Leitsatz (redaktionell)
Zur Berücksichtigung ausländischer Beitragszeiten in der Tuberkulose-Hilfe der RV (Versicherter iS des RVO § 1244a Abs 2):
a) Sind die in einem Mitgliedsstaat der EWG zurückgelegten Beitragszeiten auf die Vorversicherungszeit bzw Wartezeit iS des RVO § 1244a Abs 2 anzurechnen und - falls die Frage zu a) bejaht wird
b) ggf auch solche Beitragszeiten anzurechnen, die ein Versicherungsträger eines Mitgliedsstaates wegen eines Abkommens seines Landes mit einem Staat, der nicht der EWG angehört, berücksichtigen muß?
Normenkette
RVO § 1244a Abs. 2 S. 1 Fassung: 1959-07-23; EWGV 3 Art. 26 Fassung: 1958-09-25, Art. 27 Fassung: 1958-09-25
Tenor
1. Die Verhandlung wird bis zur Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften ausgesetzt.
2. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften wird nach Art. 177 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft angerufen, vorab über folgende Fragen zu entscheiden:
a) Sind die Art. 26 und 27 der Verordnung Nr. 3 des Rates der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer (Zusammenrechnung von Versicherungszeiten) auf eine Rechtsvorschrift sinngemäß anwendbar, welche nach bundesdeutschem Recht
nicht Leistungen der sozialen Sicherheit,
sondern eine - unter bestimmten Voraussetzungen den Trägern der Rentenversicherung auferlegte - Aufgabe der Seuchenbekämpfung
betrifft,
diese Leistungen,
die nicht Renten sind und nicht pro rata temporis aufgeteilt werden,
ohne Rücksicht auf den Eintritt oder das Drohen des Versicherungsfalls der "Invalidität" vorsieht und nicht nach der Versicherungsdauer bemißt,
aber die Zuständigkeit des Trägers der Rentenversicherung für diese Leistungen von einer bestimmten Versicherungsdauer in der Rentenversicherung abhängig macht?
b) Falls die Frage zu a) bejaht wird:
Muß ein Versicherungsträger eines Mitgliedsstaates der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft - Bundesrepublik Deutschland - für den Erwerb eines Anspruchs auf Leistungen der zu a) beschriebenen Art auch Beitragszeiten anrechnen, die ein Versicherungsträger eines anderen Mitgliedsstaates - Italien - nach einem Abkommen über soziale Sicherheit mit einem Nicht-Mitgliedsstaat - Schweiz - berücksichtigen muß?
Gründe
Die Klägerin (Allgemeine Ortskrankenkasse) begehrt von der Beklagten (Träger der Rentenversicherung) den Ersatz der Kosten, die durch die stationäre Heilbehandlung der Tochter des italienischen Staatsangehörigen P. B (P.) wegen aktiver behandlungsbedürftiger Tuberkulose entstanden sind.
Die Tochter des P. erkrankte im Mai 1965. Bis dahin hatte P. in Rentenversicherungen folgende Beitragszeiten zurückgelegt:
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Italien 1953/1954 |
17 Wochen |
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Luxemburg 1955 |
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8 Monate |
Bundesrepublik Deutschland 1959/1960 |
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10 Monate |
Bundesrepublik Deutschland 1962 |
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4 Monate |
Italien 1962/1964 |
116 Wochen |
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Bundesrepublik Deutschland März/April 1965 |
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2 Monate. |
Außerdem war P. zeitweise in der Schweiz beschäftigt.
Das Sozialgericht (SG) Hamburg hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin den Betrag von 10.836,50 DM zu erstatten. P. sei - so hat das SG ausgeführt - Versicherter im Sinne der ersten Alternative des § 1244a Abs. 2 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) gewesen. Die Zusammenrechnung seiner Versicherungszeiten sei zwar nicht nach Art. 16 der Verordnung Nr. 3 des Rates der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer (EWG-VO Nr. 3) möglich, weil zwischen dem Ende der letzten ausländischen und dem Beginn der inländischen Versicherungszeit mehr als ein Monat verstrichen sei (Art. 17 Abs. 1 Satz 1 der EWG-VO Nr. 3); die Maßnahmen nach § 1244a RVO zählten aber zu den in Art. 2 Abs. 1 Buchst. b der EWG-VO Nr. 3 aufgeführten Leistungen bei Invalidität, so daß die Art. 26 und 27 der EWG-VO Nr. 3 anzuwenden seien.
Das Landessozialgericht (LSG) Hamburg hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Der Anwendbarkeit der Art. 26 und 27 der EWG-VO Nr. 3 stünden - so das LSG - weder die Systematik des § 1244a RVO noch die der EWG-VO Nr. 3 entgegen.
Die Beklagte sieht die Maßnahmen nach § 1244a RVO als Leistungen bei Krankheit (Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der EWG-VO Nr. 3) an und hält die Klägerin für leistungspflichtig. Die letzte Versicherungszeit des P. in Italien könne jedenfalls wegen der Vorschrift des Art. 17 Abs. 1 Satz 1 der EWG-VO Nr. 3 nicht angerechnet werden.
Die Anrufung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften wird - wie in dem ebenfalls am 1. März 1972 ergangenen Beschluß in dem Rechtsstreit 4 RJ 473/69 - auf Art. 177 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gestützt. Alle Ausführungen jenes Beschlusses gelten auch für diesen Rechtsstreit. Auf den Beschluß darf verwiesen werden.
Sollte die Vorlage-Frage jenes Beschlusses positiv beantwortet werden, so wird zusätzlich eine weitere Frage von Bedeutung.
Der Kläger könnte, wenn die italienischen und die luxemburgischen Versicherungszeiten mit den deutschen Versicherungszeiten zusammenzurechnen wären, unter der weiteren Voraussetzung, daß auch die in der Schweiz zurückgelegten Versicherungszeiten berücksichtigt werden dürften, die zweite Alternative des § 1244a Abs. 2 Satz 1 RVO (Wartezeit nach § 1246 Abs. 3 RVO = Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten) erfüllt haben.
Das Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über soziale Sicherheit vom 25. Februar 1964 ist nicht anzuwenden, weil P. weder Deutscher noch Schweizer ist. Nach dem Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Italienischen Republik über soziale Sicherheit vom 14. Dezember 1962 werden aber für den Erwerb des Anspruchs auf italienische Leistungen im Falle von Invalidität die in der schweizerischen Alters- und Hinterlassenenversicherung mit den in der italienischen Versicherung zurückgelegten Zeiten zusammengerechnet.
In Art. 28 Abs. 2 Satz 1 der EWG-VO Nr. 4 zur Durchführung und Ergänzung der EWG-VO Nr. 3 sind die "Rechtsvorschriften eines Mitgliedsstaates" dem Sinn der Bestimmung nach als rein innerstaatliche Vorschriften aufzufassen; es bestehen Zweifel, ob durch Art. 27 Abs. 1 der EWG-VO Nr. 3 auch diejenigen Versicherungszeiten erfaßt werden, die ein EWG-Mitgliedsstaat (Italien) nach einem Sozialversicherungsabkommen mit einem Staat, der der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft nicht angehört (Schweiz), anrechnen muß.
Fundstellen