Leitsatz (amtlich)
Ist ein Urteil, in dem der geschiedene Versicherte ohne zeitliche Begrenzung rechtskräftig zur Zahlung von Unterhalt an die frühere Ehefrau verurteilt worden ist, nicht mehr aufzufinden, so hat die frühere Ehefrau keinen Vollstreckungsanspruch gegenüber dem Staat, insoweit hat der Versicherte deshalb der früheren Ehefrau nicht "aus sonstigen Gründen" (AVG § 42) Unterhalt zu leisten.
Normenkette
AVG § 42 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1265 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 12. Oktober 1962 wird aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Klägerin war die erste Ehefrau des K K (Versicherten); diese Ehe wurde durch Urteil des Landgerichts II Berlin vom 14. Januar 1933 aus der Schuld des Versicherten geschieden. Eine zweite Ehe des Versicherten wurde im November 1944 geschieden; die zweite Ehefrau starb im Oktober 1946; aus dieser Ehe sind zwei Kinder, geboren im Januar 1940 und im Juli 1943, hervorgegangen. Im Juli 1946 verheiratete sich der Versicherte zum dritten Mal. Er starb am 15. Juli 1950. Nach den mit der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) zahlte der Versicherte der Klägerin auf Grund eines Unterhaltsurteils des Amtsgerichts Köpenick bis März 1944, möglicherweise bis Kriegsende, als Unterhalt 21,70 RM monatlich; die Akten des Amtsgerichts Köpenick über den Unterhaltsprozeß sind verlorengegangen, sonstige Unterlagen sind nicht vorhanden, auch die Klägerin besitzt das Unterhaltsurteil nicht mehr. Nach dem Krieg leistete der Versicherte, der in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) Deutschlands wohnte, der Klägerin keinen Unterhalt mehr.
Nachdem ein Antrag der Klägerin auf "Geschiedenenrente" durch bindend gewordenen Bescheid der Beklagten vom 7. Dezember 1954 abgelehnt worden war, beantragte die Klägerin im Juli 1957 erneut die Rente; diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 11. März 1958 wiederum ab. Auf die Klage hob das Sozialgericht (SG) Berlin durch Urteil vom 21. April 1959 diesen Bescheid auf und verurteilte die Beklagte, der Klägerin vom 1. Juli 1957 an die Rente zu zahlen. Die Berufung der Beklagten wies das LSG Berlin durch Urteil vom 12. Oktober 1962 zurück: Der Versicherte habe der Klägerin zur Zeit seines Todes auf Grund des Unterhaltsurteils und damit "aus sonstigen Gründen" im Sinne von § 42 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) in Verbindung mit Art. 2 § 18 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) zu leisten gehabt, es sei nicht ersichtlich, daß er eine Abänderungs- oder Vollstreckungsgegenklage erhoben habe, es sei auch unerheblich, daß die Klägerin seit Kriegsende den Unterhaltstitel nicht mehr in Händen habe, daß der Titel deshalb nach der Währungsreform nicht auf DM habe umgestellt werden können oder daß der Titel in der SBZ nicht hätte vollstreckt werden können; falls der Anspruch der Klägerin aus dem Unterhaltsurteil keine Unterhaltspflicht des Versicherten "aus sonstigen Gründen" im Sinne von § 42 AVG begründe, so stehe auf Grund dieses Urteils jedenfalls fest, daß der Versicherte der Klägerin zur Zeit seines Todes "Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes" (EheG) zu leisten gehabt habe. Das LSG ließ die Revision zu. Das Urteil wurde der Beklagten am 25. Februar 1963 zugestellt.
Am 15. März 1963 legt die Beklagte Revision ein, sie beantragte,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Urteils des SG Berlin vom 21. April 1959 die Klage als unbegründet abzuweisen.
Zur Begründung trug sie vor: Das LSG habe § 42 AVG unrichtig angewandt; unstreitig habe der Versicherte der Klägerin im letzten Jahr vor seinem Tode keinen Unterhalt geleistet (§ 42 AVG, letzte Alternative); er sei der Klägerin aber zur Zeit seines Todes auch nicht zum Unterhalt verpflichtet gewesen, ein rechtskräftiges Unterhaltsurteil sei kein "sonstiger Grund" im Sinne von § 42 AVG (1. Alternative, 2. Unteralternative), und es treffe auch nicht zu, daß auf Grund des rechtskräftigen Unterhaltsurteils die Unterhaltspflicht des Versicherten zur Zeit seines Todes "nach den Vorschriften des EheG" (§ 42 AVG, 1. Alternative, 1. Unteralternative) feststehe; nach seinen wirtschaftlichen und persönlichen Verhältnissen habe der Versicherte der Klägerin zur Zeit seines Todes nach den Vorschriften des EheG keinen Unterhalt zu leisten gehabt.
Die Klägerin beantragte,
die Revision zurückzuweisen,
hilfsweise beantragte sie,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Beide Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung (§§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) einverstanden.
II
Die Revision der Beklagten ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 SGG). Sie ist auch begründet.
