Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs durch vermeintliche Überraschungsentscheidung. Berufungsverwerfung aufgrund der Nichtfeststellbarkeit des Erreichens des Beschwerdewertes. Unzulässigkeit der isolierten Anfechtungsklage gegen eine abschließende Entscheidung in Verfahren nach dem SGB 2
Orientierungssatz
1. Eine den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzende Überraschungsentscheidung liegt nur vor, wenn das Urteil auf Gesichtspunkte gestützt wird, die bisher nicht erörtert worden sind, und dadurch der Rechtsstreit eine unerwartete Wendung nimmt, mit der auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verfahrensverlauf selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen braucht (vgl nur BSG vom 22.4.2015 - B 3 P 8/13 R = BSGE 118, 239 = SozR 4-3300 § 23 Nr 7, RdNr 37).
2. Soweit die Kläger eine Überraschungsentscheidung sinngemäß darin sehen, dass das LSG die Berufung als unstatthaft verworfen hat, weil sich nicht habe feststellen lassen, ob im Streit um die abschließende Entscheidung über existenzsichernde Leistungen der Beschwerdewert von 750 Euro nach § 144 Abs 1 S 1 Nr 1 SGG erreicht ist, hätten sie darlegen müssen, welche bezifferten oder zumindest bezifferbaren Anträge sie erst- und zweitinstanzlich gestellt haben und weshalb auf dieser Grundlage mit einer Verwerfung ihrer Berufung als unstatthaft nicht zu rechnen war.
3. In Verfahren nach dem SGB 2 ist die isolierte Anfechtung einer abschließenden Entscheidung ohne Geltendmachung dessen, was als Leistung tatsächlich beansprucht wird, prozessual ausgeschlossen (vgl nur BSG vom 12.9.2018 - B 4 AS 39/17 R = BSGE 126, 294 = SozR 4-4200 § 41a Nr 1, RdNr 11 zu § 41a SGB II mwN).
Normenkette
SGG § 160a Abs. 2 S. 3, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 62 Hs. 1; GG Art 103 Abs. 1; SGG § 54 Abs. 4; SGB II
Verfahrensgang
SG Neubrandenburg (Gerichtsbescheid vom 03.01.2017; Aktenzeichen S 13 AS 707/15) |
LSG Mecklenburg-Vorpommern (Urteil vom 15.01.2019; Aktenzeichen L 10 AS 64/17) |
Tenor
Die Beschwerde der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 15. Januar 2019 - L 10 AS 64/17 - wird als unzulässig verworfen.
Der Antrag der Kläger, ihnen für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen und Rechtsanwältin H., U., beizuordnen, wird abgelehnt.
Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in der angefochtenen Entscheidung ist als unzulässig zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 iVm § 169 SGG), weil der zu ihrer Begründung allein angeführte Zulassungsgrund des Verfahrensmangels (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) nicht gemäß § 160a Abs 2 Satz 3 SGG schlüssig dargelegt ist.
Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung von § 109 SGG und § 128 Abs 1 Satz 1 SGG (Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Um einen Verfahrensmangel in diesem Sinne geltend zu machen, müssen die Umstände bezeichnet werden, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen (vgl zB BSG vom 29.9.1975 - 8 BU 64/75 - SozR 1500 § 160a Nr 14 S 21; BSG vom 24.3.1976 - 9 BV 214/75 - SozR 1500 § 160a Nr 24 S 31; BSG vom 18.2.1980 - 10 BV 109/79 - SozR 1500 § 160a Nr 36 S 53). Dem genügt das Beschwerdevorbingen, mit dem die Kläger insbesondere eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) durch eine Überraschungsentscheidung rügen, nicht.
Gemäß § 62 Halbsatz 1 SGG, der dem schon in Art 103 Abs 1 GG verankerten prozessualen Grundrecht entspricht (vgl Neumann in Hennig, SGG, § 62 RdNr 6 ff, Stand Juni 2015), ist den Beteiligten vor jeder Entscheidung des Gerichts rechtliches Gehör zu gewähren. Die richterliche Hinweispflicht (§ 106 Abs 1 SGG) konkretisiert den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Hauck in Hennig, SGG, § 106 RdNr 10, Stand September 2010) und zielt mit dieser Funktion insbesondere auf die Vermeidung von Überraschungsentscheidungen (vgl BSG vom 26.7.2016 - B 4 AS 47/15 R - BSGE 122, 25 = SozR 4-1500 § 114 Nr 2, RdNr 34). Eine den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzende Überraschungsentscheidung liegt allerdings nur vor, wenn das Urteil auf Gesichtspunkte gestützt wird, die bisher nicht erörtert worden sind, und dadurch der Rechtsstreit eine unerwartete Wendung nimmt, mit der auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verfahrensverlauf selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen braucht (vgl nur BSG vom 22.4.2015 - B 3 P 8/13 R - BSGE 118, 239 = SozR 4-3300 § 23 Nr 7, RdNr 37; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 62 RdNr 8b). Der Verfahrensmangel einer Überraschungsentscheidung ist deshalb nur dann schlüssig bezeichnet, wenn im Einzelnen vorgetragen wird, aus welchen Gründen auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter aufgrund des bisherigen Prozessverlaufs nicht damit rechnen musste, dass das Gericht seine Entscheidung auf einen bestimmten Gesichtspunkt stützt (BSG vom 7.6.2016 - B 13 R 40/16 B - RdNr 9).
