Leitsatz (amtlich)
Eine Zurückverweisung an das SG ist nach SGG § 159 Abs 1 Nr 3 zulässig, wenn in der Berufungsinstanz neue, für die Entscheidung wesentliche tatsächliche Behauptung vorgetragen sind, die dem SG nicht bekannt waren. Es ist nicht erforderlich, daß sich der neue Sachvortrag auf tatsächliche Vorgänge bezieht, die nach Erlaß des angefochtenen Urteils eingetreten sind.
Leitsatz (redaktionell)
Wird ein Ausnahmefall des RVO § 1547 Abs 1 Nr 1 geltend gemacht, ist hierfür eine schlüssige Behauptung erforderlich und genügend, um dem Gericht die Prüfung der Statthaftigkeit zu ermöglichen; die Vorschrift des SGG § 145 Nr 1 ist nicht dahin auszulegen, daß der "Ausnahmefall" auch tatsächlich vorliegen muß.
Normenkette
SGG § 159 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1953-09-03, § 145 Nr. 1 Fassung: 1958-06-25; RVO § 1547 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1924-12-15
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 18. März 1960 wird als unzulässig verworfen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
Mit einem bei der Beklagten am 2. November 1955 eingegangenen Schreiben beantragte der Kläger Entschädigung aus der Unfallversicherung. Er gab an, er sei Vertragsfußballspieler bei der TuS Neuendorf; bei einem Spiel seines Vereins gegen Wacker Wien am 8. August 1950 habe er sich eine Knieverletzung zugezogen, die eine langwierige Krankenhausbehandlung erforderlich gemachte habe, die Unfallfolgen seien noch nicht abgeklungen; nach fachärztlicher Beurteilung liege noch eine durch den Unfall verursachte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 33 v.H. vor.
Mit Bescheid vom 26. November 1956 lehnte die Beklagte die Gewährung von Entschädigung mit der Begründung ab, ein Vertragsfußballspieler gehöre wegen Fehlens eines Beschäftigungsverhältnisses im Sinne von § 537 Nr. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht zu dem gegen Unfall versicherten Personenkreis. Im übrigen müsse der erhobene Entschädigungsanspruch schon im Hinblick auf die verspätete Anspruchsanmeldung nach § 1546 RVO abgelehnt werden.
Gegen den Bescheid hat der Kläger rechtzeitig Klage beim Sozialgericht (SG) Koblenz erhoben. Sie ist ohne Erfolg geblieben. Die Abweisung der Klage hat das SG in seinem Urteil vom 4. Februar 1958 damit begründet, daß der Kläger die Frist zur Anmeldung des Anspruchs nach § 1546 RVO versäumt habe; es könne somit dahingestellt bleiben, ob der Kläger für den Unfall als Vertragsfußballspieler Unfallversicherungsschutz überhaupt beanspruchen könne. In der Rechtsmittelbelehrung heißt es:
"Diese Entscheidung ist gemäß § 145 Ziffer 1 SGG endgültig, da die Frist des § 1546 RVO ........ versäumt war und der Kläger nicht die Ausnahmegründe des § 1547 RVO geltend gemacht hat."
Gegen das am 24. Februar 1958 zugestellte Urteil hat der Kläger am 22. März 1958 Berufung eingelegt. Er macht nunmehr u.a. geltend: Die Unfallfolgen hätten sich zwischenzeitlich wesentlich verschlimmert. Zum Beweise dafür beantrage er die Einholung eines Sachverständigengutachtens. Aus diesem Grunde habe er den Entschädigungsanspruch auch noch nach Ablauf von zwei Jahren nach § 1547 Abs. 1 Nr. 1 RVO geltend machen können. In der mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht (LSG) am 18. März 1960 hat der Kläger ausweislich des Tatbestandes des angefochtenen Urteils noch ergänzend vorgebracht: Um die Zeit, als er den Entschädigungsanspruch bei der Beklagten gestellt habe, sei er nachuntersucht worden; dabei habe der Arzt Knochensplitter in dem verletzten Knie festgestellt und ihm nahegelegt, seinen Beruf als Landwirt aufzugeben; das verletzte Knie schwelle auch öfter an.
