Entscheidungsstichwort (Thema)
Ablehnung. Befangenheit. Rechtsmissbräuchlichkeit. Pauschale Ablehnung. Anschrift. Verweigerung. Ordnungsgemäße Klageerhebung. Streitgegenstand. Nachholung
Leitsatz (redaktionell)
1. Ein Ablehnungsgesuch wegen Besorgnis der Befangenheit ist rechtsmissbräuchlich, wenn Kläger hat pauschal alle Richter des Senats allein wegen der (angeblichen) Mitwirkung an der Entscheidung abgelehnt, ohne konkrete Befangenheitsgründe vorzubringen, die sich individuell auf einen bestimmten Richter beziehen, so dass der Senat nicht gehindert ist, über das Ablehnungsgesuch unter Mitwirkung der abgelehnten Richter in der üblichen, nach dem Geschäftsverteilungsplan vorgeschriebenen Besetzung zu entscheiden.
2. Wird die Angabe der Anschrift schlechthin oder ohne zureichenden Grund verweigert, liegt keine ordnungsgemäße Klageerhebung vor.
3. Soweit das SG unter Verkennung des Streitgegenstands bewusst von einer Entscheidung abgesehen haben sollte, ist die erstinstanzliche Entscheidung ausnahmsweise durch das Berufungsgericht nachzuholen.
Normenkette
SGG § 60 Abs. 1, §§ 62, 73 Abs. 4, § 73a Abs. 1 S. 1, § 160 Abs. 2 Nrn. 1-3, § 158; ZPO §§ 42, 45 Abs. 1, §§ 114, 121; GG Art. 19 Abs. 4, Art. 103 Abs. 1
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen-Bremen (Beschluss vom 04.08.2016; Aktenzeichen L 2 R 228/16) |
SG Hannover (Aktenzeichen S 13 R 1065/12) |
Tenor
Das Gesuch des Klägers, die Richter des 5. Senats des Bundessozialgerichts wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen, wird als unzulässig verworfen.
Der Antrag des Klägers, ihm für das Verfahren der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 4. August 2016 Prozesskostenhilfe unter Beiordnung eines Rechtsanwalts zu bewilligen, wird abgelehnt.
Gründe
I
Mit der am 21.11.2012 vor dem SG Hannover erhobenen Klage hat der Kläger beantragt, den (rentenkürzenden) Bescheid der Beklagten vom 8.5.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.10.2012 aufzuheben, die ihm gewährte Altersrente ungekürzt ab 1.11.2007 auszuzahlen, weitere rentenrelevante Einnahmen in Höhe von ... Euro für die Zeit vom 1.10. bis 31.10.2007 festzustellen, die sich hieraus ergebende Erhöhung bei den gesetzlichen Rentenanpassungen zu berücksichtigen sowie die Beklagte zu Zwangsgeld in Höhe von 50 000 Euro nebst 5 % Zinsen auf Zwangsgeld sowie nicht geleistete Erhöhungen zu verurteilen. Die Beklagte hat während des Verfahrens die Rentenbescheide vom 8.3.2013, 30.1.2015 und 3.2.2015 erlassen. Mit Schreiben vom 17.12.2013 hat der Kläger sinngemäß wegen Nichtbescheidung seines am 19.3.2013 gegen den Bescheid vom 8.3.2013 eingelegten Widerspruchs Untätigkeitsklage erhoben und die Verurteilung der Beklagten zu einem weiteren Zwangsgeld in Höhe von 50 000 Euro beantragt.
Mit Urteil vom 15.3.2016 hat das SG Hannover im Tenor die "Bescheide vom 8.5. und 25.10.2012" aufgehoben und in den Gründen ausgeführt, dass die Aufhebung inhaltlich auch die Folgebescheide vom 8.3.2013, 30.1.2015 und 3.2.2015 umfasse, die gemäß § 96 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Gegenstand des Gerichtsverfahrens geworden seien. Gegen diese ihm am 1.4.2016 zugestellte Entscheidung hat der Kläger am 29.4.2016 Berufung beim LSG eingelegt, mit der er sich gegen die "unvollständige Ausurteilung der Klageanträge", insbesondere die angestrebten Zwangsgelder und die fehlende Ausurteilung "zusätzlicher Entgeltpunkte für den Zeitraum vom 1.10. bis 20.10.2007" wandte.
Das LSG hat mit Beschluss vom 4.8.2016 die Berufung als unzulässig verworfen, weil der Kläger die Mitteilung seiner Wohnanschrift ohne zureichenden Grund verweigert habe.
Für die Durchführung des Beschwerdeverfahrens wegen der Nichtzulassung der Revision in diesem Beschluss hat der Kläger die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) unter Beiordnung eines Rechtsanwalts beantragt. Er weist unter anderem darauf hin, dass er obdachlos sei und die Sache grundsätzliche Bedeutung habe.