Die Klägerin begehrt "Geschiedenenrente" erst vom 1. Juli 1957 an. Der Versicherte ist vor dem Inkrafttreten des AnVNG, aber nach dem 30. April 1942 gestorben (Art. 2 § 18 AnVNG); der Anspruch der Klägerin ist daher, wie dies auch das LSG getan hat, nach § 42 AVG in der seit 1. Januar 1957 maßgebenden Fassung zu beurteilen.
Nach den mit der Revision nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des LSG hat der Versicherte der Klägerin im letzten Jahr vor seinem Tode keinen Unterhalt geleistet (§ 42 AVG, letzte Alternative). Für die Frage, ob der Klägerin "Geschiedenenrente" zusteht, kommt es deshalb darauf an, ob eine der beiden Möglichkeiten der 1. Alternative des § 42 AVG gegeben ist, ob nämlich der Versicherte der Klägerin zur Zeit seines Todes Unterhalt "nach den Vorschriften des Ehegesetzes (1. Unteralternative) oder aus sonstigen Gründen (2. Unteralternative)" zu leisten gehabt hat. Die vom LSG erörterte Frage, ob ein Vollstreckungstitel ein "sonstiger Grund" im Sinne von § 42 AVG sein kann , hat der Große Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in dem Beschluß vom 27. Juni 1963 - GS 1/61 - (BSG 20, 1 ff.) für die mit § 42 AVG übereinstimmende Vorschrift des § 1265 der Reichsversicherungsordnung (RVO) bejaht (vgl. auch BSG 8, 24 ff.; anders BSG 11, 99 ff.); der erkennende Senat hat sich der Auffassung des Großen Senats für die Vorschrift des § 42 AVG in dem Urteil vom 23. Juni 1964 (11/1 RA 90/62) angeschlossen, er hält an dieser Auffassung, von der auch das LSG ausgegangen ist, fest. Das LSG hat aber nicht beachtet, daß das nach den Feststellungen des LSG von der Klägerin erwirkte Unterhaltsurteil im vorliegenden Fall deshalb kein "sonstiger Grund" im Sinne von § 42 AVG für die Unterhaltspflicht des Versicherten zur Zeit seines Todes gewesen ist , weil das Urteil nach den Feststellungen des LSG bei Kriegsende verlorengegangen ist; die Klägerin hat von 1945 an bis zum Tode des Versicherten dieses Urteil nicht mehr in Händen gehabt; auch die Akten des Amtsgerichts sind nicht mehr vorhanden. Damit hat die Klägerin aber zur Zeit des Todes des Versicherten nicht einen Vollstreckungsanspruch gegen den Staat gehabt. Der Vollstreckungsanspruch hat zum Inhalt, daß der Staat durch seine Organe die Vollstreckung nach Maßgabe des Titels und der Vollstreckungsklausel vornehme; dieser Anspruch ist von dem materiellen Anspruch unabhängig, er richtet sich nicht gegen den Schuldner, der Schuldner kann aber vom Gläubiger auf Grund des Vollstreckungsanspruchs durch die staatlichen Organe zur Leistung gezwungen werden, er "hat zu leisten", ohne daß es darauf ankommt, ob die Vollstreckung günstigen Erfolg hat und der materielle Anspruch verwirklicht wird (vgl. BSG aaO; Rosenberg, Lehrbuch des Zivilprozeßrechts, 8. Aufl. § 170 S. 883 ff.). Das Vollstreckungsrecht des Staates gegenüber dem Schuldner besteht aber nur insoweit, als der Staat dem Gläubiger zur Vollstreckung verpflichtet ist, der Vollstreckungsanspruch hat deshalb den Vollstreckungstitel, seine Ausübung hat die Vollstreckungsklausel zur Voraussetzung; liegt der Vollstreckungstitel nicht vor und kann deshalb auch die Vollstreckungsklausel nicht erteilt werden, so ist der Staat dem Gläubiger gegenüber nicht zur Zwangsvollstreckung verpflichtet; es besteht damit auch keine Leistungspflicht des Schuldners auf Grund eines Vollstreckungstitels; es handelt sich dann nicht - wie das LSG meint - darum, daß ein - bestehender - Vollstreckungsanspruch nicht "verwirklicht" werden kann, sondern es besteht wegen des Fehlens des Vollstreckungstitels überhaupt kein Vollstreckungsanspruch (vgl. auch Beschluß des BSG vom 23. Februar 1962 - 1 RA 56/62 -). Dies hat das LSG im vorliegenden Fall verkannt; es hat zu Unrecht angenommen, die Klägerin habe zur Zeit des Todes des Versicherten einen Vollstreckungsanspruch aus dem Unterhaltsurteil gehabt; es hat deshalb zu Unrecht bejaht, der Versicherte habe zur Zeit seines Todes auf Grund eines Vollstreckungsanspruchs der Klägerin und damit "aus sonstigen Gründen" der Klägerin Unterhalt zu leisten gehabt; auf die 2. Unteralternative der 1. Alternative des § 42 AVG hat der Anspruch der Klägerin auf Rente nicht gestützt werden können.
