Leitsatz (redaktionell)

Ein Arbeitsunfall iS des RVO § 1252 kann nur ein Arbeitsunfall nach dem Recht der deutschen Unfallversicherung sein.

 

Normenkette

RVO § 1252 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1965-06-09, § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 17. August 1966 und das Urteil des Sozialgerichts Trier vom 6. Juli 1965 werden aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Der Kläger begehrt Rente aus der Rentenversicherung der Arbeiter, weil er infolge eines Verkehrsunfalls, den er am 3. Mai 1958 auf dem Heimweg von seiner in Luxemburg gelegenen Arbeitsstelle auf deutschem Gebiet erlitten hat, zeitweilig erwerbsunfähig gewesen ist. Er besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit; seine Wohnung lag im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland.

Sozialgericht (SG) und Landessozialgericht (LSG) haben - abweichend von der Entscheidung der Beklagten (Bescheid vom 7. Dezember 1959) - seinem Begehren für eine begrenzte Zeit stattgegeben (Urteile vom 6. Juli 1965 und vom 17. August 1966). Nach den Feststellungen des LSG hat der Kläger zwar die Wartezeit - eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten (§§ 1246 Abs. 3, 1247 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) - nicht erfüllt, jedoch sei der von ihm erlittene Unfall - so hat es in den Entscheidungsgründen ausgeführt - unabhängig davon, ob er nach deutschem oder luxemburgischen Unfallversicherungsrecht zu entschädigen sei, als Wegeunfall anzusehen. Er falle damit als Arbeitsunfall (vgl. §§ 550, 548 RVO und die diesen entsprechenden früheren Vorschriften des Unfallrechts) unter die Vorschrift des § 1252 Nr. 1 RVO mit der Folge, daß die Wartezeit als erfüllt zu gelten habe.

Hiergegen wendet sich die Revision der Beklagten. Sie meint, Arbeitsunfall im Sinne des § 1252 Nr. 1 RVO könne nur ein Arbeitsunfall nach dem Recht der deutschen Unfallversicherung sein. Einen solchen Unfall habe der Kläger aber nicht erlitten, zur Zeit seines Unfalls habe er der deutschen Unfallversicherung nicht angehört.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Für den Fall, daß diesem Antrag nicht entsprochen werde, regt sie die Anrufung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) an.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Revision der Beklagten ist begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Rente aus der Rentenversicherung. Die für eine solche Rente erforderliche Wartezeit ist weder erfüllt noch gilt sie als erfüllt.

Letzteres hat das LSG zu Unrecht angenommen. Nach § 1252 Nr. 1 RVO gilt die Wartezeit u. a. dann als erfüllt, wenn der Versicherte infolge eines Arbeitsunfalls berufsunfähig geworden ist. Der Kläger hat zwar einen Unfall erlitten, der möglicherweise vorübergehend zur Berufsunfähigkeit geführt hat. Dieser Unfall, wenn auch auf dem Heimweg von der Arbeitsstelle geschehen, ist dennoch nicht als Arbeitsunfall im Sinne der genannten Vorschrift zu werten. Der Begriff "Arbeitsunfall" ist in die Rentenversicherung aus der Unfallversicherung, in der er geprägt worden ist, übernommen worden. Er ist nach allgemeiner Auffassung mit dem gleichlautenden Begriff jenes Gebietes identisch (vgl. BSG 7, 159; 11, 295). Dieser Auffassung schließt sich der erkennende Senat an. Nach § 548 RVO (= § 542 RVO aF) ist Arbeitsunfall ein Unfall, den ein Versicherter bei bestimmten, im Gesetz genannten Tätigkeiten erleidet; als Arbeitsunfall gilt nach § 550 RVO (= § 543 RVO aF) auch ein Unfall auf einem mit einer dieser Tätigkeiten zusammenhängenden Weg nach und von der Arbeitsstätte. Wegen des im deutschen Unfallversicherungsrecht geltenden Territorialitätsprinzips werden nur solche Unfälle erfaßt, die im Zusammenhang mit einer in Deutschland ausgeübten Beschäftigung stehen; nur diese Tätigkeiten sollen den Schutz der deutschen Unfallversicherung genießen. Darauf kommt es auch im Rahmen des § 1252 Nr. 1 RVO an. Das bedeutet, daß der Verkehrsunfall des Klägers von dieser Vorschrift nicht erfaßt wird. Der Kläger war damals nicht Versicherter in der deutschen Unfallversicherung. Sein Unfall ist im Zusammenhang mit einer Berufstätigkeit eingetreten, die ausschließlich in Luxemburg ausgeübt wurde und keine Beziehung zu einem deutschen Betrieb oder eine Tätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland - auch nicht im Sinne einer betrieblichen Ausstrahlung - aufweist. Die Wartezeitfiktion des § 1252 Nr. 1 RVO kann deshalb nicht Platz greifen.

Anders wäre die Rechtslage zu beurteilen, wenn sich aus zwischenstaatlichem oder überstaatlichem Recht eine günstigere Regelung ergäbe. Das trifft jedoch nicht zu. Diesem Recht, soweit es auf den schon 1958 eingetretenen Unfall überhaupt anwendbar ist, ist nicht zu entnehmen, daß in einem Fall wie dem vorliegenden die Wartezeit oder die Wartezeitfiktion anders als geschehen beurteilt werden müßte. Es sind auch keine Regelungen getroffen worden, aufgrund deren etwa der innerstaatliche Begriff des Arbeitsunfalls zu erweitern wäre. Mit dem Problem der sozialversicherungsrechtlichen Zuordnung und Entschädigung von Arbeitsunfällen, die deutsch-luxemburgische Grenzgänger außerhalb ihres Beschäftigungslandes erleiden, hat sich zwar das Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Großherzogtum Luxemburg über die Soziale Sicherheit der Grenzgänger vom 14. Juni 1960 - idF des Gesetzes vom 29. Mai 1963 (BGBl II, 397) - befaßt, doch kommt dieser Vereinbarung für den vorliegenden Fall deswegen keine Bedeutung zu, weil ihr insoweit keine Rückwirkung beigelegt worden ist. Es kann daher offenbleiben, welche Auswirkungen sie sonst für Versicherungsfälle dieser Art hat.

Der Senat war an einer abschließenden Entscheidung nicht nach § 177 EWG-Vertrag durch eine Vorlagepflicht gegenüber dem EuGH gehindert. Für berechtigte Zweifel an der Auslegung europäischen Gemeinschaftsrechts fehlt in diesem Rechtsstreit jeder Anhaltspunkt.

Die Urteile der Vorinstanzen müssen hiernach aufgehoben, die Klage abgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1670329

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