Mit Schreiben vom 19.10.2016 hat der Kläger "Beschwerde" eingereicht, weil sein Antrag auf Bewilligung von PKH dem 5. Senat zugewiesen worden sei. Zur Begründung trägt er vor, der 5. Senat habe sich in den Verfahren B 5 R 19/12 BH und B 5 R 6/12 BH "zu L 10 R 408/11 und S 13 R 468/08 mit kollegialen Schulterschluss … sowie dem blinden Durchwinken der Klageabweisung der DRV Bund" ausgewiesen. "Nach begangenen strafrechtlich relevanten Tatbeständen ist nicht davon auszugehen, daß der 5. Senat objektiv, neutral und im Sinn demokratischer Rechtsordnung über meine PKH-Anträge entscheidet."
II
1. Der Senat legt die "Beschwerde" des Klägers vom 19.10.2016 als Antrag auf Ablehnung der Richter des 5. Senats wegen Besorgnis der Befangenheit gemäß § 60 Abs 1 SGG iVm § 42 Abs 1 Zivilprozessordnung (ZPO) aus.
Das Ablehnungsgesuch ist unzulässig, weil es rechtsmissbräuchlich ist. Der Kläger hat pauschal alle Richter des 5. Senats allein wegen der (angeblichen) Mitwirkung an der Entscheidung in den Verfahren B 5 R 19/12 BH und B 5 R 6/12 BH abgelehnt, ohne konkrete Befangenheitsgründe vorzubringen, die sich individuell auf einen bestimmten Richter beziehen (vgl BSG SozR 4-1500 § 60 Nr 7; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 60 RdNr 10b). Der Senat ist deshalb nicht gehindert, über das Ablehnungsgesuch unter Mitwirkung der abgelehnten Richter in der üblichen, nach dem Geschäftsverteilungsplan vorgeschriebenen Besetzung zu entscheiden (BSG SozR 4-1500 § 60 Nr 7 RdNr 8). Das Verbot der Selbstentscheidung (§ 60 SGG iVm § 45 Abs 1 ZPO) gilt insofern nicht.
2. Wegen der Unzulässigkeit des Ablehnungsgesuchs ist der Senat ferner nicht gehindert, über den PKH-Antrag des Klägers unter Mitwirkung der abgelehnten Richter zu entscheiden (BSG SozR 4-1500 § 60 Nr 7 RdNr 8).
Der PKH-Antrag ist abzulehnen, sodass auch die Beiordnung eines Rechtsanwalts ausscheidet.
Nach § 73a Abs 1 S 1 SGG iVm § 114 Abs 1 S 1 ZPO ist einem Beteiligten, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, für das Verfahren vor dem BSG PKH nur dann zu bewilligen, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet. Diese Voraussetzungen liegen nicht vollständig vor. Zwar ist der Kläger bedürftig iS der Normen. Es ist jedoch nicht zu erkennen, dass ein nach § 73 Abs 4 SGG zugelassener Prozessbevollmächtigter in der Lage wäre, eine Nichtzulassungsbeschwerde hinsichtlich der Zulassungsgründe aus § 160 Abs 2 Nr 1 und 2 SGG erfolgreich zu begründen. Soweit Verfahrensfehler vorliegen, könnten diese jedenfalls nicht dazu führen, dass der Kläger mit seinem Begehren schlussendlich durchdringt.
So ist nicht ersichtlich, dass eine Zulassung der Revision gegen den angegriffenen Beschluss auf § 160 Abs 2 Nr 1 SGG gestützt werden könnte. Grundsätzliche Bedeutung im Sinne dieser Vorschrift hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung hat. Die Frage muss außerdem klärungsbedürftig sein. Das ist grundsätzlich nicht der Fall, wenn die Antwort darauf von vornherein praktisch außer Zweifel steht oder die Frage bereits höchstrichterlich entschieden ist (zum Ganzen vgl BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 70). Rechtsfragen, die in diesem Sinn grundsätzliche Bedeutung haben könnten, sind nicht zu erkennen.
Im Vordergrund steht die Frage, welche Auswirkungen die vom Kläger unterlassene Angabe seiner ladungsfähigen Anschrift auf die Zulässigkeit der von ihm erhobenen Klage hat. Dies ist durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) und des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) geklärt.
Die Zulässigkeit der Klage setzt regelmäßig die Angabe einer ladungsfähigen Anschrift voraus. Im Hinblick auf den aus Art 19 Abs 4 Grundgesetz (GG) fließenden Anspruch auf effektiven Rechtsschutz kann diese Angabe ausnahmsweise entfallen, wenn besondere Gründe dies rechtfertigen, etwa ein fehlender Wohnort wegen Obdachlosigkeit oder ein schutzwürdiges Geheimhaltungsinteresse (BVerwG NJW 2012, 1527; BGHZ 102, 332, 336). In diesen Fällen müssen dem Gericht aber die insoweit maßgebenden Gründe unterbreitet werden, damit es prüfen kann, ob ausnahmsweise auf die Mitteilung der ladungsfähigen Anschrift des Klägers verzichtet werden kann (BVerwG NJW 2012, 1527; BGHZ 102, 332, 336). Wird die Angabe der Anschrift hingegen schlechthin oder ohne zureichenden Grund verweigert, liegt keine ordnungsgemäße Klageerhebung vor. Ebenso ist geklärt, dass die Angabe der ladungsfähigen Anschrift in der Berufungsschrift nicht Zulässigkeitsvoraussetzung der Berufung ist (BGHZ 102, 332, 333 f mwN).