Für die Frage, ob der Klägerin "Geschiedenenrente" zusteht, kommt es deshalb allein noch darauf an, ob der Versicherte zur Zeit seines Todes der Klägerin Unterhalt "nach den Vorschriften des EheG" zu leisten gehabt hat (§ 42 AVG, 1. Alternative, 1. Unteralternative). Maßgebend ist insoweit das EheG, das zur Zeit des Todes des Versicherten gegolten hat (vgl. Urteil des BSG vom 21. August 1957, BSG 5, 276 ff., 279 mit weiteren Hinweisen), hier also das EheG vom 20. Februar 1946 (Kontrollratsgesetz 16, KRABl 77; EheG 46). Darüber, ob nach den Vorschriften des EheG 46 zur Zeit des Todes des Versicherten im Jahre 1950 eine Unterhaltspflicht des Versicherten bestanden hat, läßt sich entgegen der Auffassung des LSG aus der Rechtskraft des Unterhaltsurteils, das die Klägerin jedenfalls nicht später als im Jahre 1935 erwirkt hat, im vorliegenden Falle nichts entnehmen; es ist zwar richtig, daß bei einer rechtskräftigen Verurteilung zu künftig wiederkehrenden Leistungen - sofern in dem Urteil nicht die Leistungspflicht nur bis zu einem festgelegten Endpunkt bejaht worden ist - die Rechtskraft des Urteils sich hinsichtlich Grund und Höhe des Anspruchs auch auf die erst künftig fällig werdenden Leistungen erstreckt und daß diese Rechtskraftwirkung nur durch Abänderungsklage (§ 323 der Zivilprozeßordnung) beseitigt werden kann. Die Rechtskraftwirkung erfaßt aber den geltend gemachten zivilrechtlichen Anspruch - nur - mit dem Entstehungsgrund, mit der Höhe, wie er vom Gericht festgestellt ist, und in der rechtlichen Einordnung, die das Gericht dem Anspruch gegeben hat. Da der Umfang der Rechtskraftwirkung wegen des Verlustes der Akten und des Urteils nicht mehr festzustellen ist, hat das LSG deshalb selbst prüfen und beurteilen müssen, ob der Versicherte zur Zeit seines Todes im Jahre 1950 der Klägerin nach den Vorschriften des EheG 46 zum Unterhalt verpflichtet gewesen ist. Das LSG hat dies nicht getan, es hat die Unterhaltspflicht des Versicherten nur im Hinblick auf den vom LSG zu Unrecht angenommenen Vollstreckungsanspruch der Klägerin aus dem Urteil bejaht. Das Urteil des LSG beruht damit möglicherweise auf der unrichtigen Anwendung des § 42 AVG, es ist daher aufzuheben. Der Senat kann in der Sache nicht selbst entscheiden, weil die tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht ausreichen. Da die Ehe der Klägerin mit dem Versicherten aus der Schuld des Versicherten geschieden worden ist, hat der Versicherte der Klägerin den nach den Verhältnissen der Ehegatten angemessenen Unterhalt zu gewähren, soweit die Einkünfte aus dem Vermögen der Frau und die Erträgnisse einer Erwerbstätigkeit nicht ausreichen (§ 58 Abs. 1 EheG 46). Die Unterhaltspflicht des für schuldig erklärten Ehegatten ist jedoch unter den in § 59 Abs. 1 EheG 46 genannten Voraussetzungen, insbesondere im Hinblick auf Unterhaltsverpflichtungen des geschiedenen Ehegatten gegenüber minderjährigen unverheirateten Kindern und gegenüber einem neuen Ehegatten, eingeschränkt; sie kann u. U. mit Rücksicht auf diese Verpflichtungen auch ganz wegfallen. Das LSG hat zwar festgestellt, aus welchem Jahreseinkommen der Versicherte bis 24. April 1950 Versicherungsbeiträge gezahlt hat, das Urteil läßt auch noch den Schluß zu, das LSG habe festgestellt, der Versicherte sei zur Zeit seines Todes den damals minderjährigen zwei Kindern aus der zweiten Ehe unterhaltspflichtig gewesen; das Urteil des LSG enthält aber nichts darüber, ob der Versicherte zur Zeit seines Todes etwa der dritten Ehefrau gegenüber unterhaltspflichtig gewesen ist, welche sonstigen Verpflichtungen er möglicherweise gehabt hat und wie die Vermögens- und Erwerbsverhältnisse der Klägerin - z. B. Bezug einer eigenen Rente oder Einkommen aus zumutbarer eigener Erwerbstätigkeit, zu der die Klägerin möglicherweise verpflichtet gewesen ist - zur Zeit des Todes des Versicherten gewesen sind, es läßt deshalb nicht den Schluß zu, ob überhaupt und gegebenenfalls in welchem Umfange eine Unterhaltspflicht des Versicherten nach § 59 Abs. 1 EheG 46 gegenüber der Klägerin bestanden hat. Die Sache ist daher zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen