Leitsatz (amtlich)
Einer selbständigen Handwerkerin steht - beim Vorliegen aller sonstigen Voraussetzungen des RVO § 1248 Abs 3 - auch für die Zeit vor dem Inkrafttreten des RVÄndG nur dann das vorzeitige Altersruhegeld zu, wenn ihre Eintragung in der Handwerksrolle gelöscht ist.
Normenkette
RVO § 1248 Abs. 3 Fassung: 1957-02-23, Abs. 2 S. 4 Fassung: 1957-02-23; HwVG § 1 Abs. 1 Fassung: 1961-04-25; RVÄndG Art. 5 § 3 Fassung: 1965-06-09
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 28. Februar 1964 und das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 8. August 1963 werden aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Beteiligten streiten darüber, ob - beim Vorliegen aller sonstigen Voraussetzungen des § 1248 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) - die Fortsetzung der Tätigkeit einer selbständigen, in die Handwerksrolle eingetragenen Handwerkerin den Anspruch auf das vorzeitige Altersruhegeld ausschließt.
Die 1902 geborene Klägerin ist selbständige Schneiderin und noch in der Handwerksrolle eingetragen. Sie entrichtete seit 1918 Versicherungsbeiträge zur Rentenversicherung der Arbeiter und Handwerkerbeiträge, insgesamt mehr als 216 Monatsbeiträge.
Sie beantragte im März 1963 nach Vollendung des 60. Lebensjahres Altersruhegeld. Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit der Begründung ab, solange die Klägerin in der Handwerksrolle eingetragen sei, übe sie eine an sich versicherungspflichtige Tätigkeit aus; Voraussetzung für den Bezug des erstrebten Altersruhegeldes sei aber, daß sie eine solche Tätigkeit nicht mehr ausübe.
Hiergegen hat die Klägerin Klage erhoben. Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte unter Aufhebung ihres ablehnenden Bescheides verurteilt, der Klägerin einen Altersruhegeldbescheid zu erteilen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückgewiesen. Es hat dazu u. a. ausgeführt, die Klägerin sei seit dem 1. Januar 1962 versicherungsfrei, weil für sie nach Entrichtung von 216 Monatsbeiträgen zur Rentenversicherung die Versicherungs- und Beitragspflicht gemäß § 1 des Handwerkerversicherungsgesetzes (HwVG) ihr Ende gefunden habe. Diese Versicherungsfreiheit der Klägerin sei allgemein und deshalb auch in bezug auf die Regelung des § 1248 Abs. 3 RVO zu beachten. Die Klägerin setze demzufolge keine rentenversicherungspflichtige Tätigkeit im Sinne dieser Vorschrift fort; es sei unerheblich, daß sie noch als selbständige Handwerkerin tätig und in der Handwerksrolle eingetragen sei. Sie erfülle alle Voraussetzungen des § 1248 Abs. 3 RVO, so daß ihr das vorzeitige Altersruhegeld zustehe.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Mit der Revision beantragt die Beklagte,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Sie rügt, das LSG habe § 1248 Abs. 3 RVO verletzt. Der Auffassung des LSG sei nicht beizutreten. Der Klägerin stehe das vorzeitige Altersruhegeld nicht zu, weil sie noch eine rentenversicherungspflichtige Tätigkeit ausübe, nämlich einen selbständigen Gewerbebetrieb (Damenschneiderei) innehabe, in der Handwerksrolle eingetragen und voll berufstätig sei.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für richtig.
Die Revision ist zulässig und begründet.
Für Rentenansprüche aus Versicherungsfällen vor dem Inkrafttreten des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 (BGBl. I 476) (1. Juli 1965) sind nach Art. 5 § 3 dieses Gesetzes die bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Vorschriften maßgebend. § 1248 Abs. 3 RVO aF, von dem deshalb auszugehen ist, macht die Gewährung des vorzeitigen Altersruhegeldes von folgenden 5 Voraussetzungen abhängig:
1. Vollendung des 60. Lebensjahres,
2. Erfüllung einer Wartezeit von 180 Versicherungsmonaten,
3. überwiegend rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit in den letzten zwanzig Jahren,