Das LSG hat durch Urteil vom 18. März 1960 das Urteil des SG aufgehoben und die Sache zu erneuten Verhandlung und Entscheidung an das SG zurückverwiesen. Es hat zur Begründung seiner Entscheidung im wesentlichen ausgeführt: Die Berufung sei nach § 143 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft, da Ausschließungsgründe nicht vorlägen; insbesondere sei die Berufung nicht nach § 145 Nr. 1 SGG ausgeschlossen, weil der Kläger einen der Ausnahmefälle des § 1547 Abs. 1 Nr. 1 RVO geltend gemacht, d.h. schlüssig behauptet habe. Auf eine vor der Stellung seines Entschädigungsantrages eingetretene Verschlimmerung der Folgen des Unfalls habe der Kläger sich im Berufungsverfahren berufen und hierzu insbesondere auch in der mündlichen Verhandlung konkrete Gesichtspunkte vorgetragen. Es sei auch unschädlich, daß der Kläger erstmalig in der Berufungsinstanz sich auf eine wesentliche Verschlimmerung berufen habe. Denn die Ausnahmefälle des § 1547 RVO könnten auch nach der alten Fassung des § 145 Nr. 1 SGG im Berufungsverfahren noch wirksam geltend gemacht werden (so: BSG Urteil vom 30. Juli 1958 - 2 RU 236/56-). Der Berufung sei insofern stattzugeben, als das angefochtene Urteil gemäß § 159 Abs. 1 Nr. 3 SGG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das SG zurückzuverweisen sei. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift seien gegeben, da nach dem Erlaß des angefochtenen Urteils neue Tatsachen bekanntgeworden seien, die für die Entscheidung wesentlich seien. Mit der erstmalig in der Berufungsinstanz vorgetragenen Behauptung des Klägers, die Folgen der Knieverletzung hätten sich inzwischen wesentlich verschlimmert, habe das SG sich noch nicht befassen können. Dieser neue Sachvortrag sei für die Entscheidung auch von wesentlicher Bedeutung: Wenn eine wesentliche Verschlimmerung der Knieverletzung nach Ablauf der Zweijahresfrist des § 1546 RVO tatsächlich eingetreten sei, habe der Kläger den Entschädigungsanspruch auch nach Ablauf der Ausschlußfrist noch geltend machen können.
Gegen das am 5. Mai 1960 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 24. Mai 1960 Revision eingelegt und sie am 28. Mai 1960 begründet.
Die vom LSG nicht zugelassene, ausschließlich auf die Rüge wesentlicher Verfahrensmängel (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG) gestützte Revision wäre nur statthaft, wenn ein gerügter wesentlicher Mangel des Verfahrens vorläge (BSG 1, 150). Das ist nicht der Fall.
Die Revision macht geltend: Ein wesentlicher Mangel des Verfahrens sei darin zu erblicken, daß das LSG eine Sachentscheidung getroffen habe, obwohl es die Berufung als unzulässig hätte verwerfen müssen. Der Kläger habe den Ausnahmefall des § 1547 Abs. 1 Nr. 1 RVO nicht in der von § 145 Nr. 1 SGG vorgeschriebenen Weise geltend gemacht. Der Ausnahmefall des § 1547 Abs. 1 Nr. 1 RVO müsse - wie es das Bundessozialgericht (BSG) auch für die Rüge wesentlicher Verfahrensmängel in der Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG verlange tatsächlich vorliegen. Das Vorliegen eines Ausnahmefalles nach § 1547 RVO habe vom LSG im Augenblick seiner Entscheidung über die Berufung aber nicht festgestellt werden können. Durch die Zurückverweisung der Sache an das SG habe das LSG dem SG die Entscheidung darüber zugeschoben, ob der Ausnahmefall des § 1547 RVO vorläge, und damit auch die Entscheidung darüber, ob die Berufung nach § 145 Nr. 1 SGG zulässig gewesen sei. Keineswegs genüge lediglich eine schlüssige Behauptung des Ausnahmetatbestandes aus § 1547 Abs. 1 Nr. 1 RVO.
Darüber hinaus sei die erst am 21. März 1958 aufgestellte Behauptung des Klägers, es hätten sich jetzt Verschlimmerungen gezeigt, keineswegs eine schlüssige Behauptung des Ausnahmetatbestandes des § 1547 RVO, weil die Verschlimmerung spätestens zu Anfang August 1955 hätte eingetreten sein müssen.