Eine solche unerwartete Verfahrenswendung ist nicht nachvollziehbar dargelegt. Soweit die Kläger sie sinngemäß darin sehen, dass das LSG ihre Berufung als unstatthaft verworfen hat, weil sich nicht habe feststellen lassen, ob im Streit um die abschließende Entscheidung über existenzsichernde Leistungen für März und April 2014 der Beschwerdewert von 750 Euro nach § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG erreicht ist, hätten sie darlegen müssen, welche bezifferten oder zumindest bezifferbaren (vgl nur Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 144 RdNr 15b) Anträge sie erst- und zweitinstanzlich gestellt haben und weshalb auf dieser Grundlage mit einer Verwerfung ihrer Berufung als unstatthaft nicht zu rechnen war. Solche Angaben sind dem Vorbringen nicht zu entnehmen.
Zu den gestellten Anträgen teilt die Beschwerde nur mit, dass erstinstanzlich überhaupt Klage erhoben ("erhoben die Kläger Klage") und in der Berufungsinstanz die Aufhebung des mit der Klage angefochtenen Bescheids beantragt worden ist ("Bescheid … aufzuheben"); welches ihnen vom SG versagte wirtschaftliche Interesse die Kläger im Berufungsverfahren weiter verfolgt haben (vgl nur Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 144 RdNr 14 mwN), geht daraus nicht hervor. Soweit nach dem weiteren Vorbringen für März und April 2014 existenzsichernde Leistungen nach dem SGB II - sinngemäß - zunächst vorläufig bewilligt worden sind und sie auf die abschließende Entscheidung hin überzahlte Leistungen in Höhe von insgesamt 379,15 Euro zu erstatten haben, ist damit die Wertgrenze nach § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG nicht erreicht.
Und soweit ihnen - wie sie geltend machen - vorläufig monatlich jeweils 650,99 Euro bewilligt worden waren und ihr Anspruch abschließend auf 405,66 Euro - so Blatt 4 der Beschwerdebegründung - bzw 202,83 Euro - so Blatt 1 - festgesetzt worden ist, lässt das einen Schluss auf den Wert des Beschwerdegegenstands allein nicht zu. Insbesondere beläuft er sich nicht nur deshalb auf 1301,98 Euro (650,99 Euro x 2), weil die abschließende Entscheidung - wie sie geltend machen - mangels einer ausreichenden Anhörung der Aufhebung unterliegen könnte. Selbst wenn dem zu folgen wäre, ist in Verfahren nach dem SGB II die isolierte Anfechtung einer abschließenden Entscheidung ohne Geltendmachung dessen, was als Leistung tatsächlich beansprucht wird, prozessual ausgeschlossen (vgl nur BSG vom 12.9.2018 - B 4 AS 39/17 R - BSGE 126, 294 = SozR 4-4200 § 41a Nr 1, RdNr 11 zu § 41a SGB II mwN, was sinngemäß für die Rechtslage im Streitzeitraum hier ebenfalls gilt). Dass das LSG solchen Vortrag übergangen haben könnte, ist dem Beschwerdevorbringen nicht substantiiert zu entnehmen.
Schließlich ist aus den genannten Gründen auch eine Verletzung von § 123 SGG nicht schlüssig gerügt, soweit die Kläger meinen, dass allein wegen des (vermeintlichen) Anhörungsmangels die abschließende Entscheidung aufzuheben gewesen wäre und die vorläufige Bewilligung hätte wiederaufleben müssen.
PKH gemäß § 73a SGG iVm § 114 ZPO ist nicht zu bewilligen, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung nach den obigen Ausführungen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet. Der Antrag auf Beiordnung eines Rechtsanwalts (§ 73a SGG iVm § 121 ZPO) ist abzulehnen, weil kein Anspruch auf PKH besteht.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung der §§ 183, 193 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI13880512 |