Der Zulassungsgrund der Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) könnte ebenfalls nicht mit Erfolg geltend gemacht werden. Divergenz (Abweichung) bedeutet Widerspruch im Rechtssatz oder - anders ausgedrückt - das Nichtübereinstimmen tragender abstrakter Rechtssätze, die den miteinander zu vergleichenden Entscheidungen zugrunde gelegt worden sind. Sie liegt nicht bereits dann vor, wenn das Berufungsgericht einen höchstrichterlichen Rechtssatz missversteht oder übersieht und deshalb das Recht fehlerhaft anwendet. Eine Divergenz kommt vielmehr nur dann in Betracht, wenn das LSG einen tragenden abstrakten Rechtssatz in Abweichung von einem vorhandenen abstrakten Rechtssatz des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts aufgestellt hat (BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 72 mwN). Davon kann vorliegend nicht ausgegangen werden.
Ein Verstoß gegen den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs iS von Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG, der als Verfahrensmangel iS von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG geltend gemacht werden könnte, liegt nicht vor. Mit Schreiben vom 17.6.2016 hat das LSG dem Kläger mitgeteilt, dass ihm "eine Anhörung mit Postzustellungsurkunde nicht zugestellt werden" konnte und ihn aufgefordert, seine Anschrift vollständig mitzuteilen. Ferner hat es darauf hingewiesen, dass ein zulässiges Rechtsschutzbegehren im Regelfall die Angabe der Anschrift des Rechtsschutzsuchenden voraussetzt und dass Ausnahmen von dieser Pflicht nur anerkannt werden könnten, wenn dem Betroffenen dies aus schwerwiegenden beachtenswerten Gründen unzumutbar sei. Darüber hinaus hat das Berufungsgericht den Kläger darauf hingewiesen, dass ohne Nennung der Anschrift die Berufung unzulässig sei und mit Beschluss nach § 158 SGG verworfen werden könne. Dieses Schreiben hat der Kläger ausweislich seines Schreibens vom 30.6.2016, mit dem er zu der nicht zustellbaren "Anhörung mit Postzustellungsurkunde" Stellung genommen hat, auch erhalten.
Verfahrensfehler liegen demgegenüber zwar möglicherweise darin, dass das LSG die Berufung als unzulässig verworfen, die Unzulässigkeit der Klage verkannt und eine Entscheidung über den vom SG nicht ausgeurteilten Teil des Streitgegenstands (Leistungs- und Feststellungsbegehren des Klägers) unterlassen hat. Das Rechtsmittel wäre trotz fehlender Angabe der Wohnanschrift des Klägers zulässig gewesen. Verweigert der Kläger ohne zureichenden Grund die Angabe der Wohnanschrift, ist seine (ansonsten zulässige) Berufung gegen die Entscheidung des SG daher grundsätzlich "in der Sache" zu verbescheiden, dh bei vollständiger Entscheidung des Streitgegenstands durch das SG bereits deshalb als unbegründet zurückzuweisen, weil die Klage unzulässig ist (BGHZ 102, 332, 333 f). Soweit dagegen das SG - wie hier - unter Verkennung des Streitgegenstands bewusst von einer Entscheidung abgesehen haben sollte, ist die erstinstanzliche Entscheidung - was vorliegend nicht geschehen ist - ausnahmsweise durch das Berufungsgericht nachzuholen. Dieses Unterlassen könnte dem Kläger jedoch im Ergebnis nicht zugutekommen, weil auch die (nach Aufhebung und Zurückverweisung) ohne Beurteilung des materiellen Klagebegehrens (vgl auch hierzu BGHZ 102, 332, 333 f) nachgeholte Entscheidung nur zur Klageabweisung als unzulässig führen könnte. Dem Kläger zu einem lediglich vorübergehenden Erfolg im (Zwischen-)Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde zu verhelfen, ist indessen nicht Aufgabe der PKH.
Im Übrigen wird der Kläger darauf hingewiesen, dass das LSG seine angebliche Wohnsitzlosigkeit im Ergebnis zutreffend beurteilt hat. Der Kläger ist nach den im PKH-Verfahren vorgelegten Unterlagen entgegen seiner Behauptung nicht obdachlos: Er bewohnt vielmehr in H. eine Wohnung, für die er aktuell ... Euro Miete entrichtet. Gründe dafür, dass ihm die Mitteilung seiner Anschrift nicht zumutbar waren, sind nicht ersichtlich, sodass die Klage unzulässig ist.
Fundstellen
Dokument-Index HI11141574 |