sozialversicherungsansprüche vom Wohnort des Betreffenden abhängig zu machen; in spezifischen Fällen jedoch – vor allem bei besonderen Leistungen mit Bindung an das wirtschaftliche und soziale Umfeld des Betreffenden – könne der Wohnort berücksichtigt werden. Entsprechend allgemein regelt Art 5 des Entwurfs, daß eine nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten oder nach dieser Verordnung geschuldete Leistung – vorbehaltlich der Sonderbestimmungen dieser Verordnung – nicht deshalb gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden darf, weil der Berechtigte im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats als des Staates wohnt, in dessen Gebiet der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat. Der Anhang O, der die besonderen Leistungen iS des Art 55 der Verordnung bestimmt, und der Anhang II, der besondere Vorschriften zur Anwendung der Rechtsvorschriften bestimmter Mitgliedstaaten iS des Art 67 der Verordnung enthält, sind (aaO) indessen nicht mit abgedruckt worden.
Fundstellen
Haufe-Index 542924 |
www.judicialis.de 1999 |