4. Nichtausübung einer "solchen" Beschäftigung oder Tätigkeit,
5. Vorliegen eines Antrages.
Zwischen den Beteiligten besteht kein Streit darüber, daß die Voraussetzungen zu 1), 2), 3) und 5) bei der Klägerin erfüllt sind; es ist zwischen ihnen nur streitig, ob auch die Voraussetzung zu 4) vorliegt. Die Frage, ob die Fortsetzung der Tätigkeit als versicherungsfreie Handwerkerin verbunden mit der Eintragung in die Handwerksrolle, den Anspruch auf das vorzeitige Altersruhegeld ausschließt, wird im Schrifttum und in der Rechtsprechung der Tatsachengerichte nicht einheitlich beantwortet. Das LSG legt in der angefochtenen Entscheidung den Begriff des Nichtausübens einer "solchen" Beschäftigung oder Tätigkeit im Sinne des § 1248 Abs. 3 Satz 1 RVO aF dahin aus, daß darunter eine Beschäftigung oder Tätigkeit zu verstehen sei, die nicht nur an sich rentenversicherungspflichtig sei, sondern für die auch Beiträge entrichtet werden oder als entrichtet gelten. Das ist nach der Auffassung des Senats nicht richtig. Das Bundessozialgericht (BSG) hat zwar entschieden, daß von den Voraussetzungen des § 1248 Abs. 3 Satz 1 RVO aF die oben zu 3) genannte in diesem Sinne zu verstehen ist. (BSG 20, 231; SozR RVO § 1248 Nr. 24). Der Senat vermag jedoch aus der Verwendung des Wortes "solche" in § 1248 Abs. 3 Satz 1 RVO aF nicht zu erkennen, daß der Gesetzgeber damit eine so enge Verflechtung mit dem vorhergehenden Satzteil gewollt hat, daß bei der oben zu 4) genannten Voraussetzung auch nur eine derartige Beschäftigung oder Tätigkeit wie bei der Voraussetzung zu 3) gemeint sein kann. Für die Auslegung des § 1248 Abs. 3 RVO aF ist der Zweck dieser Vorschrift entscheidend. Über ihren Sinn und Zweck hat der 1. Senat des BSG im Urteil vom 25. Mai 1965 (SozR RVO § 1248 Nr. 34) zutreffend ausgeführt, daß diese Bestimmung der durch Beruf und Haushalt doppelt belasteten Frau - der verheirateten ebenso wie der unverheirateten - einen Ausgleich für die vorzeitige Abnutzung ihrer Kräfte ermöglichen soll, auch wenn die Voraussetzungen für eine Rente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit oder für das normale Altersruhegeld (Vollendung des 65. Lebensjahres) noch nicht vorliegen. Das vorzeitige Altersruhegeld für weibliche Versicherte soll nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben - aber auch nur dann - das Arbeits- oder Erwerbseinkommen der bis dahin berufstätigen Versicherten ersetzen; es soll aber nicht als weitere Einnahme zu diesem hinzutreten. Unter einer "solchen" Beschäftigung oder Tätigkeit ist deshalb eine derartige zu verstehen, die an sich versicherungspflichtig ist, ohne Rücksicht darauf, ob die Versicherte aus einem besonderen Grunde versicherungsfrei ist, es sei denn, es handele sich nur um eine gelegentliche Aushilfe im Sinne des § 1248 Abs. 2 Satz 4 RVO. Diese Auslegung wird gestützt durch ein Urteil des 12. Senats des BSG (BSG 21, 137 = SozR RVO § 1248 Nr. 27), worin - entgegen der im angefochtenen Urteil vertretenen, für die Entscheidung des LSG maßgebenden Ansicht - entschieden worden ist, daß eine Beamtin eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung i. S. des § 1248 Abs. 3 RVO aF ausübt, obwohl sie für ihre Person versicherungsfrei ist. Das schon erwähnte Urteil des 1. Senats des BSG bezieht sich auf die Tätigkeit einer Hebamme, die wegen der Höhe ihres Einkommens nicht mehr angestelltenversicherungspflichtig war. Ebenso wie in diesen Fällen - Beamtin, Hebamme - wäre es mit dem Sinn der umstrittenen Vorschrift unvereinbar, wenn man einer selbständigen, in der Handwerksrolle eingetragenen Handwerkerin das vorzeitige Altersruhegeld gewähren und damit in diesem Zusammenhang zwischen noch beitragspflichtigen und schon beitragsfreien, aber noch erwerbstätigen Handwerkerinnen unterscheiden wollte. Diese Rechtsprechung zu § 1248 Abs. 3 RVO aF wird auch durch die am 1. Juli 1965 für künftige Versicherungsfälle in Kraft getretene Neufassung des § 1248 Abs. 3 RVO gerechtfertigt, nach der das vorzeitige Altersruhegeld erst gewährt wird, wenn die Versicherte "eine Beschäftigung gegen Entgelt oder eine Erwerbstätigkeit nicht mehr ausübt."
Im Falle der Klägerin führen diese Überlegungen zu einer Ablehnung des Anspruchs auf das vorzeitige Altersruhegeld. Nach § 1 Abs. 1 HwVG ist die Tätigkeit der selbständigen Handwerker versicherungspflichtig, solange sie in der Handwerksrolle eingetragen sind. Beitragsfreiheit tritt zwar in den Fällen ein, in denen sie eine Beitragsleistung von 216 Kalendermonaten erreicht haben, sie üben aber, solange sie in der Handwerksrolle eingetragen sind, eine an sich versicherungspflichtige Tätigkeit aus. Das bedeutet, daß Handwerkerinnen das Altersruhegeld nach § 1248 Abs. 3 RVO aF nicht erhalten können, bevor nicht die Löschung in der Handwerkerrolle erfolgt ist. Das war bei der Klägerin bis zum Erlaß des Berufungsurteils nicht geschehen.
Nach alledem sind das angefochtene Urteil und das Urteil des SG aufzuheben. Die Klage gegen den ablehnenden Bescheid der Beklagten ist abzuweisen (§ 170 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen