Leitsatz (amtlich)
1. Ein Hilfsrichter kann in einem Senat des Landessozialgerichts beschäftigt werden, wenn und solange eine vorübergehende außergewöhnliche Geschäftsbelastung vorliegt.
2. Die Annahme, eine vorübergehende, außergewöhnliche Geschäftsbelastung liege vor, wird für die Jahre 1958 bis 1960 gestützt durch die Erwägungen des Gesetzgebers zum 2. und 3. ÄndG SGG.
Normenkette
SGG § 32 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 15. Januar 1960 wird als unzulässig verworfen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Der Kläger begehrt die Gewährung einer Rente aus der Rentenversicherung der Angestellten wegen Berufsunfähigkeit. Die Beklagte lehnte den Rentenantrag ab, weil der Kläger nicht berufsunfähig sei (Bescheid vom 27. 9. 1956). Aus dem gleichen Grunde wiesen das Sozialgericht Köln die Klage ab (Urteil vom 29.1.1957) und das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen die Berufung des Klägers zurück (Urteil vom 15.1.1960). Das Landessozialgericht ließ in seinem Urteil die Revision nicht zu; hieran ist der Senat gebunden. Die Revision wäre deshalb nur statthaft, wenn der Kläger einen wesentlichen Mangel im Verfahren des Landessozialgerichts gerügt hätte und der Mangel tatsächlich vorläge (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -; BSG 1 S. 150). Dies ist nicht der Fall.
Soweit der Kläger geltend macht, der erkennende Senat des Landessozialgerichts sei wegen der Mitwirkung der Sozialgerichtsrätin L. nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen, hebt er ersichtlich auf die Grundsätze ab, die nach der Rechtsprechung für die Verwendung von Hilfsrichtern in den Spruchkörpern der Gerichte gelten (vgl. BSG 9 S. 137 und die dort angeführte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs). Wie das Bundessozialgericht entschieden hat, können beim Landessozialgericht - auch in den sogenannten Zeitsenaten (§ 210 SGG) - Hilfsrichter nur zur Vertretung, zu ihrer beruflichen Ausbildung und zur Bewältigung eines vorübergehenden Geschäftsanfalls, jedoch stets nur für vorübergehende Zeit verwendet werden; die gleichzeitige Mitwirkung von zwei Hilfsrichtern in einem Senat des Landessozialgerichts ist jedenfalls gesetzwidrig (vgl. auch BSG 11 S. 22). Die Revision behauptet, die Sozialgerichtsrätin L. sei im 4. Senat des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 1. Oktober 1958 an ununterbrochen als Hilfsrichterin beschäftigt gewesen. Dies würde bedeuten, daß sie am Tage des angefochtenen Urteils (15.1.1960) rund 14 Monate lang in dieser Eigenschaft tätig war. Aus der Zeitdauer der Beschäftigung allein darf aber noch nicht auf eine unzulässige Dauerbeschäftigung geschlossen werden. Die außergewöhnliche Arbeitsbelastung, die in der fraglichen Zeit (1958 bis 1960) bei den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit allgemein zu beobachten war, besonders die Zahl der bei Beginn der Geschäftsjahre noch anhängigen Berufungen, machte es auch bei den Landessozialgerichten notwendig, daß als vorübergehende Maßnahme Hilfsrichter in den Senaten eingesetzt wurden. Von einer vorübergehenden Überlastung der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit ist auch der Gesetzgeber ausgegangen; er hat durch das Zweite Änderungsgesetz zum SGG vom 25. Juni 1958 (BGBl I S. 409) für die Zeit vom 1. Juli 1958 bis zum 31. Dezember 1960 über das bisher geltende Recht hinaus noch eine Anzahl von Vorschriften erlassen, die der Bewältigung dieser außerordentlichen Belastung dienen sollten: Die Verlängerung des § 210 SGG über den 31. Dezember 1958 hinaus bis zum 31. Dezember 1960 und die Zulassung eines höheren Anteils der Zeitsenate gegenüber bisher, sowie die weitgehende Änderung des § 216 SGG, ebenfalls beschränkt auf die Zeit bis zum 31. Dezember 1960. Diese Maßnahmen - insbesondere die Verlängerung und Ausweitung der Zeitsenate - mag verfassungsrechtlich nicht unbedenklich gewesen sei. Die gesetzgebenden Körperschaften haben aber damit zu erkennen gegeben, daß sie im Sommer 1958 nach reiflicher Prüfung einen besonderen, aber vorübergehenden Notstand der Sozialgerichtsbarkeit annahmen, der bis zum Ablauf der gestellten Frist auch außergewöhnliche Maßnahmen rechtfertige. In diesem Zusammenhang ist auch die Beschäftigung von Hilfsrichtern zu sehen, soweit es sich um die Frage handelt, ob ein vorübergehendes Bedürfnis für ihre