Diese Rüge trifft nicht zu. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG war gemäß § 143 SGG in Verbindung mit § 145 Nr. 1 SGG aF zulässig. Da die Berufung vor Inkrafttreten des Zweiten Gesetzes zur Änderung des SGG vom 25. Juli 1958 eingelegt worden ist, beurteilt sich deren Zulässigkeit noch nach § 145 Nr. 1 SGG aF. Danach können in Angelegenheiten der Unfallversicherung Urteile mit der Berufung nicht angefochten werden, wenn sie betreffen Anträge, die wegen Versäumnis der Ausschlußfrist (§ 1546 RVO) abgelehnt wurden, es sei denn, daß die Ausnahmefälle des § 1547 RVO geltend gemacht werden. Das Urteil des SG betraf einen solchen Antrag des Klägers, der wegen Versäumnis der Ausschlußfrist nach § 1546 RVO abgelehnt worden ist. Der Kläger hat mit seiner Berufung auch den Ausnahmefall des § 1547 Abs. 1 Nr. 1 SGG geltend gemacht. Erforderlich und genügend ist hierfür eine schlüssige Behauptung, um dem Gericht die Prüfung der Statthaftigkeit zu ermöglichen (vgl. BSG SozR SGG § 145 Bl. Da 5 Nr. 6; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand 1. September 1961, S. 250 h; Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, Anm. 2e zu § 145). Die Vorschrift des § 145 Nr. 1 SGG dahin auszulegen, der Ausnahmefall müsse tatsächlich vorliegen, kommt nach dem Zweck der Vorschrift, die Berufung wegen der Schwierigkeit der mit der Auslegung des § 1547 RVO zusammenhängenden Fragen und wegen der Bedeutung dieser Fälle für den Berechtigten zuzulassen, nicht in Betracht (vgl. auch BSG 6, 131, 133). Der Senat sieht keine Veranlassung von seiner Rechtsprechung (vgl. BSG SozR SGG § 145 Bl. Da 5 Nr. 6), die er noch einmal in seinem Urteil vom 28. November 1961 - 2 RU 173/60 - bestätigt hat, abzuweichen. Entgegen der Auffassung der Revision ergeben die Ausführungen im angefochtenen Urteil auch die Schlüssigkeit der Behauptungen des Klägers. Das LSG hat den Vortrag des Klägers mit Recht dahin ausgelegt, daß sich eine wesentliche Verschlimmerung der Unfallfolgen bemerkbar gemacht habe, und zwar im Zeitpunkt der Antragstellung. Der Kläger hat die Verschlimmerung durch seinen Vortrag in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG näher substantiiert, wie der Tatbestand des angefochtenen Urteils ausweist. Unschädlich ist, daß der Kläger die Verschlimmerung erst in der Berufungsinstanz vorgetragen hat. Nach § 145 Nr. 1 SGG aF ist die Berufung zulässig, wenn ein Antrag wegen Versäumnis der Ausschlußfrist abgelehnt "wurde" - wie es hier der Fall gewesen ist - und die Ausnahmefälle des § 1547 RVO geltend gemacht "werden", d.h. also auch dann, wenn sie erstmalig in der Berufungsinstanz vorgetragen worden sind. Wie der erkennende Senat im Urteil vom 30. Juli 1958 - Az.: 2 RU 236/56 - ausgeführt hat, ergibt sich diese Auslegung aus der Wahl der in dieser Vorschrift angewendeten verschiedenen Zeitformen sowie aus dem vom Gesetzgeber erkennbar verfolgten Zweck, über die schwierigen und für den Berechtigten bedeutungsvollen Ausnahmefälle des § 1547 RVO nicht eine einzige Instanz endgültig entscheiden zu lassen.
Die Revision rügt weiter, das LSG habe § 159 Abs. 1 Nr. 3 SGG verletzt, da es die Sache nicht an das SG habe zurückverweisen dürfen, sondern selbst über das Vorliegen der Verschlimmerung der Unfallfolgen hätte entscheiden müssen. Diese Rüge ist jedoch ebenfalls nicht begründet.
Die Auffassung der Revision, die Zurückverweisung sei nicht zulässig, weil sie zwangsläufig zur Folge habe, daß nunmehr das SG über die Frage zu entscheiden habe, von der die Zulässigkeit der Berufung abhänge, nämlich darüber, ob die Voraussetzungen für eine nachträgliche Geltendmachung des Entschädigungsanspruchs (§ 1547 Abs. 1 Nr. 1 RVO) gegeben sind, ist unrichtig, da, wie bereits dargelegt, die Berufung nach § 145 Nr. 1 SGG schon dann zulässig ist, wenn ein Tatbestand, der die Anwendung des § 1547 Abs. 1 Nr. 1 RVO rechtfertigt, schlüssig behauptet wird.