Verwendung bestand. Diese Frage haben die gesetzgebenden Organe im Frühjahr 1960 nochmals geprüft und bei den Beratungen des Dritten Änderungsgesetzes zum SGG vom 16. Mai 1960 (BGBl I S. 305) bejaht, auch hier mit der Beschränkung auf die Zeit bis zum 31. Dezember 1960. Sie haben sich diese Entscheidung nicht leicht gemacht, wie die Stellungnahme des Rechtsausschusses des deutschen Bundestags ergibt (Bundestagsdrucks. Nr. 1757); der Ausschuß hat die Bedenken, die gegen das beabsichtigte Gesetz zu § 210 a SGG geltend gemacht werden konnten, eingehend erwogen und besonderen Wert auf die Feststellung gelegt, daß nur die außergewöhnliche Situation, die sich aus der Geschäftslage der Sozialgerichte ergibt, die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der gesetzlichen Maßnahme begründe. Auch der erkennende Senat kann bei Abwägung aller Umstände nicht zu der Überzeugung kommen, daß die Beschäftigung eines Hilfsrichters in einem Senat des Landessozialgerichts, wenn sie in der Zeit nach dem Inkrafttreten des Zweiten Änderungsgesetzes zum SGG (1.7.1958) bis in das Geschäftsjahr 1960 hinein stattgefunden hat, rechtsstaatlichen Grundsätzen widerspricht. Deshalb können auch gegen die damalige Beschäftigung der Sozialgerichtsrätin L. beim Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen keine Bedenken erhoben werden. Durch ihre Mitwirkung war die Richterbank nicht vorschriftswidrig besetzt.
Der Kläger meint ferner, das Landessozialgericht habe seine Pflicht zur vollständigen Aufklärung des Sachverhalts verletzt (Verstoß gegen § 103 SGG) und gleichzeitig die Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung überschritten (Verstoß gegen § 128 SGG); es hätte, wenn es der Beurteilung im Gutachten des Dr. Ge. nicht folgen wollte, vor seiner Entscheidung noch ein weiteres Gutachten über den Gesundheitszustand des Klägers einholen müssen. Dieses Vorbringen ist ungenau, es entspricht nicht den gesetzlichen Erfordernissen, wonach in der Revisionsbegründung, soweit Verfahrensmängel gerügt werden, die Tatsachen und Beweismittel, die den Mangel ergeben, bezeichnet werden müssen (§ 164 Abs. 2 Satz 2 SGG). Die Revision beachtet zunächst nicht genügend, daß das Landessozialgericht über den Gesundheitszustand des Klägers nicht nur den Sachverständigen Dr. Ge., sondern danach als weiteren Gutachter noch den Nervenarzt Dr. Gr. gehört hat. Auch sagt der Kläger in der Revisionsbegründung nicht, welche Zweifel medizinischer Art nach der Anhörung dieser Ärzte noch bestanden und in welcher Richtung das Landessozialgericht weitere Ermittlungen hätte anstellen können und müssen. Zwar hat Dr. Ge. den Kläger als berufsunfähig bezeichnet und die bei ihm bestehende Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) mit 60 v.H. beziffert.
Das Landessozialgericht war aber nicht gehalten, sich dieser Auffassung anzuschließen, es brauchte auch kein weiteres Sachverständigengutachten einzuholen, wenn ihm die Auffassung des Dr. Ge. über das Ausmaß, in dem die festgestellten Gesundheitsschäden die Erwerbsfähigkeit des Klägers einschränken, nicht sachgemäß erschien (BSG 6 S. 267). Ebensowenig brauchte es dies zu tun, um die "Gesamtminderung" der Erwerbsfähigkeit des Klägers festzustellen; auch insoweit konnte und mußte es selbst die notwendigen Feststellungen treffen. Soweit der Kläger bemängelt, das Landessozialgericht habe ihn ohne genügende medizinische Feststellungen für fähig gehalten, leichte Büroarbeiten in der Verwaltung auszuüben, hat er nicht angegeben, warum das Landessozialgericht nicht in der Lage gewesen sein sollte, diesen Schluß auf Grund der bereits eingeholten ärztlichen Gutachten in Verbindung mit seiner eigenen Sachkunde zu ziehen. Im übrigen lassen die Gründe des angefochtenen Urteils erkennen, daß das Landessozialgericht die medizinischen Befunde eingehend gewürdigt und sich mit den Auffassungen aller ärztlichen Gutachter befaßt und auseinandergesetzt hat. Das Urteil gibt auch ausführlich die Gründe an, aus denen das Landessozialgericht zu seiner Beurteilung der Erwerbsfähigkeit des Klägers gekommen ist. Daß es hierbei gegen irgendwelche Erfahrungssätze oder gegen die Denkgesetze verstoßen hätte, ist nicht dargetan.
Hiernach ist das Vorbringen des Klägers nicht geeignet, die Revision statthaft zu machen. Sie muß deshalb als unzulässig verworfen werden (§§ 169, 193 SGG).
Fundstellen