Außerdem vertritt die Revision die Auffassung, ein Vortrag neuer tatsächlicher Behauptungen rechtfertige eine Zurückverweisung nach § 159 Abs. 1 Nr. 3 SGG nicht; man könne nur dann vom Bekanntwerden neuer Tatsachen sprechen, wenn diese Tatsachen auch wirklich vorlägen. Eine derartige Auslegung des Wortlauts des § 159 Abs. 1 Nr. 3 SGG verkennt jedoch Sinn und Zweck der Vorschriften des § 159.
§ 159 SGG ersetzt für das Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit die §§ 538 ff der Zivilprozeßordnung (ZPO), die für den Zivilprozeß verhindern sollen, daß die Hauptsache nur in der zweiten Instanz verhandelt wird, den Parteien also die erste Instanz verlorengeht (vgl. Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 8. Aufl., S. 689, § 138 III 1a; Stein-Jonas, ZPO, 18. Aufl., § 538 Anm. II). Während § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG auf der Erwägung beruht, daß es in einem solchen Falle an einer ordnungsmäßigen Grundlage für die Entscheidung im ersten Rechtszuge fehlt, haben Nr. 1 und Nr. 3 gemeinsam, daß im ersten Rechtszuge eine Sachprüfung entweder völlig oder zu entscheidenden Tatfragen unterblieben ist; sie sollen in solchen Fällen verhindern, daß den Beteiligten eine Tatsacheninstanz verlorengeht (vgl. Hofmann/Schroeter, SGG, 2. Aufl., § 159 Anm. 2). Außerdem ermöglichen sie es dem Berufungsgericht, sich von umfangreichen Beweiserhebungen zu entlasten. Das gleiche Ziel verfolgten auch die Vorläufer des § 159 SGG: § 90 der Militärregierungs-Verordnung 165 (vgl. Klinger, Verwaltungsgerichtsbarkeit in der britischen Zone, § 90 VO 165 Anm. A) und § 114 der süddeutschen Gesetze über die Verwaltungsgerichtsbarkeit (vgl. Eyermann/Fröhler, Verwaltungsgerichtsgesetz, Anm. 2 zu § 114). Die Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) vom 21.1.1960 (BGBl I 17) enthält eine entsprechende Vorschrift in § 130. Die von der Revision vertretene Auslegung des Begriffs "Tatsache" würde zu dem sinnwidrigen Ergebnis führen, daß eine Zurückverweisung an die erste Instanz nur zulässig wäre, wenn die neue Tatsache bereits erwiesen ist, insoweit also nur noch eine rechtliche Würdigung und keine Beweiserhebungen mehr erforderlich wären. Der Verlust einer Tatsacheninstanz ist aber von besonderer Bedeutung, wenn auf Grund neuer, für die Entscheidung wesentlicher tatsächlicher Behauptungen Beweiserhebungen und tatsächliche Feststellungen durch das Gericht erforderlich werden. Ein solcher Sachverhalt ist deshalb gerade einer der typischen Anwendungsfälle für § 159 Abs. 1 Nr. 3 SGG. Wie der 11. Senat bereits im Urteil vom 15. Juni 1961 (SozR SGG § 159 Bl. Da 2 Nr. 4 = NJW 1961, 1743) ausgesprochen hat, ist es auch nicht erforderlich, daß der neue Sachvortrag sich auf tatsächliche Vorgänge bezieht, die erst nach Erlaß des mit der Berufung angefochtenen Urteils eingetreten sind. Es genügt vielmehr, daß die Tatsachen, die im Berufungsverfahren von einem Beteiligten neu vorgetragen worden sind, dem Gericht des ersten Rechtszuges nicht bekannt waren (vgl. auch Eyermann/Fröhler aaO Anm. 1 c zu § 114 und VwGO Anm. 1 c zu § 130; Klinger, VwGO Anm. C 1 c zu § 130). Wie der 11. Senat im Anschluß an Bettermann (DVBl 1961, 65, 69) ausgeführt hat, ist § 159 Abs. 1 Nr. 3 SGG seinem Sinn entsprechend zu lesen: "wenn ... Tatsachen ... neu bekannt werden, ...".
Die Revision ist hiernach nicht statthaft. Sie war deshalb als unzulässig zu verwerfen (§ 169 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen